Aller guten Dinge sind drei: Noch ein Marathon-Double

Samstag in Bad-Neuenahr-Ahrweiler:   Speed kills!  –  Ahrathon 2015

Rundblick aus halber Höhe der Weinberge: Hinter dichtem Regenvorhang ist kein Übergang zwischen Himmel und Hügeln des Ahrtales mehr auszumachen. Von Beginn an tröpfelte es aus regenschwangeren Wolken. Dem Sehnen von hundert Marathonis widersetzen sich übelgelaunte Götter mit Bosheit, lassen den Guss stufenweise eskalieren. Vielleicht hat Bacchus ihnen gestern das letzte Fass Ahrwein weggesoffen und nun sind sie sauer … Inzwischen schüttet es wie aus Kannen und meine Stimmung rauscht gerade in Falllinie zu Tal. Seit geraumer Zeit keinen trockenen Faden mehr am Leib und die Schuhe schmatzen bei jedem Schritt. Womit der einzig relevante Umstand des Wolkenbruchs auch schon genannt wäre: Nasse Füße und noch mehr als 30 Kilometer zu laufen. Nasse Füße quellen, Fußsohlen schrumpeln, beides mündet früher oder später in Blasen. Kann ich überhaupt nicht brauchen. Null! Weil ich morgen in der Eifel einen 51 km-Ultra laufen will. Darum.

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Freitag: Bei der Anreise lassen Ines und ich uns beeindrucken von der aufregenden Felsenlandschaft des Ahrtales, malerischen Fachwerkhäusern, der von Burgruinen ausgehenden Romantik, vor allem aber vom Weinbau auf teilweise winzigen, schwindelerregend steilen Terrassen. Abendessen mit Ines in Altenahr. Es geht mir richtig gut. Ein bisschen Lampenfieber kribbelt, ansonsten fühle ich mich blendend. Ein Marathon-Double steht an, der Abschluss meiner Vorbereitungswettkämpfe vorm 24 h-Lauf in Reichenbach in zwei Wochen. Die Generalprobe! Morgen der „Ahrathon“ und übermorgen in der Südeifel ein 51 km-Ultralauf im Rahmen des „Eifelmarathons“. Zwei Tage in Folge, in denen Ines und ich weiße Flecken auf unserer Deutschlandkarte durch Erleben ersetzen. Ines ist mit an Bord. Nicht zuletzt deshalb bin ich in Hochstimmung …

Seit dem „Sommeralm Marathon“ am letzten Sonntag reichte die Zeit lediglich für ein Training, 10 km zum Füße vertreten. Frischgebackene, zweifache Großväter erinnern sich dann doch schon mal ihrer familiären Verpflichtungen … Außerdem bin ich in Taperingwoche 1 von 3, in der mir ungefähr 100 km Trainingsumfang reichen. 93 km davon werde ich allein an diesem Wochenende im Doppel erlaufen. Ein Doppel als Schlussakkord der Vorbereitung wendete ich zuletzt 2012 vor den 100 km des „Thüringen Ultra“ an. Zu lange her und deshalb weiß ich nicht genau, wie es sich anfühlen sollte, damit ich die Generalprobe als gelungen betrachten kann. Dagegen weiß ich genau, wie segensreich sich so ein Erfolg auf das Selbstvertrauen vor der Premiere auswirkt.

Erfolge: Davon kann ich in diesem Jahr nicht genug bekommen. Zunächst, weil die anstehende Aufgabe wie ein Fels auf meinem Läuferherzen lastet: 24 Stunden lang ununterbrochen laufen. Seit 2008 habe ich mich dieser Tortur nicht mehr unterzogen. Zudem mangelt es mir an Vorbereitung. Bitte richtig verstehen: Das ist Jammern auf hohem Niveau. Allerdings hätte ich meinen wöchentlichen Laufumfang noch um etwa 30 bis 40 km gesteigert, wäre die „Anlaufzeit“ dafür nicht zu kurz gewesen.

Ironischerweise entspringt die Idee, in diesem Jahr einen 24 h-Lauf als Saisonhöhepunkt anzupeilen, der Absicht mich für den „Spartathlon 2016“ (246 km, 3.000 Hm) zu qualifizieren. Dafür sind Minimum 180 km in 24 Stunden zu erlaufen. Zwischenzeitlich wurde ich dieser Notwendigkeit qua Änderung der Quali-Bestimmungen enthoben: Seit dieser Saison kann man sich auch über 100 Meilen-Läufe qualifizieren, zudem gelten die Ergebnisse der letzten drei Jahre. Mit meinem guten Ergebnis der „100 Meilen Berlin“ (Mauerweglauf) vom letzten Jahr liege ich sogar um ein paar Stunden unter der festgezurrten Norm. Leider erfuhr ich von dieser Änderung zu spät, um den Zug rechtzeitig auf ein anderes Gleis zu lenken. Und seit ich die Neuerung kenne, widerstrebt es mir, die erworbene Langzeitausdauer in ein weniger anspruchsvolles Ziel als 24 Stunden zu investieren. Kneifen gilt nicht! Wobei nicht interessiert, ob andere so dächten. Ich selbst empfände es als Kneifen und nur das zählt.

Samstagmorgen, 8:30 Uhr: Vor ein paar Minuten ging ein Schauer über Bad Neuenahr nieder. Während ich mit Ines zum Startbereich schlendere, übe ich Zuversicht: Sicher war’s das jetzt mit Regen. Dann und wann vielleicht noch ein paar Tropfen, mehr sicher nicht. Wir treffen auf Wolfgang, womit ich, so nah an seinem Wohnort, ohnehin hätte rechnen müssen. Gut drauf die rheinische Frohnatur, wie immer. Wir wechseln ein paar Sätze zum läuferischen „Woher-Wohin?“, dann ruft uns der Start zur Ordnung. Gute Wünsche von Ines. Von der seltsamsten aller Vor-Start-Empfindungen befallen, kann ich die gut gebrauchen: Ich fühle mich nicht wie ein Läufer!? Zwei Tage ohne Lauftraining und der ganze Laufzirkus scheint meinem Wesen erdteilweit entrückt. Versuch das nicht zu verstehen; ich verstehe es selbst nicht, wenn es mich heimsucht.

Die ersten Schritte im „Ahraton“ machen mich glauben etwas ziemlich Abwegiges zu tun. Laufen? Noch dazu einen Marathon? Alles fühlt sich steif, müde und lustlos an. Ja, das ist der richtige Ausdruck: Lustlos. Ich stehe – pardon: laufe – ziemlich neben mir. Aus dieser Distanz vermag ich die Lustlosigkeit durchaus zu erklären. Zwei Tage Beinruhe, körperlich zuweilen ohne Alternative, haben mir mental noch immer geschadet. Erstens. Und zweitens hasse ich diesen trüb regnerischen Grauhimmel. Ich bin ein Kind der Sonne. Lieber schmore ich bei 30°C und Sonne, als kalt oder feucht eingehüllt läuferische Trübsal zu blasen. Damit weiß ich mich in krasser Opposition zu den meisten bunten Gestalten im Läuferfeld (in ein paar Minuten, oben am Hang, wird mir das der Dialog zweier Läufer einmal mehr bestätigen).

Zu allem Überfluss hat es wieder begonnen zu nieseln, was ich erst bemerke, nachdem die Alleebäume am Ufer der Ahr hinter uns liegen. ‚Nieseln ist egal, stetes Tröpfeln noch erträglich und zu mehr wird es nicht kommen …’ gebe ich gedanklich den Optimisten. „Wir vom Ahrathon machen einiges anders als andere Veranstalter!“ wird die Moderatorin nach dem Lauf behaupten. Zumindest hat das Konzept des „Ahrathon“ das Marathonfeld schon mal mit kostümierten LäuferInnen angereichert. Später werden mehrere Halbmarathons gestartet, darunter einer, der als Kostümlauf ausgeschrieben ist. Unweit der Hochburgen rheinischen Karnevals scheint die Zeit zwischen Aschermittwoch und 11.11. unerträglich lang zu sein. Also verkleidet man sich zum Laufen. Gibt’s das auch in anderen Sportarten? Kostümschwimmen, in Clownsmaske kicken, im Mietzen-Outfit aufs Rennrad … ? Wohnte ich in Köln, Düsseldorf oder Mainz, man schickte mich während der närrischen Monate in die Verbannung. Die Vorstellung meinen Laufsport kostümiert auszuüben finde ich einfach nur absurd.

Nun isses raus: Udo ist also nicht nur Morgen-, sondern auch noch Faschingsmuffel. Mit meiner gegenwärtigen Reserviertheit haben diese Eigenheiten jedoch nichts zu tun. Jeder darf laufen wie er will. Und bei früheren Gelegenheiten konnte man mich angesichts besonders gelungener Kostüme auch schon schmunzeln sehen. „Es“ läuft einfach nicht. Kein Laufgefühl. Nullkommanull. Umso merkwürdiger, dass die Uhr eine andere Sprache spricht. Für den zweiten Kilometer las ich eben 5:24 min ab. Zu schnell, also nehme ich mich zurück. Übrigens fühle ich mich heute keiner Laufzeit verpflichtet. Gut und laufend durchkommen. Zu Beginn, zum Justieren der Pace, blicke ich ein paarmal auf die Uhr, ab dann ist sie tabu. Den „Ahrathon“ unter vier Stunden beenden zu wollen, wäre angesichts der Höhenmeter und in Anbetracht des morgen vorgesehenen Ultras ein fatales Unterfangen. Man sieht: Ich denke wie ein Läufer. Zudem diese 5:24 min für Kilometer 2. Läuft doch. Biomechanisch anscheinend alles paletti. Wieso fühle ich dann nicht wie ein Läufer?

Nieseln wandelt sich zum Tröpfeln. Die bereits brüchige Läuferschlange orientiert sich weiterhin am Lauf der Ahr. Uferwechsel und weiter unter Bäumen, erst unmittelbar am Ufer, später durch einen Grüngürtel davon getrennt. Motive, die ich garantiert verwacklungsfrei im Kasten haben möchte, visiere ich stehend an. Zum Beispiel das imposante „Kloster Kalvarienberg“, von Franziskanern 1630 gegründet, heute ein Mutterhaus des Ordens der Ursulinen. Zwischen Resten von Auwald und ebenerdigen Weingärten erreiche ich den Ortsteil „Walporzheim“ und greife mir zwei Becher Iso an der ersten Tränke. Reichlich trinken ist Pflicht. 17°C Lufttemperatur zeigte das Autothermometer vor gut einer Stunde, dazu hohe Luftfeuchtigkeit. Also werde ich schwitzen und es wegen des leichten Regens nicht mal merken.

Weg von der Ahr, quer durch „Walporzheim“ auf eine Unterführung zu. „Hier gibt’s ein paar trockene Meter!“ muntert mich ein weiblicher Streckenposten auf. Lächeln und angedeutetes Winken müssen als Dank genügen. Für eine verbale Erwiderung wäre Schlagfertigkeit vonnöten, doch das zuständige Hirnareal ist abgeschaltet. Hinter der Unterführung links und – okay, es geht los – auf asphaltierter Rampe himmelwärts. Minutenlanges Klettern in moderater Steigung, rasch stellen sich Atmung und Stoffwechsel darauf ein. Vielleicht brauchte meine Birne dieses Mehr an Kraftaufwand, um endlich wieder klar denken … Nein: Um endlich wieder normal fühlen zu können. Natürlich bin ich Läufer und selbstverständlich kann ich laufen, ziemlich weit sogar …

Serpentine und weiter hinan, Rebstöcke beidseits des Weges, frisches, wohltuend kräftiges Grün, trotz Zwielicht aus tristem Himmel. Kurz entwickelt das Asphaltband steilen Ernst, um sich dann friedfertig eben durch den Weinberg zu winden. Der Himmel macht nun auch Ernst, lässt das Tröpfeln zum Landregen anschwellen. ‚Gleich wieder vorbei!’ sage ich mir und ‚Der Schauer vorm Start hielt auch nur Minuten durch!’

Mit ein paar Fotos versuche ich den reizvollen Blick vom Weinberg hinunter zur Doppelstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler einzufangen. Zugleich ahne ich, dass mir das nicht gelingen wird. Menschliche Augen vermögen schlechte Sichtverhältnisse teilweise zu kompensieren, das Objektiv der kleinen Digicam wohl eher nicht.

Beherzt abwärts durch ein Waldstück. Ich orientiere mich an roten, infolge Halbdunkels oder fortgeschrittener Verwitterung mitunter schwer auszumachenden Pfeilen. Zwei steile Kurven „downhill“, dann erneut aufwärts, ziemlich steil sogar. Aber nur kurz oder etwa nicht? Ich verzweige nach rechts, wie drei, vier andere auch. Markierung sehe ich keine, folge blindlings. Ein Mitläufer in Orange mit Trinkrucksack wird rasch unsicher: „Ob das stimmt? Pfeil gab’s am Abzweig keinen und dann läuft man normalerweise geradeaus!“ Ich pflichte ihm bei und denke an Kraxis* „Sommeralm Marathon“ vom letzten Wochenende. Gefühlt abertausend, gut sichtbare Wegmarken. Da war Verlaufen so wahrscheinlich wie kleinen, grünen Männchen vom Mars zu begegnen. Ein Lapsus wie dieser wäre Kraxi nie unterlaufen. Und dieser Überlegung folgt Unmut: „Haben nur einen Halbmarathon zu markieren und sind nicht mal dazu in der Lage!“ Jetzt stimmt der Mann im orangefarbenen Shirt mir zu. Anschließend schweigen wir, laufen und hoffen. Hoffen auf den nächsten Pfeil, einen Hinweis, irgendwas. „Da oben laufen auch welche! Entweder liegen die falsch oder wir!“ Ich wende den Blick in die angegebene Richtung und rede mir ein, dass „die da oben“ sich irren … Eine schwache These, die Schritt für Schritt der Überzeugung weicht, gleich wieder umdrehen zu müssen. Schlussendlich die Erlösung: Das Schild, „8 km“, einige Meter weiter sogar mehrere Pfeile auf einmal. Alles gut!

*) Hannes Kranixfeld, alias „Kraxi“, ist einer der erfolgreichsten Ultraläufer Österreichs und Veranstalter des „Sommeralm Marathons“ in der Steiermark.

Alles gut? – Wie wird man nach dem Lauf vollmundig tönen? „Wir machen hier einiges anders!“ Gerne. Warum nicht? Auch Vielfalt ist Leben. Doch vorher solltet ihr eure Hausaufgaben korrekt und vollständig erledigen. Oder in „Denglisch“, das von Menschen, die auf „Event“ gepolt sind, in diesen Tagen häufig besser verstanden wird: Über „Specials“ und „Goodies“ mag ich erst reden, wenn die „Basics“ stimmen.

Alles gut? Überhaupt nicht, mittlerweile regnet es Bindfäden. Ich nestele das vorsorglich eingesteckte Kunststofftütchen aus meiner Gesäßtasche, verpacke die Digicam darin wasserdicht und beschließe sie einstweilen nicht mehr zu benutzen. Regen ruinierte mir bereits zwei Kameras, der aktuellen soll dasselbe Schicksal erspart bleiben. – Wir verlassen die Region der Weinstöcke und gewinnen weiter an Höhe. Gelegenheit vor einem Gebüsch das lästige Drängen loszuwerden. Ich habe meinen Flüssigkeitsbedarf überschätzt, die Kühlung infolge triefnasser Klamotten nicht bedacht. Nur nützt mir die Erkenntnis nichts. Ich trinke Iso in rauen Mengen, weil ich den Zucker darin brauche. Überschüssiges Wasser muss ich in Kauf nehmen.

Die bisher festen, meistenteils asphaltierten Wege erfahren eine „steinreiche“ und deshalb unangenehme Abwechslung. Weiter aufwärts im „Busch“ bis zu einer scharfen Kurve. Hier scharf nach rechts, vor der leicht pikant wirkenden Variante eines Streckenpostens: Wie zum Liebesspiel flüchtete ein junges Paar angesichts strömenden Regens ins offene Heck seines Fahrzeugs. Zwischen Obst- und Weinbau, Wiesen und Feldern kurz ebenerdig, ansonsten in rasch wechselndem Takt rauf und runter. Und nun ist endgültig Schluss mit lustig. Der Regen scheint mich von dieser Kuppe über Bad Neuenahr runterspülen zu wollen. Rinnsale auf den Wegen schwellen zu Bächen an und diktieren den Laufweg. Sprenge wie ein Military Pferd durch einen Parcour von Wassergräben und Pfützen. Streckenposten und ein paar begossene Pudel – bei besserem Wetter heißen sie Zuschauer – tun ihr Bestes und feuern uns an.

Ein Kleinwagen kommt mir rückwärts fahrend entgegen, stoppt just in Höhe einer wegbreiten Pfütze – na ja eher schon ein Teich –, vermutlich um mich vorbei zu lassen. Zwingt mich dadurch auf die erhöhte Wegeinfassung auf der anderen Seite auszuweichen, auf rutschigem Grat zu balancieren und gottlob ungeschoren wieder auf den Asphalt zu springen. Warum in aller Welt kurven diese Heinis heute hier oben zwischen Feldern und Weingärten herum? Der da ist nicht der erste und – kann ich zwar noch nicht wissen, gebe ich aber schon mal zu Protokoll – auch nicht der letzte Geisterfahrer. So ein Marathon wird absolut spontan von heute auf morgen ausgetragen. Völlig unmöglich also dafür zu sorgen, dass Motorisierte für die paar Stunden von landwirtschaftlichen Nutzflächen ausgesperrt bleiben … Sollte es sich um Versorgungsfahrten für Verpflegungsstationen gehandelt haben, so verweise ich auf meine Ausführungen zu „Hausaufgaben“, die tunlichst vor dem Schulbesuch zu erledigen sind.

Ach ja (tiefer Seufzer): Vielleicht nehme ich die Sache mit dem Laufsport auch einfach nur zu ernst. Doch für den bin ich schließlich hier. In erster Linie will ich meine Ausdauer schulen, mich auf meinen Saisonhöhepunkt vorbereiten und zugleich Landschaften erleben. Jedenfalls gilt das für Marathonläufe, zu dehnen ich erstmals und ohne persönlichen Bezug anreise. Alles andere kommt mit großem Abstand danach oder gar nicht. Gar nicht geht das: Der „Ahrathon“ gilt einigen, vielleicht auch den Organisatoren, als deutsche Kopie des „Marathon du Medoc“. Weinprobierstände neben Läufertränken zeugen davon. Eine solche Offerte wird manch joggenden Weintrinker anlocken. Ich trinke auch gern ein Glas Wein (man hat mich auch schon mehrere nacheinander leeren sehen). Aber Wein während eines Marathon- oder Halbmarathonlaufs? Körperliche Leistungsfähigkeit und Alkohol vertragen sich ungefähr so gut wie Feuer und Wasser. Wer laufend Wein trinkt, kann sich alternativ auch die Füße zusammenbinden lassen. Macht nicht so viel Spaß wie Weintrinken, kommt bezüglich Leistungseinbuße aber aufs selbe raus.

Um noch ein bisschen mehr Öl ins entfachte Feuer zu schütten: Macht sich eigentlich keiner der Verantwortlichen Gedanken, welche Wirkung von Weinproben im Rahmen einer Laufveranstaltung auf Minderjährige ausgehen kann? In Begleitung (laufender) Eltern, als Teilnehmer an Kinder- und Jugendläufen oder als Zaungäste findet man sie reichlich bei Laufveranstaltungen. Für mich geht davon ein eindeutiges Signal aus: „Sport und Alkohol gehören zusammen!“ Und wenn ich schon moralisiere, dann auch noch das: Versteht jeder Halbwüchsige den Witz auf praller Läuferbrust: „Ich bin nur zum Saufen hier“? Wobei ich den Trägern dieses Wahlspruchs (zwei waren es mindestens) nur Bedenkenlosigkeit unterstelle, ihre schriftlich geäußerte Absicht im Reich der „Närrinnen und Narrhalesen“ ansonsten unter Humor verbuche. Restzweifel, die Saufabsichten betreffend, wollen allerdings nicht weichen …

13 Kilometer liegen hinter mir, es schüttet wie aus Kannen und der Kurs strebt einmal mehr hinan. Hinan mit wachsender Steigung. Zuletzt verlegt mir ein steiler Buckel den Weg und talwärts gurgelnde Rinnsale schreiben die Route vor. Beflissen weiche ich den Fluten aus. Hab zwar schon lange nasse Füße, will es aber nicht noch schlimmer machen. Ich kämpfe mich aufwärts voran. Meiner einigermaßen miesen Laune und den noch mieseren Bedingungen zum Trotz bin ich ziemlich flott unterwegs. Kann es nicht mit Zahlen belegen, weil ich die Uhr – meinem Vorsatz getreu – keines Blickes mehr würdigte. Aber ich spüre es. An mögliche Konsequenzen verschwende ich keine Gedanken, folge einfach dem Drang dem Regen so rasch wie möglich ins Finish zu entkommen. Faktischer Blödsinn, weil mich vom Ziel so oder so noch Stunden trennen und ein paar eingesparte Minuten auch nicht trockener ankommen lassen.

Hab’ den Buckel überwunden und gelange zu einer Stelle, die ich bereits vor einer knappen halben Stunde in Gegenrichtung passierte. Trassenband scheidet Hin- und Rückweg, für mich geht’s jetzt nach links, durch die Büsche abwärts. Blitzartig sträuben sich mir die Nackenhaare: Stark abschüssig, lehmig schlüpfrig, Rutschgefahr! Vorsichtig taste ich mich 10, 15 Meter hinab, bis die Füße wieder sicheren, da asphaltierten Boden betreten.

Lange und steil in Falllinie talwärts. Alsbald wimmern meine Patellasehnen, signalisieren Überlastung. Haltet durch Jungs, geht nun mal nicht anders. Nach gut 500 Metern flacht das Asphaltsträßchen ab und ich erreiche die ersten Häuser der nahen Stadt. „Halt!!! Nach rechts!“ Streckenposten und ein Mitläufer lenken mich unisono auf den korrekten Weg. „Nach rechts und wo der Stuhl steht links!“ präzisiert der Streckenposten seine Anweisung. Eine höchst unangenehme Anweisung, bedeutet sie doch einige der gerade verlorenen Höhenmeter wieder erobern zu müssen. Sofort ächze ich in einem Steilstück. Das tue ich allein, denn besagter Mitläufer, wie auch zwei, drei andere, benutzen außer den Beinen auch noch ihren Verstand und bringen die höchstens fünfzig Meter gehend hinter sich.

Ein Beinahe-Déjà-vu: Noch einmal im Weinberg bergan, sanft zunächst, dann nicht mehr so sanft, zuletzt durchaus kraftraubend und einer Rechtskurve folgend. Und nun ein wirkliches Déjà-vu: Vor mir wachsen die potthässlichen Stelzen einer ehemaligen – daheim recherchiere ich: „unvollendeten“** – Brücke aus dem Hang. Die nackten, oberflächlich verwitterten Betonklötze fielen mir vor Stundenfrist schon einmal ins Auge – allerdings aus anderer Perspektive, da wirkten sie nicht ganz so zyklopenhaft deplatziert. „Mach was aus der Ruine!“ sagten sich Kletterer und funktionierten das mittlere der drei Betonungeheuer in einen Kletterturm um. Dicht an dicht, wie Pockennarben, verteilen sich verdübelte Klettergriffe über den Beton. „Kletterturm“ und rechte Stütze verbindet eine Stahlseilkonstruktion, die am ehesten noch einer Langdrahtantenne für Kurzwellenfunk ähnelt. Pure Assoziation meines Gedächtnisses ohne Erkenntniswert. Dauerregen erstickt das Denkvermögen. Nachher, beim zweiten Umlauf wird klar, dass es sich um eine primitive „Hängebrücke“ handelt, die Kletterern den Wechsel von einer Stütze zur anderen ermöglicht.

**) Die „Unvollendete“ im Adenbachtal ist ein Beispiel dafür, dass Geschichte durchaus auch mal schneller arbeiten kann als Brückenbauer. Und so hässlich die Stelzen auch ins Ahrtal runter glotzen mögen, man sollte sie nie beseitigen. Sie dokumentieren eine der segensreichsten Entwicklungen unserer Ära! Habe ich genug Interesse geweckt? Unter anderem HIER steht etwas über die Hintergründe.

Wiederum stark abschüssig Richtung Stadt, gleichfalls auf Asphalt aber nur halb so lange. 16 Kilometer liegen hinter mir und wie es aussieht muss ich nun nicht noch einmal hinauf, dafür nach rechts und zwischen Bundesstraße und Weinberg dem Stadtrand folgen. Bevor ich es vergesse, weil es meine Stimmung um mindestens eine Oktave hebt: Vor ein paar Minuten hat der Himmel seine Schleusen geschlossen. Drohendes Dunkelgrau weicht optimistisch stimmendem Lichtgrau. Kurzentschlossen packe ich die Digicam wieder aus und schieße nach dreiviertelstündiger Regenpause das erste Foto …

Per Fußgängerbrücke nun endlich zurück in die Stadt. Polizei und Ordner sperren mir den Weg frei, bis ich die stillen, von Autoverkehr kaum belästigten Altstadtgässchen in Ahrweiler erreiche. Willkommene Arbeit für Augen und Kamera: Liebevoll restauriertes Fachwerk, Marktplatz mit Verkaufsständen, dann an einem Stück der komplett erhaltenen Stadtmauer mit Wehrgang entlang. Zuletzt verlasse ich den historischen Ahrweiler Kern in Höhe des „Ahrtores“. Ein wahres Bollwerk von Stadttor, von mächtigem Wehrturm überragt.

Zurück an der Ahr, brettflaches Terrain, wie eben schon in der Altstadt. Noch etwa drei Uferkilometer trennen mich vom (Halbmarathon-) Ziel in Bad Neuenahr. Ziemlich übergangslos fühle ich mich erschöpft und zerschlagen. Vielleicht überdeckten bis eben die pittoresken Ansichten des mittelalterlichen Ahrweilers diese Empfindungen. Zerschossen nach nur 18 Kilometern. Wie kann das sein? War ich zu schnell unterwegs? Studiere die Uhr und rechne hoch: Werde den Halbmarathon etwa mit 2:03 h abschließen. Und das soll zu schnell gewesen sein? Nächste Gedankenstation: Kein Gel geschluckt. Ist das der Grund? Erklärt höchstens den Kräfteverfall aber nicht die übel jammernden Beine. Also was dann? Ich rekapituliere das Streckenprofil: Fünf flache Start- und nun fünf flache Schlusskilometer. Also konzentrieren sich die Höhenmeter auf den Mittelteil der Strecke. Etwa 350 Höhenmeter binnen 11 Kilometern, auf denen ich mich gedankenlos und abgelenkt vom strömenden Regen vorwärts trieb. Gedankenlos, als gäb’s keine zweite Runde und kein morgen in der Eifel. Missachtend auch die Tatsache meines sehr speziellen Trainingszustands.

Das „Spezielle“ erklärt sich so: Mein Training war auf extrem langes Laufen ausgerichtet. Das erreichte ich unter anderem mit zwei 100 km-Wettkämpfen und einem „Zweitageskracher“ namens „Saar-Hunsrück-Supertrail“. Infolge dieser Mühen unterstelle ich mir mittlerweile sehr lange, definitiv jedoch nicht mehr schnell laufen zu können. Wobei „schnell“ immer relativ zu verstehen ist. Für den Kurs an der Ahr, mit einer 350-Höhenmeter-Achterbahn im Mittelstück, waren 6 min/km im Schnitt offenbar zu schnell. Als schlimm empfinde ich weder die momentane Schwäche, noch die reduzierten Chancen auf Runde zwei und morgen wirklich Laufspaß einzuheimsen. Was wirklich schmerzt ist die Gedankenlosigkeit in einer entscheidenden Phase meiner Vorbereitung. Es genügt eben nicht Trainingslehre und eigenen Körper gut zu kennen, man muss dieses Wissen auch umsetzen …

Das Hadern mit Wetter oder Unzulänglichkeiten der Veranstaltung macht schlagartig dem Ärger über die eigene Dummheit Platz. Was trägt mehr zur erneuten Verdüsterung des unterdessen aufgehellten Tages bei? Die Alleebäume am Fluss oder die dunklen Wolken in meinem Kopf? – ‚Geschätzte Ankunftszeit nach der ersten Runde: 2:03 h. Also drei Minuten über der für einen Sub4h-Marathon erforderlichen Zwischenzeit. Da kann ich auch noch langsamer laufen.’ Das denke ich tatsächlich, um eine Nanosekunde später meine Demaskierung zu begreifen. Fehlt nur noch, dass ich glockenhell auflache. Nettes Ablenkungsmanöver, vor allem für mich selbst, nicht auf die Uhr zu sehen. Bist mir bestimmt auf den Leim gegangen lieber Leser. Immerhin hielt ich selbst die Sub4h-Ambition für „ausbruchssicher weggesperrt“. Trotzdem hat mich dieser kleine, ehrgeizige Häftling die ganze Zeit über aus seiner „Zelle“ ferngesteuert …

Tempo reduziert, um zu retten, was noch zu retten ist. Setze über die Ahrbrücke und stoppe am Getränkestand. Gel raus, schlucken, Wasser nachtrinken. Kraft muss her und zwar „zuckerschnell“. – Was will der von mir? Kann nicht real sein, muss ich wohl träumen!? Hat mich jemals ein Helfer an einem Verpflegungspunkt so frech angemacht? Böse klingt er und vorwurfsvoll, weil ich sein nahrhaft arrangiertes Buffet ignoriere, stattdessen an meinem mitgebrachten Gel nuckele. Raunzt was von: „Wir haben doch alles vorbereitet!“ – Ja geht’s noch? Verzehrzwang oder was? Kopfschüttelnd mache ich mich wieder auf den Weg. Das Kopfschütteln ersetzt zunächst die Rede – „Danke, will nix!“ –, weil ich mit vollem Mund nicht sprechen kann (sicher besser so, wer weiß, was ich dem sonst „hingesemmelt“ hätte). Beim Abgang soll das Kopfschütteln den außer Kontrolle geratenen „Wachhabenden am Verpflegungspunkt“ einfach nur zum Denken anregen …

Im Kurpark knirscht feinkörniger Kies unter meinen Füßen, bis ich vom grünen Dom einer Allee beschirmt wieder zum Ufer gelange. Zwei Stunden plus vier Minuten registriert die Zeitmessung für meine erste Runde. Runde zwei sieht mich zum Auftakt entspannt. Das liegt nur zum Teil an einem Streifen blauen Himmels, den ich weit im Westen, über den Hügeln des Ahrtals bereits erspähe. Ich mache meinen Frieden mit allen Umständen, einschließlich der Tempodummheit in Runde eins. „Speed kills!“ Kürzer und prägnanter lässt sich die Ursache für meinen desolaten Zustand nicht zusammenfassen. Den habe ich mir selbst eingebrockt und werde nun das Beste daraus machen. Langsamer als bisher laufen, heißt das in Tempo übersetzt. Um das sicherzustellen, muss ich keine Zwischenzeiten nehmen. Die bloße Absicht wird’s richten, den Rest besorgt wachsende Ermüdung.

Schon hier unten entlang der Ahr drückt die Sonne warm durch die dünne Wolkendecke. Zum ersten Mal ist Schweißwischen angesagt. Noch einmal verharre ich in Höhe des „Klosters Kalvarienberg“. Womöglich gelingt mir regenfrei eine bessere Aufnahme. Der Mitläufer im gelben Dress bekundet seine Dankbarkeit: „Wärst du nicht stehengeblieben, wär’ ich dran vorbei gelaufen!“ Spricht’s und betätigt sich gleichfalls als Fotograf. Weiter, alsbald in Wohnvierteln unterwegs. Die „Walporzheimer-Seenplatte“ durchquere ich im Slalom oder mit weiten Sätzen. Kilometer 26: Die Achterbahn startet zur zweiten Fahrt. Das Läuferduo vor mir, beide in weißem Shirt und schwarzer Hose, fiel mir vorhin schon auf. „Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft“. Immer wieder lese ich das Zitat des legendären „Emil Zátopek“ auf einem der beiden weißen Rücken vor mir. Früher oder später nerven mich Sprüche. Dieser nicht. Warum?

Ich genieße die Ausblicke über die mit Reben gespickten Hänge, hinunter auf das Häusemeer der Doppelstadt. Ständig ändert sich die Perspektive, erhält die landschaftliche Spannung, zwingt mich immer wieder hinzuschauen. In der Ferne, Richtung Osten, überspannt die gewaltige Brücke der A61 das Ahrtal. Das Jammern meiner Knochen hält sich in Grenzen. Ich blende es aus, zu ändern ist es ohnehin nicht. Auf Asphalt und im Wald rausche ich den ersten Taleinschnitt hinunter, Minuten nur, dann kurz und heftig „klettern“, bis zum unsicheren Abzweig. Jetzt wacht hier ein Streckenposten. Wo war der vor zwei Stunden?

Erlebe die Strecke nun belebter als im ersten Durchlauf. Wer, wann und in welchem Wettbewerb startete, vermag ich nicht zu sagen, erkenne aber Startnummern in fast allen Farben des Regenbogens. Rot unterlegte, so wie meine eigene, genießen allerdings Seltenheitswert. Mit „Rot“ sicher zuordnen kann ich nur „Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft“ samt Laufpartner. Wie die Falten einer Ziehharmonika streben wir mal auseinander – in flachen oder abschüssigen Passagen –, um wenig später – wenn ich aufwärts laufe, wo die beiden gehen – als Trio wieder Tuchfühlung zu gewinnen.

Ich find’s immer noch „schräg“, übe mich aber in Gleichgültigkeit: Bunte Gestalten bei der Weinprobe, unmittelbar neben der Tränke mit Iso und Wasser. Nach und nach brauche ich meinen Gelvorrat auf und spüre eine gewisse Wiederherstellung der Kräfte. Ob es sich um eine reale Empfindung oder bloße Einbildung handelt ist nebensächlich. Hauptsache es wirkt. Innerer Frieden und äußere Wärme wirken Wunder. Die zweite Runde macht richtig Spaß. Daran können auch abschnittsweise schmierige Wege und stellenweise erforderliches Umkurven von Pfützen nichts ändern.

Das junge (Streckenposten-) Paar hat sein Liebesnest im Autoheck verlassen, nimmt nun die Läuferparade auf Klappstühlen sitzend ab. Zufrieden registriere ich, dass die zauberhafte Landschaft des Ahrtales wieder zu mir durchdringt. Außerdem blieb die befürchtete Quälerei auf Runde zwei bisher aus. Jetzt schon Kilometer 32 und die restlichen zehn, werde ich genauso rasch abhaken. Objektiv natürlich alles andere als rasch. Subjektiv verkürzt sich die Zeit, weil es viel zu sehen und zu überdenken gibt. Immer wieder rekrutiere ich „Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft“ samt Partner als Angelpunkt für meine Fotos. Wir halten Kontakt: Mache Boden gut, muss Distanz zulassen, hole auf, falle zurück, nähere mich, sehe, wie die beiden davon ziehen.

Dies „geheime Band“ zerreißt erst auf dem langen, stark abschüssigen Asphaltsträßchen hinunter nach Bad Neuenahr. Ihr kaum unterdrücktes Jammern, die waidwunden Füße betreffend, macht Erklärungen überflüssig. Meine jaulen im Gefälle auch. Trotzdem halte ich das Tempo und gewinne Vorsprung. Naheliegender Gedanke: Kann so schlimm nicht um mich stehen, wenn das noch geht!? Oder kann ich Schmerzen bei langen, langsamen Läufen nur besser ertragen als andere? Ich habe oft über diesen Punkt nachgedacht, ein wenig auch recherchiert und bin eigentlich sicher, dass es so ist. Schmerzempfinden ist subjektiv. Ich profitiere von einer im Grundsatz ererbten, durch Unmengen von Wettkampf- und Trainingskilometern verbesserten Fähigkeit. Dafür komme ich mit anderen Bedingungen weniger gut zurecht – siehe meine mentale Anfechtbarkeit im Bezug auf mieses Wetter.

Ein letztes Mal rauf, erst sanft, kurz steiler vor der „Kletteranlage“, dann endgültig runter zum Stadtrand und auf tonnenschweren Beinen noch einmal „Ahrweiler im Mittelalter“ besichtigen. Zurück zum Fluss und unter die Bäume. Reichlich ramponiert und ausgelutscht schleppe ich mich am Ufer entlang. Gedanken entgleiten: ‚Und morgen? Wie willst du den Ultra in der Eifel überstehen?’ – Zum Glück unterzog ich mich der Trainingsform „Marathon-Double“ schon mehrfach und erlebte ausnahmslos die Wiedererweckung des armen Lazarus am Morgen von Tag zwei. Also wird es morgen in der Eifel wieder so sein! Basta! Ob es sich allerdings so anfühlen wird, wie es sich anfühlen sollte, damit mir für die Premiere die erhofften Flügel wachsen, darf bezweifelt werden …

Fasnacht an der Ahr. Zunächst umkurve ich mühsam die Gruppe „Autos“. Auf Kartonhälften malten sie die Silhouette eines Autos, der Läufer steckt – anscheinend als Fahrer – mittendrin. Ist es meiner Erschöpfung geschuldet, dass ich Witz und Anspielung nicht verstehe? Dann vorbei an zwei über und über mit bunten Luftballons behängten Damen und wenig später mitten durch eine Gruppe laut grakeelender Jecken. Müssen gehen, laufen scheint nicht mehr möglich. Sind die beschwipst? Wie auch immer: Für jeden laufenden „Passanten“ bilden sie eine Gasse und zelebrieren La Ola. Eine nette Geste, die mich ihren mutmaßlichen Blutalkoholspiegel vergessen lässt.

Noch zwei Kilometer und die Sehnsucht nach der Ziellinie wächst. Die Vorfreude aber auch und darum gibt es nun kein Halten mehr. Wetze über die Ahrbrücke, passiere die letzte Tränke in gebührendem Abstand (Wehe mir, der Wachhabende erwischt mich beim Nichtkonsumieren!), knirsche über den Kies des Kurparks und schleuse mich durch die schattige Allee. Ja, tatsächlich, jetzt lacht die Sonne! Dampfig und warm war’s schon seit geraumer Zeit, doch erst jetzt scheint der Himmel endgültig aufzureißen. Letzte Meter entlang der Ahr und keiner der eifrigen Streckenposten hält mit dieser beglückenden Wahrheit hinterm Berg. Alle wollen mich aufmuntern. Umso leichter fallen mir die Schritte. Leichtigkeit hoch drei als ich Ines und Roxi kurz vorm Ziel zwischen Bäumen entdecke. Mein Herz macht einen Luftsprung und Ines gelingen zwei Fotos. Dann entdeckt mich Roxi und gibt die Nummer „tollwütige Bestie“. Kein Mensch auf dieser Welt wäre mit einer tobsüchtigen Roxi an der Leine noch fähig Fotos zu schießen … Freudestrahlend vorbei und durchs Ziel.

Ergebnis: 4:14:15 h, Platz 16 gesamt von 70 Männern, Platz 1 von 10 in M 60.

 

Fazit zum Trainingswettkampf

Auf den ersten Blick scheint die Laufzeit wenig wert. Zumal gerade mal 70 Männer auf Marathonkurs unterwegs waren. Dennoch deutet die (unerwartet) gute Platzierung an, dass alle Teilnehmer von Strecke und sonstigen Bedingungen härter gefordert waren, als dies die bloße Angabe von insgesamt etwa 700 Höhenmetern erwarten lässt. Durch gerade noch rechtzeitige Einsicht und in ihrer Folge Tempoverzicht, konnte ich größeren Trainingsschaden vermeiden.

Dennoch schmerzte mein Laufapparat nach dem Wettkampf in einer Weise, als hätte ich die doppelte Distanz mit wesentlich mehr Höhenmetern auf schlechtesten Pfaden zurückgelegt. Speed kills! Es blieb die Hoffnung einer raschen Regeneration über Nacht und der fatalistische Ansatz: „Mal sehen, was morgen geht …“

 

Fazit zur Veranstaltung

Reizvolle, gut ausgetüftelte Halbmarathonstrecke, zweimal zu belaufen. Die Höhepunkte bilden sicher die „Achterbahn“ in den Weinbergen über Bad Neuenahr-Ahrweiler, die Passage durch Ahrweilers historischen Kern und diverse Abschnitte am Flüsschen Ahr. Die Höhenmeter („nur“ 350 pro Runde) darf man nicht unterschätzen, weil sie geballt auf dem 11 km langen Mittelteil der Strecke zu bewältigen sind. Die Streckenmarkierung war zuweilen schwer zu erkennen. Prekär wurde dieser Umstand nur an einer Stelle, weil ein eingeteilter Streckenposten gerade nicht (noch nicht?) vor Ort war.

Vorbereitung und Ablauf ließen keine Schwächen erkennen. Erfreulich die kurzen Wege. Außer Duschen alles auf demselben Fleck, an und in einem Hotel. Zum Duschen in einer Schule lediglich 300 m Anmarschweg.

Dem Konzept der Veranstaltung, so weit es von anderen Laufveranstaltungen abweicht, stehe ich entweder desinteressiert (Förderung des kostümierten Laufens. Wer’s mag, warum nicht?) oder entschieden ablehnend gegenüber (in Wettkampf und Streckenführung eingebundene Weinverkostung). Alkoholkonsum und Sport gehören definitiv nicht zusammen. Sport entspricht seinem Wesen nach einem körperlichen Wettstreit mit anderen oder gegen die eigenen Grenzen. Alkohol lähmt den Energiestoffwechsel, hat demnach während der Sportausübung keinen Platz. Und was man danach trinkt, sollte lediglich dem eigenen Geschmack gehorchen und nicht der Verführung durch die Verbindung „Laufen-Weinverkostung“ unterliegen.

Internetauftritt (siehe Startseite) oder auch die überaus „weinlastige“ Siegerehrung (Aufwiegen der Sieger mit Weinkartons) hinterlassen bei mir einen schalen Nachgeschmack. Welche Absicht verfolgen Veranstalter und Sponsoren tatsächlich mit dem Ahrathon? Laufen rund um die Ahr, der Laufsport als Kern des Ganzen, gerät ein wenig zur Nebensache. Schade eigentlich, denn der von der wunderschönen Strecke ausgehende Reiz lohnt die Teilnahme allemal.

 

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