There is something better than perfection   –   Frankfurt Marathon 2013

Ich singe. Lauthals und für jedermann hörbar. Sonst singe ich (fast) nie. Nicht mal leise. In der Christmette, wenn der Chor aller Laien dem Feierlichen huldigt, in der stillen, heiligen Nacht die Kinderlein unter den Tannenbaum ruft, bewege einzig ich lautlos die Lippen. Sturzbesoffen hab ich Lust zu singen, was aber schon Jahrzehnte nicht mehr vorkam. Und – ach ja – allein im Auto, manchmal, im Rhythmus eines Ohrwurms und ohne Ohrenzeugen. Man ahnt es schon: Der Udo kann gar nicht singen und es muss scheußlich klingen, Trommelfelle erschüttern und mit der Klangfarbe eines seit hundert Jahren verstimmten Klaviers jede Musikalität beleidigen. Und wenn schon! Renos Miene, in der seit geraumer Zeit Furchen und Schatten der Erschöpfung vom nahen Weltuntergang künden, hellt sich dabei auf. Meine Darbietung zaubert sogar ein Lächeln in sein Gesicht. Wo er das noch herholt, weiß ich nicht, so erlöschend, wie der Mann neben mir her trottet. Ihm dieses Lächeln zu entlocken, singe ich. Und für weitere tausend Laufschritte, die er sich vorm Ziel noch abringen muss. Doch ich singe auch für mich. Fliege ein bisschen, durch Raum und Zeit, vor Freude und mit Lust. Das machen die Musik aus dem Lautsprecher – eine, die ich immer schon mochte – und unser gemeinsames Lauferlebnis. Ein Unbekannter dreht sich nach mir um. Guckt ungläubig, verwundert, auch belustigt. Kennt er nicht, singende Marathonis, erst recht nicht nach mehr als 40 Kilometern. Noch einmal den Refrain, ein weiteres Mal abheben, schweben ... War selten in einem Marathon so langsam unterwegs und körperlich meistens besser drauf. Es wird also keinen großen Marathonsieg zu feiern geben. Dafür einen großartigen! Einen der Sorte: There is something better than perfection!

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Kann man eine Marathonanmeldung vergessen? Unmöglich! schreit das entrüstete Läuferherz. Das wäre fast so, als vergäße man den Geburtstag eines geliebten Menschen und das geht gar nicht. Ich möchte dem beipflichten, keine Frage. Aber mal angenommen, du liebst achtzehn Menschen in deinem Leben heiß und innig. Ehefrau, Kinder, Vater, Mutter, Bruder, Schwester, beste Freundin, bester Freund … und nun fehlen immer noch einige, um bis achtzehn zu zählen. Scheint es in solcher Situation nicht verständlich, zumindest verzeihlich, mal einen Geburtstag zu übersehen?

Ich habe den Frankfurt Marathon 2013 gefinished. Bisherige Bilanz: 118 mal angetreten und 118 mal ins Ziel gekommen. Also nehme ich dem Leser kaum Spannung, die Erfolgsmeldung an den Anfang zu stellen. Bilanz in diesem Jahr: Achtzehn mal Marathon oder weiter. Achtzehn läuferische Liebschaften, von denen ich keine einzige missen möchte. Und doch unterläuft mir das Missgeschick, vor einem Lauf die Anmeldung zu vergessen. Vor einem, der schon seit zwei Jahren als Fixstern an meinem Läuferhimmel stand. Vielleicht war es dieser Selbstverständlichkeit geschuldet, vier Tage vor dem Freundschaftsmarathon Amberg-Weiden vergeblich in der Meldeliste meinen Namen zu suchen. „Keep cool“ Udo, meldest du dich eben nach. Pustekuchen! „Nachmeldungen werden nicht angenommen!“ Ich lese diesen vernichtenden (nebenbei völlig unverständlichen und inakzeptablen) Satz mehrfach. Erst dann greife ich zum Telefon, um vom Leidtragenden meiner Trotteligkeit Absolution zu empfangen. Die Strecke Amberg-Weiden sollte Reno und mich ein zweites Mal Seite an Seite sehen. Beide hatten wir uns darauf gefreut, wie das sprichwörtliche „Schnitzel“. Für ihn stand dabei weit mehr auf dem Spiel als „nur“ ein gemeinsamer Lauf mit einem Freund: Lauf ich heut’ nicht, lauf ich morgen nimmermehr! Wie die meisten Marathonis muss sich mein Lauffreund drei Monate hartes Training aus den Rippen schneiden.

Was nun? Einig in dem Wunsch auf das gemeinsame Finish 2013 nicht zu verzichten, erwies sich Frankfurt als sympathischste Alternative für Reno und deshalb stehen wir jetzt zu Füßen des Messeturms, einem der höchsten Frankfurter Wolkenkratzer. Von unserem Anhang – Renos Frau, seine Tochter und Ines – haben wir uns mitten im ameisenhaften Gewusel des Aufmarsches verabschiedet. Etwa 11.000 Marathonteilnehmer gruppieren sich vor oder hinter uns. Dazwischen warten ein paar tausend Staffelläufer auf ihren Einsatz. Elite und erster Startblock sind längst unterwegs. Wir starten mit der zweiten Welle und rücken gehend Richtung Startlinie vor. In Höhe des Hammermannes*, der einem in Frankfurt schon vor dem Start bedrohlich nahe kommt, fallen wir in versammelten Trab und überschreiten ein paar Meter später die Startlinie. Eigenartig: Hier, im leistungsmäßig schwächeren Abschnitt des Feldes, in dem ich bisher selten eingereiht war, gibt es vom ersten Schritt an kein Gerangel, keinerlei Überholmanöver. Wieso? Macht das die Unsicherheit, ob die Kräfte für 42 Kilometer reichen werden? Für Läufer mit diesem Ausdauerstand geht es vor allem darum laufend anzukommen. Wie es scheint, haben das alle um uns her verstanden …

*) Der „Hammering Man“ ist eine 23 Meter hohe und 32 Tonnen schwere Skulptur des US-amerikanischen Künstlers Jonathan Borofsky. Er stellt die Silhouette eines Arbeiters dar, der mit seinem Hammer ein (imaginäres) Werkstück bearbeitet. Arm mit Hammer sind motorgetrieben. Versionen des „Hammering Man“ stehen auch in anderen Städten der Welt: Basel, Seattle, Seoul, Dallas, New York, Minneapolis, Los Angeles, San Diego, Washington D.C. und Lillestrøm (Norwegen).

Bei der Umsetzung des Trainings (Zielzeit 4:15 h) musste Reno Einbußen hinnehmen. Den Trainingsplan dann auch noch um gut drei Wochen zu strecken, erschwert die Absicht, am Marathontag den Scheitelpunkt der Leistungsfähigkeit abzurufen. Seine Taktik nimmt darauf Rücksicht: Anlaufen mit 6:10 min/km (Zielzeit ~ 4:20 h) und nach dem ersten Halbmarathon weiter sehen. Kann nach meinem Dafürhalten klappen, weswegen ich mich nicht einmische, stattdessen auf das „Feintuning“ der Pace konzentriere. Als quälend langsam empfinde ich den Auftakt. Erfahrung lehrt, dass man mit dem Gefühl „deutlich-zu-langsam“ die gewünschte Geschwindigkeit noch am genauesten trifft. Also widerstehe ich dem Impuls flotter zu laufen …

Reno überlässt mir völlig die Tempofindung. Er hat Wichtigeres zu tun. Unentwegt sucht er nach „Frau Schmitt“, vielen Läufern keine Unbekannte. Zumindest jenen nicht, die gerne witzig und mit Esprit geschriebene Laufberichte lesen. Von Berufs wegen geübt griffige Sätze aus einem blumigen Wortschatz zu drechseln, erregte sie auch die Aufmerksamkeit der Macher des Frankfurt Marathon Programmheftes (pdf-download, auf Seite 14). In einer Kolumne des Heftes sucht sie „streng wissenschaftliche Erklärungen“ für ein Phänomen: Wieso summiert sich bei Stadtmarathons der Frauenanteil auf nur 20 Prozent, plus/minus? Ihre humorigen Erwägungen beginnen mit dem „Einfluss des Laufens auf Lage und Größe der Gebärmutter“ und kulminieren in der Prognose von Amazonen, die „in kreischenden Neonfarben und hautengen Hosen den Jungs wettkämpfend zeigen, was eine Harke ist.“ Unterhaltsam, geistreich, absolut lesenswert!

„Frau Schmitt“ wird am überkopf geschwenkten rosa Puschel identifiziert, von Reno geherzt und zum Weiterjubeln zurückgelassen. Zum Jubeln finden scheinbar alle einen Grund, so auch ein begeistert gen Himmel dankender Mitläufer: „Mann! Haben wir ein Glück mit dem Wetter!“ In dieser optimistischen Formel fasst er das ganze unsichere Wettergeschehen der letzten Stunden zusammen: Trommelnde Regengüsse in der Nacht, gefolgt von ungetrübtem Himmel am frühen Morgen; danach wieder niedrig hängende, in Windeseile vorbei galoppierende Wolken und nun, kurz nach dem Start, blauer Himmel, lediglich mit ein paar Wolkenfetzen drapiert. Fest steht derzeit nur, dass es warm bleiben wird, beinahe unnatürlich warm für Ende Oktober. Ansonsten vermag ich den Optimismus des Unbekannten nicht zu teilen. So schnell wie der Himmel sich klärte, so rasch kann er sich auch wieder verfinstern.

„Ist doch gut, dass wir’s noch auf die Reihe gekriegt haben!“ meint Reno und gibt mir damit zu verstehen, wie sehr er die ersten Kilometer unseres gemeinsamen Weges genießt. „Mea culpa, mea maxima culpa!“ fällt damit von mir ab. Um ein Haar hätte uns meine Schusseligkeit das gemeinsame Lauferlebnis gekostet. Man kann es aber auch als Wirken geheimer Mächte deuten: Zum Zeitpunkt des Amberg-Weiden Marathons kämpfte Reno mit einer Erkältung. Und in mein Knochengerüst war gerade mal wieder ein nicht genau bestimmbarer Luzifer gefahren (siehe Laufberichte von München und Maratona del Mugello). Hätte ich mich rechtzeitig angemeldet, wären wir mit höchst ungewissem Schicksal zu diesem Abenteuer aufgebrochen – jede Wette! Udo, weil er keinen Lauf ohne weiteres „sausen“ und (Lauf-) Kameraden nicht vorsätzlich im Stich lässt. Reno, weil er kaum kneifen würde, wenn Udo schon anreist, um mit ihm den einzigen Marathon des Jahres zu finishen. Doch irgendwer oder irgendwas hat uns eine mutmaßlich unschöne Erfahrung erspart. Wer? Der pure Zufall? Weiß nicht. Die Existenz von Hexen, Gespenstern und anderem Hokuspokus leugne ich standhaft. Allerdings finde ich keine Antwort auf die entscheidende metaphysische Frage: Was liegt hinter der vom Menschen zu fassenden Welt?

Reichlich Wiedersehensfreude für meinen Laufpartner: Um Reno zu begrüßen hechelt Petra von hinten heran und überzieht dabei hörbar ihr Tempo (eine „Sünde“, die sie ganz sicher auf der Schlussetappe wird büßen müssen). Wie Reno zählt Petra zum exklusiven Kreis der „Radiergummiliga“. Ihr angehören kann nur, wer in Wettkämpfen nicht zu schnell läuft. Diese vordergründig skurril anmutende Aufnahmeregel dient einem höheren Ziel: Ausdauer mehren, dabei Genuss und Spaß am Laufen nie verlieren.

In Form mehrfach wild verfilzter Schlingen und Schleifen zieht sich der Marathonkurs auf den ersten 13 Kilometern durch die Frankfurter Innenstadt. Verwirrend. Gar einen Gordischen Knoten knüpfte der Streckenplaner im „Financial District“, dem mit Hochhäusen gespickten Teil von „Mainhattan“. Nach nicht mal drei Kilometern traben wir deshalb wieder Richtung Startbereich. Zum zweiten Mal tankt Reno Zuversicht bei der Begegnung mit dem rosa Puschel. Nach zähem Beginn vermag ich mich nur zögerlich seinen emotionalen Höhenflügen anzuschließen. Schuld an meinen müden Beinen ist die trainingsfreie Woche nach dem München Marathon. Zu der verdonnerten mich heftige Halsschmerzen und vor allem die Horrorvorstellung, Reno ein weiteres Mal abzusagen. Jetzt, nach etwa zwanzig Minuten, habe ich mir Unrundsein und Mattigkeit aus den Knochen gelaufen. Als dann auch noch unser Fanclub im Schatten des Messeturms mit schussbereiter Kamera, Jubelstürmen, Umarmungen, und Küsschen wartet, ist der Tag gerettet.

Warum ist der Kerl heute so still? Ich kenne Reno als mitteilsamen Menschen. Offen, gerade heraus, einer, der sein Herz auf der Zunge trägt. Unter anderem deshalb schätze ich ihn. Gegenwärtig lässt er eher mich reden. Oder bin ich für meine Verhältnisse aufgekratzter, geschwätziger als sonst? Jedenfalls geht es uns blendend und die neuerlich exakt getroffene Zwischenzeit nach fünf Kilometern tut ein Übriges … … … Blaulicht am Straßenrand rechts … Krankenwagen … Läufer am Boden … liegt auf dem Rücken … Brust entblößt … Sani drüber gebeugt … drückt beidhändig und rhythmisch auf den Brustkorb in Höhe des Herzens … Für die Dauer eines Wimpernschlags schießt mir dieses surreale Bild durch den Kopf. Reflexartig weise ich Reno auf die „Filmszene“ hin. Sicher bald eine Minute vergeht, in der mir die Wahrheit langsam ins Bewusstsein sickert. Kein Film, brutale Realität. Reanimation. Der Läufer ist tot! Schafft es der Sani nicht, sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen, dann … Was empfinde ich? Schreck? Bedauern? Von allem einen Anflug, am meisten Verwunderung. Laufen ist gesund. Wie kann da einer tot umfallen? Gut austrainiert und nach nur fünf Kilometern? Das Unerklärliche, ja eigentlich völlig Unmögliche, hält den Schrecken in Schach, hilft beim Verdrängen …

Wir fädeln uns wieder in den Gordischen Knoten ein, ziehen Schlingen und Schleifen hinterlassend durch die Frankfurter City. Alte Oper links, vor der Fußgängerzone rechts, Hochhäuser beidseitig. Die alte Oper gäbe ein tolles Fotomotiv ab, huscht jedoch einigermaßen überraschend vorbei. Zudem hat sich die Sonne wieder hinter einer geschlossenen Wolkendecke verkrümelt. Also vertage ich das ersehnte Foto. Noch mehr Hochhäuser, spiegelnde Fassaden, atemberaubende Perspektiven, schon sehr an New York erinnernd. Nein, nicht an den New York Marathon, denn der war meiner Frau Ines und mir im letzten Jahr nicht vergönnt …

Rasch wechseln die Eindrücke: Sambagruppe gegenüber des altehrwürdigen Hotels Steigenberger, Commerzbank, höchstes Bürogebäude Europas, kurz darauf passieren wir schon die historische Hauptwache, heute ein Café, ehedem ein Frankfurter Knast. Im Keller wartete das einfache Volk auf juristische Begutachtung, überirdisch hinderte man Bessergestellte am Weggehen. Diesmal quetsche ich mein Wissen nicht aus Wikipedia, bete einfach nach, was mir von der gestrigen Stadtrundfahrt in Erinnerung blieb.

„Spenden wir?“ Neben der Hauptwache wurden Portal samt Spendenmatte der Caritas aufgebaut. Seite an Seite überlaufen wir die Chipabfrage. Schon erstaunlich, wie man mit ein paar Extra-Laufschritten sein soziales Gewissen in Schach halten kann … Hier an der Hauptwache hatte ich eigentlich einen der begnadetsten Moderatoren der Laufszene erwartet: Arthur Schmidt. Doch momentan herrscht Schweigen im Walde. Dann streift ihn mein Blick, an einem Stehtisch, noch ohne Mikro, irgendwelche Unterlagen ordnend. Ob Reno ihn kennt? Meine in drei, vier Sätze verpackten Lobeshymnen nimmt er jedenfalls kommentarlos entgegen.

Umzingelt von Baukränen und – in diesem Teil der City – zeitlos hässlichen Nachkriegsfassaden mutet er an wie ein Fremdkörper, der romantische, fast im Originalzustand des 15. Jahrhunderts erhaltene Eschenheimer Turm. Man möchte das verspielt in zwei Flanken-, vier Seitentürmchen und eine schlanke Turmspitze auslaufende Bauwerk gerne versetzen. Vielleicht in die Nähe des historischen Zentrums rund um den Frankfurter Römer, das der Lauf heute nicht berührt. Viel Zeit bleibt mir nicht, den Resten Frankfurter Baugeschichte nachzuspüren. Kaum seiner ansichtig geworden zieht mich bereits ein gigantisches Graffiti* in seinen Bann: Die Darstellung einer am Boden kauernden Mutter, ihr kleines Mädchen rittlings auf dem Schoß. Mehr als Motiv und schiere Größe an nackter Hauswand beeindruckt mich der daneben gepinselte Satz, Motto und Deutung zugleich: „There is something better than perfection“.

*) Das Wandgemälde ist ein Werk des international und wandmalend tätigen Künstlerduos Herkut. Die Mutter mit Kind in Frankfurt gehört zu einer auf mehrere Metropolen dieser Welt verteilten Serie.

Passt ein Leitsatz besser auf unsere heutige Unternehmung als dieser? „There is something better than perfection.“ Dass – und in meinem Fall vor allem in welcher Verfassung – wir hier durch Frankfurt traben, ist mehr von Zufällen, Nachlässigkeit und bedauerlichen Zuspitzungen beeinflusst, als geordneter Planung zuzurechnen. Vieles ein bisschen improvisiert. Als ich mich für Frankfurt anmeldete, hatte ich einen (für meine Verhältnisse) granatenschnellen Marathon im Sinn. Nun bin ich froh über unser moderates Tempo. Aber hat überhaupt Bedeutung, was wir vorzeiten im Schilde führten? Ich entscheide mich für ein eindeutiges: Nein! „There is something better than perfection.“ Wäre es nicht so, könnte ich nicht tiefe Zufriedenheit dabei empfinden an Renos Seite zu traben … Natürlich erst nach Fotosession in Sachen „Mutter mit Kind“, kurzer Aufholjagd bis hinter den Eschenheimer Turm und der Erklärung, weshalb ich mich zurückfallen ließ. Mit einiger Befriedigung lasse ich ihn auch wissen, soeben den Titel für den fälligen Laufbericht entdeckt zu haben …

Frankfurt auskundschaften: Zum zweiten Mal an der Alten Oper vorbei (Mist: Wieder kein vernünftiges Foto gelungen), dann etwa anderthalb Kilometer Richtung Norden. Bürogebäude, mehrstöckige Wohnhäuser, nichts weswegen man einen Touristen in diesen Teil der Stadt schicken sollte. Erwähnenswert allein läuferische Randbedingungen: Zuletzt steigt die Straße etwas an und erste Regentropfen zerplatzen als dunkle Punkte auf dem Asphalt. Kaum an Höhe gewonnen, geben wir sie auch schon wieder preis: Nach spitzem Winkel südwärts abgebogen und einmal mehr auf den Gordischen Knoten zu. Bevor wir dort ankommen, geht das Tröpfeln in Dauerregen über. Den reden wir uns schön: „Hauptsache es ist nicht kalt!“ oder „So lange es nicht wirklich schüttet …“ und weitere tröstliche Formeln wechseln von einem Kopf zum andern. Die Wahrheit ist: Wasser von oben braucht jetzt wirklich niemand …

Nach nur zwanzig Minuten und hinter Regenschauern taucht der Eschenheimer Turm zum zweiten Mal vor uns auf. Diesmal nähern wir uns aus entgegengesetzter Richtung und verzweigen nach links, in die letzte noch unbekannte, der vom Turm überwachten Straßenschluchten. Jede Menge Frankfurt um uns her und kein Gemäuer wirkt älter als … als … keine Ahnung. Wie bestimmt man das Alter gesichts- und zeitlos funktionaler (oft auch: tödlich langweiliger) Bauwerke? Wie so oft auf Marathonpfaden in deutschen Städten verschafft sich die entsetzliche Wahrheit über solche Gedanken Zugang in meinen Kopf: Alles erstanden aus Ruinen. 1945, nach dem Krieg und mehrmaligem Bombardement stand hier nichts mehr. Vielleicht sind die düsteren Gedanken dem Regen geschuldet, der sich zum Glück nun abschwächt. Bereits auf der Mainbrücke ist die himmlische Gießkanne leer. Einstweilen wenigstens. Ich nehme die Beine in die Hand und presche voraus. Nur auf den Mainbrücken, mit freier Sicht nach Westen, kann man die Frankfurter Skyline komplett auf ein Foto bannen. Und jetzt will ich eins mit Reno im Vordergrund.

Hinter der Brücke scharf rechts: Ein paar Meter Mainpromenade auf durchaus hübscher Ahornallee. Ahorn? Jedenfalls hat der Herbstwind den nassgrauen Asphalt mit bunten Blättern dekoriert, die für mich nach Ahorn aussehen. Wie nach dem Streckenstudium erwartet, wird uns der Anblick des Mains samt Wolkenkratzersilhouette bereits nach einem halben Kilometer entzogen. Damit beginnt eine mit mehr als zwanzig Kilometern dramatisch lange Durststrecke optischer Reizlosigkeit. Erst cirka zehn – wie ich sie nenne – Füllkilometer Richtung Westen und anschließend, auf der anderen Mainseite, wieder zurück. Tatsächlich dauert es fast eine Dreiviertelstunde bis die Digicam in meiner Hand wieder Arbeit findet. Und das auch nur, um Renos „Ist-Zustand“ kurz nach der Halbmarathonmarke einzufangen (HM-Durchgangszeit: 2:11:48 h).

Es gehe ihm gut, sagt er. Er spüre die Kilometer zwar schon, aber noch keine Ermüdung. „Passt alles so!“ Mag ich ihm gerne glauben, denn der halbe Marathon hat in Renos Laufstil und äußerer Erscheinung keine Spuren hinterlassen. Unser Tempo steht nach wie vor bei etwa 6:10 min/km und wenn wir ein paar Sekunden verloren haben, dann lediglich durch Verpflegungsaufenthalte. Und doch glimmt da in mir eine gelbe Warnlampe. Weshalb weiß ich nicht. Haben mich irgendwelche Zwischentöne seiner Zustandsbeschreibung alarmiert oder nehme ich Veränderungen an ihm wahr, bevor sie sichtbar werden? Vielleicht höre ich auch nur Gras wachsen, wo gar keins gedeiht!? Mit den von der Halbmarathon-Durchgangszeit hochgerechneten 4:24 h für unser Finish mag sich Reno nicht zufrieden geben. „Ein paar Sekunden weniger pro Kilometer könnten es schon sein!“ fordert er seinen persönlichen Pacemaker zur Tempoverschärfung auf. „Lass uns erst mal 30 Kilometer erreichen, dann sehen wir weiter!“ rät der allerdings zur Vorsicht. „Ist doch sch…egal, ob wir den Lauf ein paar Minuten früher oder später beenden! Hauptsache du kommst gut durch und hast Spaß dabei!“ Dem Argument „There is something better than perfection“ mag er sich nicht verschließen. Also weiter wie gehabt …

Dann und wann fliegen ein paar Sätze hin und her. Meistens herrscht jedoch beredtes Schweigen. Von mir kenne ich es nicht anders. Von Reno hatte ich allerdings erwartet, dass er mit mir das Geschehen der letzten beiden Jahre „aufarbeitet“. In dieser Zeit ergaben sich bis auf unsere zufällige Begegnung beim Regensburg Marathon nur sporadische Kontakte per E-Mail oder Telefon. Immer wieder schiele ich verstohlen zu ihm rüber, um jeweils beruhigt zu konstatieren, dass seine relative Versunkenheit nicht vorzeitiger Ermüdung geschuldet ist.

Die Mainüberquerung steht an. Vielleicht Gelegenheit für ein interessantes Foto. Mehrmals wetze ich ein Stück voraus und springe auf die seitliche, mit Leitplanke bewehrte Balustrade. Wenn der Zufall nicht hilft, vermag kein auf solche Weise entstandenes Foto die Ansprüche des Hobbyfotografen in mir zu befriedigen. Zwar versuche ich immer reißerische Szenen oder Perspektiven vorauszuahnen. Manchmal ergeben sie sich jedoch spontan und sind „perdu“, bevor das kleine Dings in meiner Hand Betriebsbereitschaft signalisiert. Selten erwische ich den optimalen Zeitpunkt für den „Klick“. Ohne Brille erkenne ich nur schemenhafte Umrisse auf dem Kameramonitor, zudem unterliegen niederpreisige „Schnappschussapparate“ einer Auslöseverzögerung – je nach Motiv und Lichtverhältnissen. Und Sportfotografie kämpft dann noch gegen unvorhersehbare „szenische Entwicklungen“, weil sich die Akteure nun mal bewegen. In meinem Fall doppelt problematisch, weil nicht nur den anvisierten „Models“ Dynamik innewohnt. Auch der Jäger des Spektakulären verändert ständig seinen Standort.

Jenseits der Brücke geht es noch ein Stück weiter nach Westen, also weiter weg vom Ziel. 26 Kilometer liegen hinter uns und die „visuelle Tristesse“ der Vorstadt setzt sich ungebremst fort. Stadteil „Nied“, dann „Höchst“. Ganz sicher gibt es irgendwo in diesen Frankfurter Trabanten das eine oder andere landschaftliche Kleinod oder wenigstens ein paar Kuriositäten zu bestaunen. Entlang breiter Asphaltstreifen, ausreichend dimensioniert, um mehr als 10.000 Paar Füßen Platz zu bieten, sind diese Hingucker wohl eher selten. Jedenfalls sehe ich keine. „Du solltest dir eine junge, wohlgestalte Mitläuferin aussuchen und zur Motivation ständig vor dir herlaufen lassen!“ schlage ich Reno scherzhaft vor, weil die Strecke – gefühlt seit mehreren Lichtjahren – nichts Sehenswertes mehr zu bieten hat. Meinen Mitstreiter ficht das anscheinend nicht an. Immer wieder überzieht ein Lächeln sein Gesicht und er gibt mir zu verstehen, was es ihm bedeutet mit mir unterwegs zu sein.

Ich war (wie viele andere Menschen) im Beruf häufig auch ein Wasserträger. Teamwork bringt es mit sich, dass nicht alle, vor allem nicht immer und überall, kreativ sein können. Ein Stamm verhungert, wenn er nur aus Häuptlingen besteht und keine Indianer mehr hat. Heute spiele ich die Rolle des Wasserträgers im wahrsten Sinne des Wortes: Vor jeder Getränkestation „nehme ich Renos Bestellung entgegen“, schnappe mir dann zwei Becher Wasser oder auch solche mit Iso und eile hinter ihm her. Freundschaftsdienste, um den Erfolg zu mehren …

Am Himmel wehren sich kurze sonnige Intermezzi verzweifelt gegen düster drohend einher jagende Wolkenhaufen. Die Wahrscheinlichkeit eines trockenen Finales bröckelt mit jeder Viertelstunde. Aber Reno und ich haben andere Sorgen. Kilometer 30 liegt hinter uns und so platt und abgenutzt der Spruch auch klingen mag: „Ab Kilometer 30 beginnt der Marathon!“ Will heißen: Erst jetzt kannst du fühlen, wie das Abenteuer Marathon ausgehen wird. Dreißig Kilometer weit ließ dich dein Körper im Ungewissen, ob die Kraft heute reichen wird, um das gewählte Tempo ins Ziel zu retten. Reno signalisiert, dass ihm die Schritte zunehmend schwerer fallen. Vorwürfe brauchen wir uns nicht zu machen. Unsere Pace war mit Vorsicht gewählt und die – wie sich jetzt zeigt – fatale Tempoverschärfung nach der Halbmarathonmarke konnte ich ihm ausgereden. Wasser und Kalorien hat er ausreichend getankt; mal in Form von Gel, das ich für ihn dabei hatte, dann wieder mit Iso.

Bei Kilometer 33 verordne ich ihm das letzte Beutelchen Energie. „Echt jetzt ein Gel?“ fragt er verwundert. „Viel später brauchst du nichts mehr schlucken. Das kommt dann vorm Ziel nicht mehr an!“ erläutere ich die Taktik. In Wahrheit geht es mir weniger um die paar Zuckeratome, mit denen das Gel seinen Stoffwechsel noch anreichert. Er braucht jetzt das Gefühl gegen die aufkeimende Erschöpfung etwas tun zu können. Mentales „Doping“! Das einzige, was wenige Kilometer vor dem Langstreckenziel noch helfen kann. Viele wissen zu berichten, welch unerwartete Belebung sie von diversen „Tränklein“ in der Schlussphase eines Marathons erfahren haben. Insbesondere Cola gilt vielen als eine Art Zaubertrank, weil sie sich von der Kombination Zucker und Koffein eine Nachbrennerwirkung erhoffen. Dabei ist Zucker in viel zu hoher und Koffein in zu niedriger Konzentration in der Limo enthalten, als dass diese „Droge“ mehr als eine unterschwellige Wirkung entfalten könnte. Zwei, drei Schlucke Cola könnten nicht mal ein Neugeborenes vom Einschlafen abhalten … Läufer lassen sich eher vom Glauben an unterstellte Wirkungen als von den Substanzen selbst aufputschen. Marathon läuft man mit dem Kopf. Antrainierte Ausdauer bildet „lediglich“ die Voraussetzung. Ob jemand letzte Reserven mobilisieren kann, entscheiden Faktoren wie der Glaube an den eigenen Erfolg, ein starkes Motiv und ein unbeugsamer Wille.

Klammheimlich verschleppe ich das Tempo. Nicht durch eigene Initiative. Reno wird unmerklich langsamer und ich lasse es zu. Keine Tempoansagen mehr. Schon jetzt steht fest, dass unser Erfolg nicht mehr an der ursprünglich anvisierten Zielzeit zu messen sein wird. Er will laufend ins Ziel kommen! Mehreren seiner Nebensätze war zu entnehmen, dass er „Gehen-Müssen“ heute als Niederlage oder Erniedrigung auffassen würde. Einmal bemühte er sogar den Begriff „Feindbild“ … Mit – inhaltlich betrachtet – ziemlich überflüssigen Wortbeiträgen versuche ich seinen Kopf zu füllen, will schlechten Gedanken dort den Zugang verwehren. Beispiel, ungefähr bei Kilometer 35: „Allmählich könnten sie uns mal wieder interessantere Stadtansichten zeigen!“ Ungefähr so bedeutsam, wie der sprichwörtliche „Sack Reis, der in China umfällt“, für einen, der ums läuferische Überleben kämpft; was Reno mit halblauter Entgegnung unterstreicht. Einerlei: Er musste meinen Zwischenruf anhören, sich damit befassen, antworten und kam dabei weitere 30 Schritte vorwärts …

Es stimmt schon: Allmählich könnten sie uns wirklich wieder spektakuläre Stadtansichten vorführen. Nach mehr als zwei Stunden urbaner Ödnis zwischen Wohn- und Zweckgemäuer sind meine Sehnerven wund. Ungefähr bei Kilometer 36 dann endlich wieder der Blick auf Wolkenkratzer. Ich bin zwar kein Fan von Hochhäusern, aber in „Mainhattan“ sind sie nun mal die Hingucker. Noch sechs Kilometer und Reno wirkt ziemlich müde. Fast meint man die zentnerschweren Gewichte an seinen Beinen baumeln zu sehen. Fieberhaft krame ich in meinem Fundus nach unverbrauchten Motivationssprüchen. Aber da bietet sich nichts an und sonderlich kreativ bin ich auf diesem Gebiet auch nicht. Einstweilen wiederhole ich bekannte, nicht allzu beknackte Formeln: „Nur noch sechs Kilometer Reno. Das schaffst du. So weit ist das nicht mehr!“

Kilometer 37: Ist die Frau mit dem Pflaster verschraubt? Nach immerhin vier (!!) Stunden harrt der rosa Puschel unverdrossen der Läufer, die da kommen. Abklatschen mit Reno: Willkommene Motivationshilfe von Frau Schmitt! Wir nähern uns zum dritten Mal der alten Oper. Achtung Udo! Letzte Chance für ein brauchbares Opernfoto mit Läufer. Wieder renne ich voraus. Wirklich verausgaben muss ich mich dabei nicht, empfange aber Schmerzsignale von „da unten“ als jagte ich meine persönliche Bestzeit. Die Saison war lang – achtzehn Mal Marathon oder weiter – und verlief für meinen Bewegungsapparat wenig erquicklich. Höchste Zeit für eine längere Wettkampfpause! Ich bekräftige den jüngst gefassten Entschluss (und besitze hoffentlich genügend Vernunft ihn gegen Lauflust durchzusetzen).

Ein bisschen jammere ich meine wehen Füße an Reno hin, lasse es aber wie einen Lehrsatz klingen: „In welchem Tempo du läufst, ist zweitrangig. In der Schlussphase eines Marathons tun dir immer die Knochen weh!“ Mag stimmen, doch verglichen mit seinem augenblicklichen Leiden mache ich einen Sonntagspaziergang. Den Grund, weshalb ich es erwähne, dennoch jetzt an Reno hinrede, der mit jedem Schritt mehr zum Schatten seiner selbst mutiert, wirst du sicher durchschauen. Ablenken, an seinen Ehrgeiz appellieren, Quälerei und verbleibende Distanz wider besseres Wissen klein reden, baldigen Triumph ausmalen.

Und immer wieder Fotos von „Mainhattan“ mit ausgebleichten Farben unter grauer Wolkendecke. Himmelstürmende Kuben, aufregend vor allem in ihrer dritten Dimension. Wie viel Unheil wohl in den Türmen dieses monetären Babylons angerichtet wurde und noch immer wird? Gedanken daran lassen mich seit gestern nicht mehr los, als ich mir zum ersten Mal „ganz klein“ zwischen den gigantischen Bankhäusern vorkam. Ein selbstherrlicher Katholizismus ließ Dome errichten, jeden Zweifel unter steinerner Imposanz zerquetschend, im Innern einschüchternd dunkel. Vorgeblich die Herrlichkeit Gottes sollten sie bezeugen, in Wahrheit aber Macht und Alleinvertretungsanspruch der Kirche untermauern und sichern helfen. Moderne Dome verführen mit reizvoller Architektur hinter spiegelnden Fassaden. Ihr Gott ist das Geld, unermesslich viel Geld. Und ich lasse mich beinahe widerstandslos von dieser Kulisse beeindrucken … Rennaisance mittelalterlicher Strategien?

Wir ziehen noch eine weite Schlinge durch den auf ewig unentwirrbaren Gordischen Knoten des Streckenplaners. Jeglicher Frohsinn hat sich aus Renos Gesicht verabschiedet. Merkt er noch, dass ich ihn fotografierend wie ein Mond seinen Planeten umkreise? Reno von hinten, von vorn, unter Hochhäusern, vor der alten Frankfurter Hauptwache. Hört und versteht er meine als Ansporn gemeinten Sätze noch? Tolle Begegnung an der Hauptwache: Arthur Schmidt, wie er leibt und lebt! Schon das suggestive Timbre seiner unverwechselbaren Stimme macht dir die Schritte leichter. Unentwegt greift er sich einzelne Läufer heraus, lobt, verteilt Komplimente, stachelt und treibt an, muntert auf, heizt ein … Ein begnadeter Moderator. Und seinetwegen macht die „Caritas“ heute ganz groß Kasse! Arthur Schmidt als Lockvogel vorm Spendenportal: „Hallo Udo! Großartig! Wie wär’s mit einer Spende? Na komm! Noch einmal durchs Portal …!“ Wie könnte ich mich dieser Verführung entziehen?

Nur noch drei Kilometer und Reno trabt, trabt, trabt … Vielleicht hat ihm Arthurs Stimme einen ähnlichen „Kick“ verpasst wie mir. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich während eines Marathons zuletzt so euphorisch drauf war. Wieder voraus, denn ich brauche den trabenden Reno noch unterm Sinnspruch des Tages. Unter unserem Leitsatz: „There is something better than perfection!” Mit blank liegendem Herzen vorbei am Eschenheimer Turm, der mir nun schon weit weniger deplatziert vorkommt als vordem. Überhaupt scheint doch viel mehr in dieser Welt in Ordnung und am rechten Platz, als ich mit nüchtern kritischem Geist zu akzeptieren bereit bin. Sinneswandel (Sinnestäuschung?) unter Einfluss von Glückshormonen … Und rein in die Fußgängerzone, auf die Tafel mit der „40“ zu. Eine tolle Gelegenheit Reno an die „Winzigkeit“ zu erinnern, diese lächerlichen zwei Kilometer, die uns nun noch vom großen Finale trennen … Nun sogar ein viertes Mal an der Oper vorbei – hatte ich gar nicht auf dem Schirm, aber wer wollte, verheddert im wilden Knäuel dieser Strecke, noch die Orientierung bewahren?

Der Riese wankt, aber er fällt nicht. Und damit das so bleibt setze ich Reno in einer Weise zu, wie noch keinen Laufkameraden vorher. Krame dafür tief im Bodensatz meiner Kasernenhoferinnerungen … Wenn er’s denn für sich behält, wird der Wortlaut auf ewig unser Geheimnis bleiben. Kilometer 41 zieht vorbei und gibt mir völlige Sicherheit: Reno wird keinen Meter gehen! Jäh auflodernde Freude entfacht meinen Spieltrieb. Womit sonst könnte ich in dieser Phase spielen als mit der Kamera? Vielleicht klappt das sogar!? Ein Foto von schräg unten mit Renos Konterfei vor einem Wolkenkratzer. Drei Versuche … mal sehen was draus wird. Einen letzten Gruß dem rosa Puschel und weiter. Dort vorne noch um die Kurve, dann werden wir das Ziel schon sehen. Ich schieße noch ein paar aufmunternde Pfeile ins Renos müdes Fleisch und ernte die Andeutung eines Lächelns. Musik schwillt an … Das gibt’s doch nicht. Ausgerechnet dieses Lied!? … jetzt … genau hier … zum denkbar besten aller guten Zeitpunkte …

Mit mühsam unterdrückter Euphorie lausche ich den anfänglichen Akkorden. Die ersten Zeilen passen nicht, bauen aber immense Spannung auf. ‚Oh Mann, gleich folgt dieser irre Refrain!’ Manch einer wird die Nummer als banal empfinden und nur in Partystimmung ertragen können, mir gefiel sie schon immer … „Reno hörst du das? Mensch, das meint dich, meint uns!“ Ich kann es kaum noch aushalten bis sich Melodie und Refrain endlich im Höhepunkt entladen … Und dann ist es so weit und bevor ich kapiere, was ich da mache, singe ich lauthals mit:

„ … dann hebt er ab und
Völlig losgelöst
von der Erde
schwebt das Raumschiff
völlig schwerelos …“

„Du bist gemeint Reno. Los ins Ziel schweben!“ Sicher hätte ich noch mehr von diesem glücksduseligen Zeug an den halbtot einher schlappenden Reno hingequatscht, wenn nun nicht wieder der Refrain fällig wäre. Und einmal mehr reißt es mich empor und ich gröle ohne Rücksicht auf benachbarte Trommelfelle: „ … völlig schwerelos …“ Reno lächelt. Gut so. Und Reno läuft. Noch besser. Alles passt. Vielleicht noch 800 Meter und ich lasse die mentale Peitsche knallen: „Mensch Reno! Wir werden noch deutlich unter 4:30 h im Ziel sein! Los jetzt! Hol dir deinen Marathonsieg!“

Später wird man mir von starken Windböen erzählen und starke läuferische Behinderungen unterstellen. Gespürt habe ich die nur auf den letzten Metern. Für andere die Wirkung des Sturms; für mich – kein Zweifel möglich – das Fauchen unseres Raumschiffs, sein Rückstrahl, der sich zwischen Wolkenkratzern entlädt. Ein, zwei Minuten wirbelt ein Minitornado die Welt gehörig durcheinander. Tosende Luftmassen verfangen sich in welkem Laub, knatternden Flaggen, reißen an Läufern und Zuschauern. Die letzten Meter: Über den Vorplatz auf die Festhalle zu. Werden wir sie erreichen, bevor uns Major Tom mit seinen Raketendüsen in die Stratosphäre pustet? Wie immer geht mir das viel zu schnell. Ich möchte einen Schalter umlegen: Superzeitlupe jetzt! Alles ganz langsam, Sekunden auf Minutenlänge deeeeehnen. Auskosten, genießen, aufsaugen! „Reno du hast es geschafft!“ und Reno lacht … Dann segeln wir in die Festhalle, lassen uns darin treiben – völlig losgelöst, schwerelos – im mysteriösen Gelb-Lila-Kontinuum, berühren kaum den für uns verlegten roten Teppich … Ach halt doch einer die verdammte Uhr an! Säulendicke Lichtfinger schwenken hin und her, greifen nach uns, suchen die Helden der 42,195 Kilometer. Auf wehen Beinen, erschöpft, aber randvoll mit Glück. Ein Rausch, den man nicht kaufen kann, den nur kennt, wer so weit gelaufen ist. Ein Rausch, den potenziert nur haben kann, wer mit einem Kameraden Höhen und Tiefen der 42,195 Kilometer erlebt … Ich greife nach Renos Hand, wir reißen die Arme in die Höhe und trudeln über die Ziellinie.

Ergebnis: 4:28:35 h

Fazit zum Frankfurt Marathon

Wem Hochhäuser als spektakuläre Laufkulisse taugen, der ist in Frankfurt richtig. Nirgendwo sonst auf europäischem Boden sind sie in dieser beeindruckenden Massierung zu haben. Ansonsten teilt Frankfurt das Schicksal vieler deutscher Städte, von deren historischer Bausubstanz sechs Jahre Kriegswahnsinn wenig übrig ließen. Alte Oper und Hauptwache, dann noch der Eschenheimer Turm, damit hat es sich schon fast. Den schönsten Ort Frankfurts, den Platz vor dem Römer mit den herrlich restaurierten Fachwerkhäusern, berührt der Kurs leider nicht. Was auch immer du von einem City Marathon erwarten magst: Zwischen den Füllkilometern 13 und 35, gibt es in Frankfurt so gut wie nichts zu sehen. Dafür hat man etwa 15.000 bis 20.000 Laufverrückte vor, hinter und neben sich, ist also nie alleine. Naturgemäß stehen Zuschauer an Stimmungsnestern massiert, dazwischen spärlich oder eben auch gar nicht, wenn man sie mangels sonstiger Ablenkung am dringendsten bräuchte. Der Einsatz von Musik- und Rhythmusgruppen ist enorm. Mehr akustische Unterstützung habe ich von keinem anderen Marathon in Erinnerung.

Die Organisation hat diese Massenveranstaltung (noch?) im Griff. In den entscheidenden Hallenbereichen, auf den Wegen zu den Kleiderdepots und den Duschen, kommt man aber oft nur dicht gedrängt und sehr langsam vorwärts. Ich dachte da einen Augenblick an Boston. Nicht, dass ich dergleichen irgendwo auf der Welt noch einmal erwarten würde. Aber was wäre, wenn sich einer einen bösen Scherz erlaubte und auf einem dieser überfüllten Flure bräche eine Panik aus? Überall standen Schilder, dass sich die Marathonorganisation aus Sicherheitsgründen jederzeitige Taschenkontrollen vorbehält. Gut und schön, aber ist es damit getan?

 

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