„Ross auslassen“ in der Steiermark  –  Sommeralm Marathon 2014

Wer einen „Marathon mit Familienanschluss“ genießt, deshalb nur zweihundert Meter neben der Startlinie schläft, reizt gerne seinen Nachtschlaf bis zur letzten Minute aus. So sitzen wir erst gegen 6 Uhr in trauter Runde beim Frühstück, schmale anderthalb Stunden vorm Start. „Familienanschluss“ meint, dass Veranstalter Hannes Kranixfeld, alias Kraxi, vier plus eins Deutschen und drei Ungarn Obdach gewährt. Aus Deutschland durften Sybille und Dennis, ein befreundetes Laufpaar aus meinem Verein, dazu Ines und meine Wenigkeit in die Steiermark einreisen. „Plus 1“ steht für unsere Hündin Roxi, die mich zum dritten Mal über die knapp 1.800 Höhenmeter des Sommeralm Marathons begleiten wird. Spät abends trafen dann noch drei Ungarn ein, um „irgendwo“ in den Katakomben des großen Kranixfeldschen Hauses einquartiert zu werden. In dieser Besetzung lassen wir uns nun auch das Frühstück munden. Kraxi ist längst außer Haus, wieselt irgendwo auf der Marathonstrecke herum, um letzte Vorbereitungen abzuschließen. Und Babsi, seine bessere Hälfte, die Seele des Sommeralm Marathons (ruhender Pol in jedweder Form von Chaos), seit vier Uhr früh auf den Beinen, hat sich zur Startnummernausgabe verabschiedet. Parallel dazu erledigt sie 1.001 Details rund um Verpflegung und Helfereinteilung. Unerlässliches Führungsmittel: Babsis Handy. Drahtlos vernetzt bewältigt Babsi in kurzen Intervallen Anfragen, kleinere Katastrophen und Hilferufe von Kraxi. Das „System Sommeralm Marathon“ lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: Geht trotz penibler und unglaublich liebevoller Planung etwas schief, dann findet Babsi eine Lösung. Immer! und so, dass kein Läufer es merkt oder zumindest der Eindruck besteht, alles sollte genau auf diese Weise über die Bühne gehen.

Ein paar Änderungen musste sich die vierte Auflage des Sommeralm Marathons gefallen lassen. Zum ersten Mal sind Staffeln zu je drei Läufern zugelassen, von denen der erste Läufer, nach Übergabe des symbolischen Staffelholzes, den kompletten Marathon laufen kann. Eine Streckenanpassung wurde nötig, weil in diesem Jahr am eigentlichen Zielort, beim Windrad auf der Sommeralm, eine Massenveranstaltung über die beinahe alpine Bühne geht. Heute findet dort das alljährliche „Ross auslassen“ statt. Auf Hochdeutsch übersetzt bedeutet das so viel wie: Pferde auf die hochgelegenen Almweiden bringen. Zum Massenspektakel gerät das Geschehen, weil die Sommeralm per Auto erreichbar ist, mehrere Züchter ihre Rösser zugleich „auslassen“ und das Ausfechten der Rangordnung unter diversen Hengsten zu spektakulären Szenen führt. Kurzerhand verlegte Kraxi das Ziel um etwa 1,5 Kilometer zurück, wodurch kurz nach dem Start und am Schluss Zusatzschleifen erforderlich wurden. Die Änderungen nehmen dem härtesten Marathon der Steiermark nichts von seinem Anspruch, eher im Gegenteil ...

Gegen 7:10 Uhr gleichen Garagenhof und Garten des Kranixfeldschen Anwesens einem Heerlager. Krieger und Marketenderinnen, samt und sonders kunterbunt gekleidet, lagern oder wimmeln umher. Man kennt und begrüßt sich. Auch mir sind diverse Gesichter unter Läufern und Helfern aus den Vorjahren bekannt. Die Sonne sticht aus wolkenlosem Himmel als hätte sie sich für diesen Tag einen steirischen Hitzerekord vorgenommen. Sofort ist klar: Wer auch nur einen Schluck zu wenig trinkt, wird scheitern! – Wo ist meine vierbeinige Begleiterin? Nach mehrmaligem Pfiff huscht Roxi aus irgendeiner Ecke herbei. Irgendwie wirkt sie heute verwirrt, folgt Ines und mir erst nach mehrmaliger Aufforderung in Richtung Start. Was ist los mit ihr? Muss ich mir Sorgen machen? Letztlich bugsiere ich sie zu einem Logenplatz, eine Handbreit hinter der Startlinie. Nur die volle Autorität ihres Rudelführers, einschließlich diverser, drohend fabrizierter Knurrlaute, vermag sie an dieser Stelle im „Sitz!“ zu halten. Man muss Roxi kennen, um ihre Aufregung, das Japsen und Jaulen, das heißere Bellen und Keuchen, richtig zu verstehen. Ich tue ihr Gewalt an – so sehen es sicher manche der Umstehenden. Nicht falsch, dennoch zielt ihre Vermutung in die falsche Richtung: Zwingen muss man sie zum Stillsitzen, laufen will sie von allein. Schnell, möglichst immer voraus, endlos ausdauernd und mit unglaublicher Lebensfreude.

„Ross auslassen“ beim Sommeralm Marathon: Kraxi gibt den Start frei und ich meinen Hund. Bevor die schnelleren Rösser neben mir auch nur einen Huf zum Aufgalopp vor die Linie setzen können, schießt Roxi bereits wie eine Kanonenkugel die Straße entlang. Raumgreifende Sätze, die man dem niedlichen, schwarzen Wuff wahrhaft nicht zutraut. Dann entdeckt sie Frauchen mit der Kamera und schlägt einen Haken, bellt, erinnert sich an Herrchen, rast zurück, entdeckt mich, kehrt neuerlich die Laufrichtung um, rast voraus … Dieses Spiel vollzieht sich nun minutenlang, bis ihr Stresshormonspiegel auf Normalwert gesunken ist. Unterdessen versucht ihr Herrchen die müden, unrund laufenden Glieder in Fahrt zu bringen. Schwierig beim Sommeralm Marathon, der einen bereits nach hundert Metern in die erste Steigung zwingt. Da ist es wieder! Dieses Empfinden heute absolut nichts drauf zu haben! Ich quäle mich die ersten Höhenmeter hinauf, will den „toten Punkt“* überwinden. Mein Herz fängt wie wild zu pumpen an, erste Schweißtropfen rinnen. Nach nur zwei-, dreihundert Metern – das kann ja heiter werden!

*) Als „toten Punkt“ bezeichnet man den Widerstand des Körpers während der Anlauf-/Einlaufphase. Er wird von Läufer recht unterschiedlich empfunden und hängt auch vom Trainingszustand ab.

Rauf, runter durch dunklen, kühlen Tann (eine Wohltat!), über’s wohlbekannte Brücklein, eine sattgrüne Wiese aufwärts zwischen Obstbäumen, auf‘m Sträßchen rechts, alsbald links ab, zurück in den Wald. Ein erster kriminell steiler Hang, harmlose hundert Meter nur, immerhin ein Vorgeschmack (oder „Drohung“?) und wieder in den Wald. Kenn‘ ich alles, mag ich alles, auch wenn meine Beine heulen, wie ein Rudel Wölfe. Grobe Steine, von Regenwasser tief ausgewaschene Rinnen, bisweilen matschig erdig – beinahe übergangslos gerät der Weg zum waschechten Trail. Um Himmels Willen die Füße richtig setzen, dann und wann auf Roxi achten, für niemanden ein Hindernis bilden, das fordert volle Konzentration. Als mir dann doch ein Rundblick gelingt, befinde ich mich in unbekanntem Terrain, zweifellos in der ersten, von der Rückverlegung des Ziels erzwungen Zusatzschleife. Keine einfache Schleife, nein wirklich nicht. Jetzt verstehe ich Ines, die gestern den Streckenanfang als Trainingsstrecke nutzte und sich einigermaßen „entsetzt“ von den Anforderungen der Strecke zeigte. „Aber ihr wisst sicher, worauf ihr euch da einlasst!“ meinte sie nur. Runter, steil rauf, runter und immer noch Trail. Schon hier büße ich Unmengen an „Körperwasser“ ein. Brille ab, wischen, Brille wieder auf, in kurzen Intervallen …

Der Knochenjob zum Auftakt ist Geschichte, nun folgen zwei beschauliche Kilometer in weitem, von Sonne geflutetem Tal. Lauflust auf frischen Beinen. Sonne und Wärme genießen, natürlich auch die Aussicht: Nicht allzu hohe, bewaldete Berge begrenzen das Tal, von vorgelagertem Hügel leuchtet in hellem Rotton eine Kirche herüber, Felder, Bäume, Häuser im Vordergrund. Kenn‘ ich, mag ich, fühle mich ein bisschen wie heimgekommen. Dann stehe ich vor der ersten Labe**. Trinken! Grundsätzlich wichtig, heute von existentieller Bedeutung. „Oans, zwoa, drei Becher Iso g’suffa!“ Danke! Und weiter. Nicht weit, dann schicke ich Roxi ein erstes Mal an bekannter Stelle in einen glucksenden Bach. So viel Wasser wie heute führte er in den Vorjahren nicht. Anscheinend hat es in letzter Zeit stark geregnet. Gut so! Mit bachaufwärts geworfenen Steinen animiere ich Roxi zu Wasserspielen. Kostet Zeit, nässt sie aber nachhaltig ein.

**) „Labe“ oder „Labestelle“ heißen Verpflegungspunkte im österreichischen Laufdeutsch.

In moderater Steigung aufwärts, an einsam gelegenem Hof vorbei, zwischen Getreidefeld und Waldrand unter stechender Sonne, schließlich unter kühlendem Blätterdach dahin. Einer freut sich mit mir. Über Roxi, meine treue Begleiterin. Offensichtlich kann er das Vergnügen nachvollziehen, das mir allein schon Roxis Anwesenheit bereitet. Ihr unstetes Gebaren zu beobachten: Vor, zurück, seitwärts schnüffeln, Spuren suchen, Spuren finden, Spuren kurz verfolgen. Selten mache ich es mir bewusst, aber diesen unverwüstlichen Vierbeiner bei mir zu haben ist ein steter Quell der Freude. Wie viele Trainingsläufe brachte ich schon hinter mich, da überhaupt nichts passte. Fühlte mich komplett ausgelutscht, überall zwickte es, eisig war’s oder kalt und nass, vielleicht auch noch windig, ganz und gar eklig, echt zum Abgewöhnen. Kein Funken Freude von außen und innen. Aber Roxi war bei mir, immer quicklebendig, immer gut gelaunt, immer frisch und ausgeruht. Laufende Freude auf vier Beinen!

Eine unbekannte Strecke Schritt um Schritt zu entdecken reizt mich sehr. Darum versuche ich mein Aufbauprogramm – so weit möglich – mit bislang nicht absolvierten Bewerben zu bestücken. Beim landschaftlich grandiosen Sommeralm Marathon freue ich mich stattdessen auf bekannte Schönheiten: Hinterm Wald durch Obstplantagen traben, später inmitten duftender Blumenwiesen atmen, immer wieder auch in schattigen Waldstücken. – Nächste Labestelle und große Freude bei Roxi (natürlich auch bei mir): Frauchen hilft Babsi beim Ausschenken der Getränke. – Weiter genießen, auch wenn es beständig aufwärts geht. Wenig Konzentration erforderndes Laufen auf Asphalt in intakter Natur. Zwar über Jahrhunderte kultivierte Natur, die sich jedoch nur maßvoll und mit bäuerlichem Geschick vorgenommene Eingriffe gefallen lassen musste. Menschliche Dummheit verfügt erst seit wenigen Jahrzehnten über Mittel zu nachhaltiger Umweltzerstörung und konnte sich gottlob hier noch nicht austoben. Weit reicht der Blick übers Tal, hinüber zu den steirischen Waldbergen.

Vergnüglich zwitschernd traben die vier bunten Vögel nebeneinander her. Ihr Gespräch schläft keine Sekunde lang ein. Für den alle paar Kilometer „lauernden“ offiziellen Fotografen lassen sich die Gaudiburschen immer wieder neue Faxen einfallen. Zur Belohnung lichtet er das Quartett doppelt häufig ab. Lange Zeit halten Roxi und ich Tuchfühlung, bis wir in einer Waldpassage unaufhaltsam davon ziehen. Anscheinend zehrt das Gespräch an ihren Kräften. Oder einer aus der Quadriga ermüdet frühzeitig und die anderen wollen ihn nicht zurücklassen. Die etwa zwei Kilometer Wald auf rauem Geläuf kosten zusätzlich Kraft, sparen aber Schweiß in kühlem Schatten. Zurück auf Asphalt haben wir jeglichen Sichtkontakt zu anderen Läufern verloren. In vielen Kurven, tendenziell aufwärts windet sich das Sträßchen durch die herrliche Landschaft. Auch meine übrigen Sinne haben teil am Genuss: Grillen zirpen in meterhohem Gras und immer wieder zieht von irgendwo her würziger Heuduft durch die Nase. Pure Lauflust also? Nicht ganz. Das Meckern der üblichen orthopädischen Verdächtigen muss ich in Abzug bringen. Und natürlich die nach inzwischen 15, 16 Kilometern spürbare leichte Ermüdung …

Fast scheint es, als verstünde Roxi, wie wichtig diszipliniertes Laufen auf diesem Kilometer ist. Entlang der stark befahrenen Bundesstraße bleibt sie dicht neben meinem linken Bein. Und dann sehen wir sie, die uralte, zum Naturdenkmal erhobene Linde, in deren Schatten die nächste Tränke lockt. Als singuläre Baumgestalt beherrscht sie die Passhöhe, blickt über Wiesen und Täler, schaut weit hinaus ins steirische Almenland – einer der schönsten Aussichtspunkte der ganzen Strecke. Trinken, danken und ab. Roxi rast auf dem weithin einsehbaren Nebensträßchen bald hundert Meter voraus, holt eine vor uns trabende Läuferin ein. Ich lasse sie gewähren. Aus Sicherheitsgründen war Roxi etliche Kilometer an mein Bein gefesselt und wird dort noch einen Großteil der Reststrecke zubringen müssen. Erholung ist auf dem folgenden, weitgehend ebenen Abschnitt angesagt – soweit man sich unterm zwischenzeitlich glühenden Sonnenball überhaupt erholen kann.

Wir passieren eine verwaiste Kuhweide mit gut gefülltem Trog. „Roxi Wasser!“ Sie soll trinken, hat aber anderes im Sinn. Schneller als ich reagieren kann, steht sie bis zum Bauch im kühlen Nass. Der Bauer wäre darüber sicher nicht glücklich, immerhin sollen seine Rindviecher das Wasser saufen. Da nun mal geschehen, mache ich aus der Not eine Tugend, will Roxi mit Wasser übergießen. Eine Prozedur, die sie auf den Tod nicht ausstehen kann. Fünfzig Prozent Retriever in Roxi lieben Gewässer, springen rein, tauchen sogar unter, machen sie zur geschickten Schwimmerin. Doch angespritzt oder übergossen zu werden kann sie absolut nicht leiden – eigentlich. Bisher suchte sie ausnahmslos zu entkommen, musste festgehalten werden, wenn ich ihr auf solche Weise Kühlung verschaffte. Nicht so heute. Ohne auch nur zu zucken steht sie da und lässt sich einreiben, sogar den Kopf. Unglaublich! Die Hitze scheint einen überlebenswichtigen Instinkt aktiviert zu haben und der spricht: Mach mich nass!

Kaum dem Bade entstiegen und eine triefnasse Spur hinter sich her ziehend wird Roxi verfolgt. Kläffend nähert sich der weiße, schwarz-braun gescheckte Vierbeiner von hinten. Erst straft ihn Roxi mit Missachtung, hat aus dem Klang seines Gebells seine offensichtliche Harmlosigkeit heraus gehört. Schließlich wendet sie sich ihm doch noch zu, für eine kurze Schnüffelkonversation – so viel Zeit muss sein.

Seit Minuten peinigt der orthopädisch gemeinste Abschnitt des Sommeralm Marathons meine Beine. Runter, runter, runter und … runter. Ich könnte hier flotter Höhe aufgeben, habe aber das Gefühl, dass es meinen Knien, vor allem den Patellasehnen, nicht gut bekommen würde. Auch der Sommeralm Marathon ist „nur“ einer von vielen Trainingsläufen zur Vorbereitung auf mein Saisonziel im August. Also kein Risiko eingehen, zurückhalten! Die bereits eingeholte Chris tina zieht wieder davon. Am Fuß des Berges, an einer Labestation, hole ich sie wieder ein. Roxi und ich als Tandem vorneweg, Chris tina hinterdrein, so bewältigen wir den übelsten, als Verbindungsstück allerdings unumgänglichen Kilometer im Talgrund. Immer übel, durch die massenhaft, mit irrem Tempo vorbei zischenden Autos, doppelt übel heute, wegen der über dem Asphalt buchstäblich stehenden Hitze. Aufatmen fällt dennoch aus, als wir endlich in das ersehnte, kaum befahrene Nebensträßchen abbiegen. Fällt aus, weil nun die eigentliche Arbeit beginnt. Der Sommeralm Marathon stellt die beim Eiskunstlauf geltende Reihenfolge auf den Kopf: Alles Bisherige war Kür, jetzt beginnt die Pflicht!

Ich bleibe kurz stehen und befehle „Sitz!“. Brille runter. Zum gefühlt tausendsten Mal an diesem heißen Vormittag wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Dann schaue ich Cris tina hinterher, die nach den ersten Tippelschritten auf der 18 Prozent steilen Rampe sofort ins Gehen fällt. Ein Foto soll die Gemeinheit zu Beginn des eigentlichen Martyriums dokumentieren. Aber kann das ein zweidimensionales Bild? Zum dritten Mal in drei Jahren habe ich die Strecke in der Steiermark unter den Füßen und zum ersten Mal habe ich wirklich Bammel vor diesem Abschnitt. Das liegt vor allem an meinem Lieblingswetter: Fast windstill, gegenwärtig etwa 25°C und die Sonne brennt aus azurblauem Himmel gnadenlos auf uns runter. Wie gesagt: Mein Lieblingswetter. Lieber leide ich an Hitze, als unter Kälte oder in klatschnass geregneten Klamotten. Etwa 700 Höhenmeter non stop werden nun folgen. Mal steil, mal weniger steil, aber ohne Unterlass bergauf, zum Glück alles auf Asphalt.

Cris tina hat bereits 40 Meter Vorsprung, als ich mit Roxi am Fuß endlich zur Verfolgung ansetze. Tippelschritte, extra klein, Raumgewinn minimal, um die Belastung in erträglichen Grenzen zu halten. In Grenzen, die ich etwa eine Stunde aushalten kann. So lange werde ich für diesen härtesten, landschaftlich schönsten Teil des Sommeralm Marathons brauchen. Natürlich nur, wenn ich alles laufend bewältige – wie immer meine Absicht. Ob das bei dieser Mörderhitze möglich ist, wird erst der Versuch erweisen ...

Abgesehen vom Buddhismus stehe ich mit allen Religionen dieser Welt auf Kriegsfuß. Übrigens nicht wegen des „Chefs“ jenseits der Wolken. Irdische Instanzen und das jeweilige Bodenpersonal lassen mich massiv zweifeln, ob „Der da oben“ das alles so im Sinn hatte. Meine Zweifel ändern aber nichts an der Tatsache, dass menschliche Kreativität unzählige Sakralbauten schuf, deren Schönheit man einfach rühmen muss. So auch dieses idyllisch gelegene Kirchlein, unterhalb dessen Ummauerung die böse 18 Prozent-Rampe in eine Kehre übergeht. Die Spitze des hübschen Zwiebelturms sieht nur, wer den Kopf in den Nacken legt. Kein Jahr kam ich hier ohne Fotostopp vorbei.

Kirchlein im Rücken und weiter. Triefnass bin ich schon seit Stunden, was meine Poren aber nicht daran hindert unablässig Unmengen von Schweiß abzusondern. Um mich mache ich mir keine wirklichen Sorgen. Alle drei, vier Kilometer wartet eine Labe mit Iso, Cola oder Wasser auf mich. Dehydrierung kann ich zwar nur indirekt fühlen, wohl aber den Zustand nahender Überhitzung. Immerhin lebe ich in diesem Körper jetzt sechs Jahrzehnte und kenne nach vielen tausend Laufkilometern jede Hitzereaktion. Roxi kann sich dagegen nicht äußern und wird laufen, bis sie umfällt. So weit darf es aber nicht kommen. Ihre Zunge hängt verdächtig weit aus dem Maul und bergauf wird ihr kein Bach mehr Linderung verschaffen. Weiter aufwärts mit Schritten, die diese Bezeichnung häufig kaum verdienen. Aber wir kommen voran und höher. Noch eine Kurve, dann noch eine und schließlich auf die nächste Labe zu.

„Dauern brauch i eich owa ned, odda?“ empfängt mich die steirische Betreiberin der Labe und ich antworte pflichtschuldigst: „Nein, jeder tut sich das hier freiwillig an!“ Dann kann sie sich den Satz, der alle Mühsal in die kürzest mögliche Form presst aber doch nicht verkneifen: „Ihr duats eich da oawa scho was an!“ Zwei Riesenportionen Iso haben unterdessen meinen Magen erreicht. Wasser und Zucker, die die rasch größer werdenden Defizite wenigstens teilweise ausgleichen sollen. Dann ist Roxi dran. Vier Becher Wasser massiere ich ihr so gut es geht in Nacken- und Rückenbehaarung ein. Wieder lässt sie die verhasste Prozedur stoisch über sich ergehen. Roxi kann nicht schwitzen, sich nur über die stark durchblutete, hechelnd aus dem Maul hängende Zunge Erleichterung verschaffen. Lieben Dank an die stundenlang in der Sonne ausharrende Helferin, dann folgen wir der Fährte von Cris tina, die sich inzwischen fast 100 Meter Vorsprung erarbeitet hat. Ach ja, bevor jemanden der vermeintliche Schreibfehler zu nerven beginnt: Die Dame heißt natürlich „Christina“, aber „Chris“ steht auf ihrer Lauftight oberhalb des Pos links von der Naht und „Tina“ rechts davon. Vielleicht liegt es ja an der Hitze in meinen Kopf? Immerhin wundere ich mich ernsthaft, dass durch die Teilung eines Vornamens zwei eigenständige andere entstehen!?

Chris tina geht wieder und wir holen auf. Aber sehr, seeeehr langsam. Alle paar Minuten lüfte ich die Brille und setze den Scheibenwischer an. Mein kurzärmliges Shirt klebt klatschnass am Körper als hätte ich einen Gewitterguss abbekommen. Ein Trägershirt wäre bei dieser Witterung weit angenehmer zu tragen. Dafür nähme ich über die ungeschützte Schulter- und Halspartie etliche Wärmekalorien direkter Sonnenstrahlung mehr auf. Wer wird eher oben ankommen? Chris tina oder ich? Auf einem langen, ziemlich steilen Stück lasse ich sie schließlich hinter mir, begünstigt durch ein menschliches Bedürfnis, für das sie sich seitwärts verkrümelt. „Sallegg“ steht auf dem Ortschild und die beiden Haflinger auf der kleinen Koppel – wir kennen uns aus den Vorjahren – sind auch wieder da. Noch ein paar Höhenmeter und eine Linkskurve trennen uns von der nächsten Tränke.

Die Finger zweier Hände reichen aus, um Zaungäste, Helfer und Wechselläufer hier bei Kilometer 31, am zweiten Wechselpunkt zu zählen. Dennoch bereiten sie dem Läufer mit Hund (wahrscheinlich mehr dem Vierbeiner) ein großes Hallo. Sofort ist man um uns bemüht, bietet flüssige und feste Stärkung an. Neuerlich staut sich eine veritable Menge Iso in meinem Bauch. Dann ist wieder Roxi an der Reihe. Erst bekommt sie aus einem Becher zu saufen, den ein hundefreundlicher Helfer immer wieder randvoll füllt. Erneut nässe ich ihr Fell mit vier Bechern Wasser und verliere mehrere Minuten durch diese Prozedur. Ohne Bedauern übrigens, denn erstens spielt die Laufzeit in einem Trainingswettkampf eine untergeordnete Rolle und zweitens geht Roxis Gesundheit allen anderen Belangen vor.

Im Halbrund der steil neben uns abfallenden Schlucht hat sich Cris tina nach zeitraubender Vierbeiner-Kühlprozedur neuerlich einen hübschen Vorsprung erlaufen. Darüber bin ich gar nicht böse, denn einen in Sichtweite trabenden Läufer einholen zu wollen motiviert zusätzlich. Dabei ist völlig gleichgültig, dass ich niemanden in diesem Feld und bei dieser Hitzeschlacht als Konkurrenten betrachte. Ein Rücken zieht eben magisch an. Aufwärts, vorwärts, schwitzend, schweißwischend, Schrittchen für Schrittchen. Verdammt hart ist das. Und dabei denke ich nur bis zu jenem höchsten Punkt, den ich auf diesem Sträßchen in einigen Minuten erreichen werde. Danach geht's ein paar Kilometer beinahe eben und schließlich abschüssig dahin. Bis dahin denken, bloß nicht darüber hinaus ... denn das hier sind längst nicht die letzten Höhenmeter!

Verdammt ist das hart! Und nun habe ich mich auch noch vertan, wähnte die Schinderei hinter dem seit Kilometern mit den Augen fixierten Bauernhof vorbei. Noch weiter rauf, noch ein paar Minuten tippeln, schnaufen, schwitzen, kämpfen. Zu allem Überfluss auch noch Bedauern über Roxis augenblickliche Situation: Bis auf eine kurze, übersichtliche Passage muss sie seit dem Tal neben meinem Bein traben, mal rechts, dann wieder links und sich häufige Kommandowiederholungen gefallen lassen – je nach Herrchens augenblicklichem Leidenszustand mehr oder weniger unwirsch. Zu groß meine Befürchtung auf dem de facto kaum befahrenen Sträßchen könnte plötzlich ein Auto, ein Trecker oder – wie im Vorjahr – ein Milchlaster um eine Ecke schießen. Und um sie wirklich unter Kontrolle zu haben, kann ich ihr maximal eine Körperlänge Toleranz zugestehen. Weiter, weiter, schließlich – endlich! – wieder eben und am Berghang dahin, später – ein wenig Erholung gewährend – hinab ... bis zur nächsten Labe. Nun hilft kein Verdrängen mehr, hinter dieser nächsten Labe geht's neuerlich hinauf, noch einmal einige hundert Höhenmeter und – erfahrungsgemäß – weit quälender als alles andere zuvor. Quälender als der gerade eben mit noch intakten Energiereserven bewältige längste Aufstieg und um „Lichtjahre“ härter, als der relativ harmlose Auftakt des ersten Halbmarathons.

Es geht. Überraschenderweise. Für zweihundert Meter bergwärts auf einem mit hinterhältigen Stolperfallen gespickten Pfad. Kennst du diese Wurzeln, die sich ultrakurz vor unbedachtem Schritt und blitzschnell vor deiner Fußspitze auf die Lauer legen? Davon gibt’s einige in diesem Wäldchen. Mit Glück und Geschick entkomme ich ohne zu stürzen ins Freie, quere eine Wiese, gelange auf einen Fahrweg. Natürlich – wie könnte es anders sein – unter ständigem Höhengewinn. Wieder Asphalt unter den Füßen. Motivation muss man aus jeder sich bietenden Gelegenheit schöpfen. Ein älteres, wanderndes Paar findet lautstark Gefallen an der „Laufbegleitung“. Es ist nicht so ganz klar, wer in ihren Augen nun wen begleitet, dennoch freue ich mir einmal mehr ein Loch in den Bauch die unermüdliche Roxi dabei zu haben.

Wie lange hält so ein Motivationsschub? Kommt drauf an, muss wohl die richtige Antwort lauten. In diesem Fall nur so lange, bis das Sträßchen in die Hauptstraße mündet. Jene Hauptstraße, von der ich weiß, dass sie mich die finalen vier Kilometer zur Sommeralm geleiten wird. Jene Hauptstraße, von wo man – hoch droben und weit entfernt – das Ziel in Form des Windrades erkennen kann. Das ist einer der vielen Momente, die den Sommeralm Marathon von anderen Marathonläufen unterscheidet. Wenn ich sonst die Tafel mit der „38“ passiere, dann helfen Gedanken wie: ‚Nur noch vier Kilometer, nicht mehr weit, gleich geschafft!‘ Gedanken, die das finale Leiden relativieren, die letzte Kräfte freisetzen und den Rest erträglich gestalten. Der Blick zum Windrad hat die exakt gegenteilige Wirkung. Er visualisiert, wie weit vier Kilometer wirklich sind und wie viele Höhenmeter noch fehlen. Hat jemand mein Stöhnen gehört? Wahrscheinlich war es lautlos. Roxi muss wieder neben den Fuß und dann pack‘ ich es an. Die Straße ist steiler als ich sie in Erinnerung habe. Egal, noch geht es und nicht mal schlecht. Natürlich leide ich, natürlich tut es weh. Alles tut weh.

Autokolonne um Autokolonne, Motorrad nach Motorrad donnert an uns vorbei, die meisten talwärts. Das muss mit dem Pfingstwochenende zu tun haben, selbstverständlich mit dem guten Ausflugswetter und nicht zuletzt mit dem „Ross auslassen“ auf der Sommeralm. Das brummt, knattert, rauscht und stinkt an uns vorbei. Ausblenden. Einfach ausblenden. Nicht mehr lange, dann sind wir im Ziel. Ich werde kurzatmiger, also Schritte verkürzen. Den Buckel rauf, dahinter ein paar Höhenmeter runter, dann wieder bergan. Entsetzlich steil bergan. Ach was. Mit ausgeruhten Füßen wär’s ein lächerlicher Hügel; aber mein Akku ist fast leer, drum baut er sich mächtig vor mir auf. Drüber weg, endlich freier Blick und wenn mich nicht alles täuscht erkenne ich in der Ferne das heutige Ziel, die angekündigte Hütte. Ich fixiere mich darauf. Die Straße wird flacher, leichter wird es nicht. Kein gutes Zeichen. Bin unendlich müde. Vorwärts! Komm! Lass dich nicht hängen! Gleich geschafft!

Noch drei-, vierhundert Meter, dann werde ich die Hütte erreicht haben. Auf steilem Weg seitlich der Hütte erkenne ich das Ziel und mache mir Gedanken, wie wohl die angedrohte finale Schleife verlaufen könnte. Eine Lösung will mir nicht einfallen. Vielleiht weil ich noch nicht bereit bin die Wahrheit zu ertragen. Bin heran und man ruft mir zu: „Auf geht’s Udo! Noch um die Kurve und dann ist es gleich geschafft!“ Klingt harmlos ist aber gemein ohne Ende. „Um die Kurve“ bedeutet nicht weniger als weitere, sogar steile Höhenmeter. Höhen- und Weitenmeter, die sich ziehen wie Kaugummi. Ende nicht abzusehen. Ich fluche. Mehrmals. Innerlich, lautlos. In der Ferne ein kleines gelbes Schild. Es kommt näher, unendlich langsam, schickt mich in einen Almweg. Endlich zurück, fast eben, dann senkt sich der Weg, wird steiler und steiniger. Wildes Geheul aus allen orthopädischen Abteilungen: Spinnst du? Aufhören! Was soll das! Darf ja wohl nicht war sein! Ich bremse am stark abschüssigen Hang, klemme mir Roxi an den Fuß, will gemeinsam mit ihr über die Ziellinie laufen. Man klatscht uns ins Ziel. Ich reiße die Arme in die Höhe, lasse alle Konzentration fahren. Zu früh. Frauchen sitzt seitlich, fotografiert. Und Roxi huscht mir vor den Beinen vorbei, bringt mich beinahe zu Fall. Ein Grund mehr, warum mir nach 5:10:38 Stunden das Herz bis zum Halse schlägt.

Ergebnis: 5:10:38 h, Platz 13 von 29 Männern

Fazit zur Veranstaltung

Es ist schwierig einen Marathon mit dem anderen zu vergleichen. Jeder hat sein eigenes Flair. Wie dem auch sei: Der Sommeralm Marathon schlägt alles um Längen. Verantwortlich dafür zeichnet die Familie Kranixfeld samt Freunden und Gönnern. Ungezählte Freunde und potente Gönner. Kraxi hat einen Namen in der Region, als fairer und erfolgreicher Sportler. Und diesen Namen wirft er für „seinen“ Sommeralm Marathon in die Waagschale. Dazu gibt er unendlich viel Arbeit, seine und die seiner bis in alle Haarspitzen und mit unendlicher Freude engagierten Ehefrau Babsi. Ein Marathon mit Seele. Ein familiärer Marathon. Ein Marathon unter Freunden. Wer einmal dort war, wird wissen, dass es schwerlich möglich ist für ein bisschen Startgeld mehr zu bekommen. Materiell meine ich das in erster Linie, emotional aber auch. Vielen Dank Babsi und Kraxi!

Bitte macht weiter so und etabliert diesen Lauf über die nächsten Jahre im Marathonkalender!

Hinweis:

Für weitere Informationen zur Veranstaltung und Schilderungen aus teilweise anderem läuferischen Blickwinkel verweise ich auf die Laufberichte zum Sommeralm Marathon der Jahre 2012 und 2013.

 

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