Einige Bilder im Bericht können durch Anklicken vergrößert werden.

Familienfest  –  Sommeralm Marathon 2013

Winzendorf, Steiermark, Österreich, Europa: Endlich Sommer! In kurzer Laufhose und Träger-Shirt stehe ich im Hof vor Kraxis Behausung. Morgens um 7:15 Uhr angenehme, vielleicht 17°C, kein Wind und die Sonne lacht aus wolkenlosem Himmel. Rings um mich her dominieren gleichermaßen strahlende Gesichter, was neben dem Wetter vor allem an der Läuferfamilie liegt, die sich heute zum dritten Sommeralm Marathon zusammenfindet. Ob du willst oder nicht: In einzigartiger Atmosphäre wirst du für ein paar Stunden Teil dieser Familie, die sich im bloßen Kräftemessen am „fordernden Objekt“ längst nicht erschöpft.

Im familiären Zentrum agieren die Veranstalter, Hannes Kranixfeld, alias Kraxi, und seine Frau Barbara – nach Landessitte kurz Babsi genannt –, die soeben die Startnummernausgabe beendet. Babsi braucht keine Sonne, um gute Laune zu haben, denn Babsi strahlt immer, von innen. Keine Aufgabe ist ihr zu groß, keine Arbeit zu schwer und kein helfender Handgriff lästig. Kraxi – in Österreich einer der führenden Ultraläufer – richtet einen Marathon aus und Babsi hält den „Laden“ zusammen. „En passant“ übrigens, neben Arbeit, Haushalt und der Erziehung zweier quicklebendiger Söhne. Babsi organisiert die Verpflegungspunkte, spricht ab, fragt nach, ordnet zu, verteilt, korrigiert und gibt jedem Teilnehmer und Helfer das Gefühl, die Familienveranstaltung wäre ohne ihn/sie nicht komplett (was irgendwie auch stimmt).

Zur Familie gehören auch etliche Helfer, nur zum Teil bluts- hingegen alle wesensverwandt. Sie helfen bei der Vorbereitung, betreuen Verpflegungspunkte (O-Ton Austria: Labestelle), begleiten Läufer auf dem Rad und anderes mehr. Wer seinen Läufer begleitet wird flugs selbst zum Helfer, einfach, weil es Spaß macht. Diese Erfahrung macht in diesem Jahr auch meine Frau Ines, zusammen mit Babsi und anderen betreut sie Labestellen.

Wer als Läufer anreist, kann sich dem familiären Sog schwerlich entziehen, selbst wenn er niemanden kennt und lediglich auf ein erfolgreiches Lauferlebnis aus ist. 1.800 Höhenmeter bewältigen nur wenige Marathonis und Marathonas. Ein Umstand, der das Teilnehmerfeld auch künftig begrenzen wird. Heute „profitiert“ der Sommeralm Marathon vom Hochwasser, dem der Schlössermarathon im Marchfeld* zum Opfer fiel. Fünf Unentwegte suchten für die im Training mühsam erarbeitete Ausdauer eine Ersatzveranstaltung und meldeten vor ein paar Minuten nach.

*) Laut Wikipedia: Das Marchfeld ist eine etwa 900 km² große Ebene östlich von Wien. Es wird im Osten von der March, dem Grenzfluss Österreichs zur Slowakei, und im Süden von den Donauauen begrenzt. Das Marchfeld fungiert traditionell als Gemüselieferant Wiens und „Kornkammer Österreichs“.

Somit schart Kraxi kurz vor 7:30 Uhr eine Läuferin, 26 Läufer und einen Hund zur Einweisung um sich. Den Vierbeiner bewegen nur zwei Fragen: Wann kann ich endlich losrennen und wohin hat sich Frauchen mit der Kamera verdrückt? Das Herrchen zum Hund bekommt von der Einweisung auch nichts mit, will es doch einen Frühstart des mit Inbrunst fiependen Vierbeiners verhindern. Dann ist es soweit: Bürgermeister und Zeitnehmer schicken das kleine, gut gelaunte Feld auf die Reise. Und Roxi, zeitgleich von Herrchen Udo per Kommando „Lauf!“ entlassen, prescht wie ein geölter Blitz davon, gewinnt auf den ersten zwanzig Streckenmetern bereits dreißig Meter Vorsprung …

Der Sommeralm Marathon kennt kein Erbarmen mit Weicheiern wie mir, die gerne im Flachen auf Touren kommen. Bereits die ersten Schritte bringen einen nicht nur vorwärts, sondern auch höher. Mein Kreislauf – nur anderthalb Stunden nach Aufstehen und Frühstück quasi noch nicht vorhanden – schlägt Purzelbäume. Soll ich mich beim Architekten der Strecke beschweren, der in der Spitzengruppe läuft, als Tempomacher für die schnelleren Läufer? Das wäre unfair, denn ich kenne die Strecke aus dem Vorjahr, wusste also, was mich erwartet.

Runter und wieder rauf in raschem Wechsel. Über sonnig warme Wiesen, Abschnitten auf Asphalt, auch durch dunklen, modrig feuchten Tann. Roxi rast voraus und zurück, scheinbar in heller Aufregung, weil das bunte Rudel sich partout nicht zusammenhalten lässt. Oft klebt sie an den Hacken meiner Vorderleute, kehrt dann und wann um, stellt fest, ob ihr behäbiger, mit Aufwachen beschäftigter Rudelführer folgt. Anfangs halte ich noch Tuchfühlung zu anderen Läufern. Zur Orientierung wäre das nicht nötig, denn Kraxi hat die Strecke eindeutig und plausibel markiert: Weiße Pfeile auf Asphalt, Zipfel von Trassenband an Zweigen oder Pfählen, sobald man feste Wege verlässt. Eine Matschpassage mitten im Wald erzählt von den Unwettern vergangener Tage (Wochen? Monate?). Regen satt, auch hier, südlich des Alpenhauptkamms. Wo nötig am Rand vorbei oder auch mal weiter ausholend, weglos, durch welkes Laub, über knackendes Geäst. Ein bisschen Cross also, völlig unkritisch bei Kilometer vier, mit randvollen Akkus – nur das Kabel zum Pluspol fehlt bei mir noch, damit der Strom endlich zum Antrieb fließen kann.

Hinunter jetzt auf schlechtem Waldweg, zwischen Geröll und Wasserrinnen, auch mal schmierig oder weich, kein Tritt exakt berechenbar. Zwangsläufig – auch im Sinne von „gezwungen zum Laufen“ – protestieren meine Knie. Nur zu: Bald werden sie verstummen, wie jedes Mal, um in der Schlussphase ihre Not umso lauter zu beklagen. Sicherheitshalber verschweige ich ihnen, wie dicke es heute kommen wird.

Idyllisch und besänftigend nach hartem Anfangsgefecht: Über Feldwege und schmale Sträßchen queren wir den flachen Grund eines breiten Tals. Grün dominiert. Grün von Wiesen, Feldern und Bäumen. Auf schmalem Steg, leicht wippend über den Bach. Die Silhouetten spärlich gegliederter Höhenzüge beidseits des Tals grüßen beruhigend herüber: Schau her! So hoch sind wir doch gar nicht! Heimtückisch von der Perspektive getäuscht wird sich fühlen, wer darauf vertraut! Ich erreiche die erste Labe (Verpflegungspunkt) und es ist Zeit von der heute nötigen Trinktaktik zu reden: In ein paar Minuten werde ich (unvorhergesehen und aus ärgerlichem Grund) Bernie begegnen und er wird stöhnen: „Ist das schwül heute!“ Auch wenn ich Sonne und Wärme als ungeheuer angenehm empfinde, so werde ich ihm doch Recht geben und meine Absicht bekräftigen: So viel Flüssigkeit in mich „reinpumpen“, wie Magen und Darm ohne Revolte vertragen. Na dann: Oans, zwoa, drei gsuffa! – Becher mit Iso natürlich. Ich kenne die Besatzung der Labe nicht, aber sie gehören zur Familie des Sommeralm Marathons. Ohne Gruß und Dank zu verschwinden käme mir daher nicht in den Sinn.

Zwischen Bäumen rauscht ein Bach. Letztes Jahr hat er mich enttäuscht, weil ich erfolglos versuchte Roxi darin zu baden. Bei deutlich höherem Wasserstand in diesem Jahr kühlt sich Roxi Füße und Bauch. Born-to-be-wild, alias Roxi, kennt zwar kein Ausdauerlimit – zumindest sind wir noch nie auf eins gestoßen. Doch der „Schwarzfelligen“ kann Wärme, vor allem in Verbindung mit starker Sonneneinstrahlung, arg zusetzen. Baden, schütteln und weiter, nun wieder aufwärts, inzwischen mutterseelenallein und auf ein abgeschieden gelegenes Anwesen zu. Ziegen im Pferch reizen Roxis Nase und Neugier. Vor der wuchtigen Gestalt von Kühen oder Pferden hat sie gewaltigen Respekt. Ziegen stuft sie offenbar als ungefährlich ein, schleicht wie Arbeit suchend um den Zaun, als gälte es einen Hütejob anzutreten. „Roxi komm!“

Auf den Waldrand zu und – Ach ja! Ich erinnere mich! – davor im rechten Winkel nach links. Sanft bergwärts und … Was ist denn da vorne los? Aus finstrer, von dichtem Wald geformter Tunnelröhre strebt mir ein Läufer entgegen (?), mit etwas Abstand ein zweiter samt Radbegleitung. „Da gibt es keine Markierung mehr!“ Trotz meiner Einwände – seit der letzten Markierung zweigte kein Weg ab, außerdem bin ich sicher diese Route auch im Vorjahr genommen zu haben – rennt er weiter zurück. Plötzlich Dramatik am Tunnelausgang: Der Radbegleiter stürzt kopfüber vom Rand, rappelt sich jedoch gleich wieder schimpfend auf. Auf Bernie treffend messe ich dem Vorfall keine Bedeutung bei, erfahre aber später, dass der bedauernswerte Biker die Begleitung abbrechen musste.

An Bernies Seite stoße ich tiefer in den Wald vor, bis sich der Weg kurz nacheinander zweimal gabelt. Hier muss es Markierungen gegeben haben, die von einem missgünstigen Zeitgenossen (Waldbesitzer?) entfernt wurden. – Dumm oder bösartig? Während sich meine Empörung mit milderem Urteil befrieden lässt, hält der Wegsucher – er hat uns wieder eingeholt – mit seinem Zorn nicht hinter dem Berg. Intuitiv wähle ich eine von drei möglichen Routen. Die richtige, wie sich rasch herausstellt, als uns von weiter vorne der Ruf ereilt: „Hier hängen wieder Bänder!“

Erst zwischen Feldern, dann komfortabler auf Asphalt, vorbei an Obstplantagen und – was wohl? – aufwärts natürlich. Roxi trabt an meiner linken Seite, zum Schutz vor rollenden Verkehrsteilnehmern und weil wir auf den nächsten Verpflegungspunkt zusteuern. Wie erwartet richtet Frauchen die Kamera auf uns und schießt eine Bilderserie. Großes Hallo an der Labe, mit Babsi, Frauchen und anderen. Zwischen Becher zwei und drei meint Babsi: „Wir freuen uns über die Sonne und ihr leidet darunter!“ Nach meiner spontanen Entgegnung: „Ich kann beides!“ fügt sie ungläubig hinzu: „Und das geht?“ Ja, bei mir ist es so, wenngleich ich nicht sagen könnte, ob sich beide Empfindungen abwechseln, oder parallel in meiner Wahrnehmung mitschwingen. Ich kann an einem strahlend schönen Tag wie diesem zur selben Zeit genießen und leiden. Leiden an Hitze und Schwäche, zugleich mich in Wärme und sattbunten Farben aalen. Ein Kuss für Ines mit sehr! spitzem Mund aus triefnassem Konterfei, ein Dankeschön an die versammelten Helfer, ein „Komm Roxi!“ in Richtung des Streicheleinheiten sammelnden Vierbeiners, dann nehmen wir den Wettkampf wieder auf.

Schweiß rinnt in Strömen, von der Stirn, an Schläfen, im Nacken. Schon eine ganze Weile klebt mein Trägerhemd an Brust und Bauch. Dankbar begrüße ich schattige Waldpassagen. Eine Hitzeschlacht scheint unvermeidlich. Was mich angeht, sehe ich ihr mit überwiegend freudigen Gedanken entgegen. Endlich Sommer! Ich sorge mich eher um meine schwarze Begleiterin, checke deswegen ständig ihr Blutthermometer, den multifunktionalen, rosa Lappen, zwischenzeitlich weit ausgefahren und seitlich aus dem Maul hängend. Kurzer Stopp als es irgendwo zwischen Gebüsch und Gras mal wieder gluckst: „Roxi Wasser!“ Füße kühlen und schlabbern, dann weiter und – was wohl? – aufwärts natürlich.

Meine Beine sind schwer. Beinahe möchte ich hinzufügen: Schwer wie immer. Das soll kein Mitleid erregen, sondern lediglich unterstreichen, dass ich auch diese Unternehmung kaum erholt bestreite. Davor, während der Woche, war Training und heute – ich mache es mir mal wieder klar – ist auch „nur“ Training. Training wofür? Schlimm, dass ich das noch immer nicht weiß. In diesem Jahr flogen so viele Knüppel zwischen meine Beine, dass ich häufig strauchelte und bereits von einer verkorksten Saison rede. Ich ringe um Ausdauer, hartnäckig wie in jedem Jahr, nur leider weniger erfolgreich. Der ursprünglich angepeilte Hunderter in Salzburg kommt wegen der im letzten Jahr völlig unzureichend markierten Strecke nicht in Frage. Und nun? Was Längeres oder was Kürzeres als Hauptwettkampf des Jahres? Vielleicht weiß ich es hinter der Ziellinie auf der Sommeralm ...

Meist rauf, nur selten eben und stückweise hinab. Leiden und genießen. Landschaftsbilder – nahe und ferne – wechseln ständig, verlangen samt und sonders nach Prädikaten aus dem Wortfeld „schön“: Reizvoll, wunderbar, idyllisch, malerisch, zauberhaft, herrlich, prächtig, … Schon auf diesem Abschnitt, nach 14, 15, 16 Kilometern machen mir die Anstiege zu schaffen. Ich habe versäumt meine Laufzeit vom letzten Jahr nachzuschlagen, was ich keineswegs bedauere. Also kein die Peitsche schwingender Dämon im Nacken, der mich zu ehrgeizigen Blicken auf die Uhr samt unsinniger Tempokalkulationen nötigt. Ich will jeden Meter laufen – nicht gehen! –, der Rest wird sich finden.

Über mehrere Kilometer tippelt Roxi neben mir her. Dann und wann kamen uns Autos entgegen oder überholten, nun seit längerer Zeit keins mehr. „Roxi lauf!“ Freudig nimmt Roxi ihre Schnüffelarbeit beidseits des Sträßchens wieder auf. Als das aggressive Rumoren von jenseits einer Kuppe an mein Ohr dringt, ist es fast schon zu spät. „Roxi halt! Roxi zu mir!“ schreie ich panisch und rette den Hund im letzten Moment an meine Seite, als ein Milchlaster mit unglaublicher Geschwindigkeit über den Hügel springt. Der unvorsichtige Milchkutscher (mir gehen andere Ausdrücke durch den Kopf, die zu benutzen der Anstand verbietet) scheint uns gar nicht wahrzunehmen, donnert haarscharf und ungebremst an uns vorbei. Ich trage keinen Pulsgurt, könnte andernfalls nachweisen, dass keiner der steiermärkischen Berge eine solche Pulsspitze verursachte wie dieser Laster.

Landschaftlich reizvoll, läuferisch unangenehm, weil auf diesem Stück Bundesstraße Auto um Auto vorbei rauscht. Über mehr oder weniger ebenes Terrain erreichen wir den Sattel zwischen zwei Erhebungen und einen der markantesten Wegpunkte, eine ausladende, uralte Buche. Der von einer Tafel als Naturdenkmal geschützte Baum trotzt seit Jahrhunderten heftigen Stürmen. Völlig frei und exponiert stehend scheint unerklärlich, wieso ihm in all den Jahren keine Orkanböe und kein Blitz etwas anhaben konnten. Kurios: Einer der monumentalen Äste wurde mit gemauertem Podest unterfangen. Aktion „Mensch hilft Baum“.

Im gewaltigen Schatten des Naturdenkmals erwartet uns Labsal, Iso für mich und eine Hundewurst für meine Begleiterin. Der Wurstspender – selbst Besitzer eines vier Monate alten Schäferhund-Welpen – und Roxi lernten sich bereits gestern bei Kraxi kennen. Das Laufduo sagt: Danke! und macht sich wieder auf den Weg. Recht erholsam zunächst, da ohne nennenswerten Höhenunterschied, über den breiten Rücken der Passhöhe und mit herrlichem Fernblick Richtung Westen. Sogar das Ziel, die Sommeralm, ist von hier schon auszumachen, allerdings winzig klein und furchtbar weit weg; markiert durch ein Windrad, dessen Gestalt man mehr ahnt als klar erkennt. Merkwürdigerweise bedrückt mich die offensichtliche Ferne des ersehnten Zieleinlaufs kein bisschen. Auch zu wissen, dass die eigentlichen Härten dieses Marathons, steile Höhenmeter abwärts und viele aufwärts, noch auf mich warten, während meine Beine bereits um Ruhe betteln, lässt mich seltsam unbeeindruckt. Heute beschleichen mich keine Zweifel, stellen sich keine Fragen. Ich bin eins mit mir selbst und nehme die Herausforderung gerne an.

Jeweils nur etwa 3 bis 4 Kilometer liegen zwischen einer Tränke und der nächsten. Hier, bei Kilometer 21, erwartet uns eine tolle Überraschung: Roxi findet Frauchen, Udo seine Ines. Vorab hatte ich Bedenken, ob es mir ohne Schwierigkeiten gelingen würde, Roxi von Frauchen weg und wieder auf die Strecke zu lotsen. Doch der Bewegungsdrang unserer Hündin, ihre aberwitzige, scheinbar unerschöpfliche Lauflust schickt sie sogleich wieder voraus, mit Affenzahn in den Wald und bergab. Was nun folgt, fürchte ich eigentlich am meisten: Einige hundert Höhenmeter auf schlechtem Geläuf bergab und mit reichlich Stolperfallen gespickt. Zuweilen matschig weich, überwiegend steinig holprig, kein Schritt gleicht dem vorherigen. Aufgeweichten Boden umkurven, geröllige Rinnen meiden, Stück um Stück hinab. Im letzten Jahr versuchte ich auf diesen etwa fünf Kilometern Zeit und Boden gut zu machen. Das verkneife ich mir heute, denn rasch schalten meine ohnehin gereizten Kniescheiben in den Alarmmodus. Aushalten, einfach aushalten …

Im Talgrund bringen wir den einzigen hässlichen Kilometer des Sommeralm Marathons hinter uns. Verkehrstechnisch hässlich, nicht landschaftlich. Ungefähr so muss es sich anfühlen, wenn man während eines Formel-1-Rennens auf dem Hockenheimring spazieren geht. Das zischt gefährlich nah an uns vorbei und verpestet die Luft. Das röhrt und dröhnt, das donnert auf zwei oder vier Rädern dahin. Unhörbar das Rauschen des breiten Bergbachs nebenan. Uns bleiben ein schmaler Pfad hart an der Leitplanke und die Hoffnung allen Rennfahrern als überlebenswert zu gelten. – Endlich! Ein Sträßchen zweigt von der Rennstrecke ab und … geht binnen weniger Meter in den bisher brutalsten Anstieg des Kurses über. Auf den Zehen, mit ultrakurzen Schrittchen vorwärts, aufwärts. Sechs Kilometer (!) unentwegt bergauf stehen mir nun bevor. Gleich in der ersten Serpentine zwingt mich der Anblick eines malerischen Kirchleins zu einem Fotostopp. Klick und weiter, aber nur ein paar Meter, bis mich wildes Summen – ach eher meine Neugier – neuerlich zum Halten zwingt. Am Kirchturm, in Höhe einer Maueröffnung, tobt sich ein kaum einzugrenzender Schwarm von Wespen (?) aus. Irgendetwas scheint das Insektenvolk in helle Aufregung versetzt zu haben.

Aufwärts, bergwärts, bisweilen steiler, meist sanfter hinan, aber hinauf, rauf, rauf, rauf … Ich zwinge mich zu kleinen Schritten, auch dort, wo meine Kraft mir größere erlaubt. Haushalten mit den Energievorräten, denn ich werde sie noch brauchen. – Ich liebe sie. Sehr sogar. Aber Liebe kann einem auch zusetzen, so wie mir jetzt. Heiß sticht die Sonne aus nur mäßig bewölktem Morgenhimmel. Wieder rinnt der Schweiß und die Zunge beginnt am Gaumen zu kleben. Meine. Roxi hat ihre auf Maximallänge ausgefahren, hechelt, scheint ansonsten aber bester Dinge. Ich kenne die Zeichen, wenn es ihr zu warm wird. Dann tippelt sie voraus und verkriecht sich in einem schattigen Unterstand. Labestelle voraus, sehr willkommen. Trinken, ein paar Sätze wechseln, Danke sagen und weiter. Weiter rauf und rauf und rauf und rauf … Von hinten strampelt ein Mountainbiker heran, will wissen, in welchem Wettbewerb wir unterwegs sind. Noch spreche ich klar und deutlich, vor allem in ganzen Sätzen. Also kann’s so schlimm nicht sein …

Rauf, rauf, rauf … zugleich leiden und genießen. Leiden in der Steigung. Leiden an physischer Schwäche. Genießen von Aus- und Weitsichten. Schönheit wie gemalt. Mentaler Höhenflug im Rausch von Licht und Farben. Wärme und Sonne. Sie setzen mir zu und geben mir Kraft. Ich verbrauche mich auf jedem Meter und wachse mit jedem Schritt.

Die Schinderei bedarf keines Beweises, das Höhenprofil spricht für sich selbst. Aber wer oder was beglaubigt gute Laune und Vergnügen? Fotos legen Zeugnis dafür ab, viele Fotos, allesamt an diesem Berg entstanden. Immer wieder stoppen, immer wieder antraben. Zu gerne bliebe ich häufiger, auch länger, inmitten einer atemberaubend schönen Landschaft stehen, doch dann erreichte ich die Sommeralm erst nach Einbruch der Nacht. Meine Aufnahmen dokumentieren Weite im Schwenk über die bewaldeten Höhen der Steiermark. Auf anderen dominiert der Vordergrund, Blumen auf Wiesen oder an Böschungen. Almen mit Kühen sind zu sehen, frisch gemähte Wiesen und solche mit hohem Gras. Grüntöne in allen Schattierungen, mittendrin der Weiler Salleg. Hierorts die Steigerung, Entzücken inmitten landschaftlicher Begeisterung: Eine Ponystute mit Fohlen, kaum größer als Roxi. Das ist mir eine ganze Bilderserie wert (weniger für mich oder meine Leser, als für meine Frau). Ein Schuss nach rechts. Ein weiterer nach links, eine ungemein spannende Erdformation einfangend, halb Kessel, halb Schlucht. Im weiten Bogen – natürlich aufwärts – darf ich den tiefen Schlund umrunden, dabei schauen, staunen und sammeln – Bild um Bild.

Noch immer nicht oben und mal wieder „sausteil“. Kurze, kraftlose Schritte, dreißig Meter schutzlos, weitere fünfzig, dabei Erbarmen in schattigem Hain. Nun wieder die volle, die grausame, die wundervolle Sonne und herrliche Aussicht. Ein Berghof rückt ins Blickfeld, kommt näher, dann wieder nicht, als schöben ihn geheime Mächte immer weiter weg – weiter weg und höher. Endlich doch heran, Warntafel „Hofdurchfahrt!“. Der Schalung beraubt erhebt sich eine frisch betonierte Stützmauer zwischen Straße und Haus. Wessen Stabilität soll sie erhöhen? Haus, Straße, Hang? Einer der Bauarbeiter fixiert erst mich, dann Roxi: „Mei der oarme Hund! Sofüü dunkl’s Gwand am Laib bai dera Hitz!“

Geschafft! Auf wachsweichen Beinen, zunächst fast eben, alsbald in sanftem Gefälle, angenehm kühl in schattigem Nadelwald, hoffe ich auf Erholung. Kurzer Trinkstopp an unbemannter Station. Ein einsamer Biertisch offeriert Mineralwasser in Flaschen. Kilometer 34: Weiter hinab, jedoch ohne den Ehrgeiz Zeit zu schinden. Vier Stunden sind um und 34 Kilometer gelaufen. Klingt nach Endkampf und einer klaren Angelegenheit, wenn es darum geht unter fünf Stunden zu bleiben. Gottesgeschenke wie Zielbier und Dusche dominieren meine Gedanken üblicherweise in dieser Phase, nicht die restliche Strecke. „Üblicherweise“, jedoch nicht beim Sommeralm Marathon. Eine Stunde wird für die verbleibenden acht Kilometer nicht reichen!

Gefälle Ende; Überquerung einer verkehrsreichen Straße; kurzes Verweilen am fälligen Verpflegungspunkt; Gruß, Dank und ab. Wohin? Man ahnt es bereits: Aufwärts! Ab jetzt kennt der Kurs keine Gnade, keine Flach- oder Gefällepassagen mehr, zieht über sieben Kilometer unaufhaltsam bergwärts, noch einmal 450 Höhenmeter. Die ersten davon sind die schlimmsten (denke ich voreilig, in einer Dreiviertelstunde werde ich meinen Irrtum einsehen). Zunächst nur fordernd: Fester Wirtschaftsweg am und im Forst. Dann gemein: Tiefer, aufgeweichter, von einer Million knorrigen Stolperwurzeln durchsetzter, im Halbdunkel riskanter, mit anstrengenden Stufen gespickter Waldboden. Als Intermezzo federnd weich: Hangwiese mit Pusteblumen, eine platt getretene Schneise gibt die Richtung vor. Obendrein tückisch: Entlang eines Schafspferchs, auf unsicherem, von üppigem Pflanzenwuchs verdecktem, holprigem Pfad, um Gleichgewicht ringend. Arglistig jetzt: Knöcheltiefer Matsch, gut getarnt im Gras. Pures Glück lässt mich drei-, viermal die Füße richtig platzieren, zur Belohnung bleiben sie trocken. Und mit letzter Kraft: Zwanzig, dreißig steile, knubbelige Meter aufwärts, …

… dann trabe ich wieder auf moderat ansteigendem Asphalt. Langsam erholt sich der Puls und die Kraft kehrt zurück. Wundersamer Weise tut sie das jedes Mal, auch wenn ich meinem Körper lange und hart zusetze. Er erweist sich einmal mehr als verlässlicher Partner, wie der beste aller denkbaren Freunde, geht mit mir durch dick und dünn. Allerdings nützt sich Freundschaft ab, wenn man sie zu lange und zu vehement belastet. Nach jedem Nackenschlag meldet sich der Freund wieder zur Stelle, doch von Mal zu Mal stiller, zurückhaltender.

Wo das Nebensträßchen in eine Bundesstraße mündet, steht wieder ein Biertisch mit Mineralwasser. Ein paar Schlucke sollen dem Durst vorbeugen. Letztes Jahr verschwanden Roxi und ich knapp oberhalb dieser Stelle in fetten Nebelschwaden. Notabene ein feines Beispiel dafür, dass es sehr auf die Perspektive ankommt, wie man einen Sachverhalt wertet. Von ein paar hundert Meter weiter unten betrachtet spräche jeder Beobachter von Wolken … Auch heute quellen Wolken, allerdings in höher gelegenen Schichten der Atmosphäre. Während ich trinke, streicht mein Blick west- und bergwärts, weit west- und sehr weit bergwärts, bis hin zum Windrad, das die Sommeralm markiert. Noch immer weit weg und klein, wie eines dieser bunten Windräder für Kinder. Ach was: Noch viel kleiner, geradezu winzig. Der Nebel des Vorjahrs umfing ihn mit feuchter Kälte, aber er verbarg dem längst erschöpften Krieger auch barmherzig die Bitterkeit des bevorstehenden, finalen Gefechts.

„Roxi langsam!“ Seite an Seite und schneckengleich arbeiten wir uns entlang der Bundestraße aufwärts. Noch fünf Kilometer. Waldstreifen nehmen mir zuweilen die Sicht. Wird sie frei, bleibt mir nur ein weiteres Mal festzustellen: Wieder kaum vorangekommen! Zwanzig, vierzig, sechzig, … hundert Meter weiter. Ab und zu werfe ich einen Blick auf die GPS-Anzeige, lasse das aber rasch wieder sein. Es steht zu befürchten, dass sich das Zählwerk festfrisst und wir deshalb nie auf der Sommeralm ankommen werden. Noch vier Kilometer. Ausflugsverkehr. Autos. Nicht so schön, aber na ja, nicht jeder ist so ausdauernd (oder so verrückt) diesen Berg per pedes zu erobern. Blubbernde, häufiger knatternde Motorräder. Noch weniger schön. Aber na ja, was kümmert’s mich, wenn die ihren, seiner Schalldämpferfunktion beraubten Auspuff als Penisverlängerung benötigen? Zugegeben, ich bin jetzt ein wenig genervt und ziemlich erschöpft. Wieso ich dem Zauber der unmerklich an mir vorbei ziehenden Almenlandschaft dennoch erliege, bleibt rätselhaft. Auch jetzt noch: Stehen bleiben; Foto; wieder antraben. Nicht nur einmal, mehrmals. Innige Dankbarkeit begleitet meine Blicke gen Himmel, der mich unter einer enorm ausufernden Wolke vor der Sonne schützt. Von kühler Luft umfächelt verspüre ich ein wenig Erleichterung – wenigstens das. Noch drei Kilometer. Vor drei Stunden hätte ich diesen – objektiv – harmlosen Anstieg nicht ernst genommen. Jetzt treibt er mich ans Limit. Tempo langsam, langsamer, bei etwas herberer Steigung: Am langsamsten. Noch zwei Kilometer. Gleich springt die Anzeige der Uhr auf fünf Stunden. Soll ich mich besiegt fühlen? Nein! Fünf Stunden waren heute nicht zu schaffen, nicht von mir. Und wichtiger: Ich werde mit der Genugtuung die Ziellinie überschreiten jeden Meter gelaufen zu sein. Nach dem Rennsteigdebakel genau das, was ich brauche. Rehabilitiert! Wie? Ja klar, es fehlen noch zwei Kilometer, aber die werden mich nicht kleinkriegen. Noch mal eine Labe. Kein Grund mit Zeit zu geizen, also trinken, eine paar ermutigende Sätze empfangen, sich bedanken und weiter. Langsam weiter Richtung Sommeralm und zwei Minuten in steilerem Abschnitt ächzen. Meine Verbündete, die dicke Wolke, hält mir die Treue. Trotzdem sammeln sich Schweißperlen auf der Stirn und das verbuche ich als Erfolg. Alles richtig gemacht: Unmengen getrunken, wachsende Erschöpfung nicht durch mangelhafte Rehydrierung verschlimmert. Noch ein Kilometer. Diese Kuppe noch! Da noch rauf! Rauf! Rauf! Und dann wird die Sicht zum Windrad wieder frei, diesmal steht es groß, größer, riesig. Ein wenig bergab und flotter, auf parkende Autos zu. Ich weiß: Eine allerletzte, dafür ziemlich entsetzliche Prüfung gilt es noch zu überstehen. Vom Parkplatz hoch zum Windrad, höchstens zwanzig Höhenmeter. Schlimmer als die Steigung peinigt die Wegbeschaffenheit: Loses Geröll auf unebenem Grund. „Roxi lauf! Lauf zu Frauchen!“ Und Roxi kürzt ab, quer über die Alm, ist drei Sekunden später dort, wohin ich mich eine halbe Minute schleppen muss. Noch dreißig Meter, zwanzig, zehn und dann unterbrechen meine Waden die Lichtschranke …

Laufzeit und Platzierung: 5:11:01 h, Platz 19 von 27

Fazit zur Veranstaltung

Im Grunde steht das Wichtigste zum Sommeralm Marathon in der Einleitung des Laufberichts. Um die Veranstaltung noch einmal zusammenzufassend zu würdigen, habe ich meine Bewertung aus dem letzten Jahr aktualisiert:

Nie zuvor habe ich an einem Marathon teilgenommen, bei dem sich von den Anfängen bis zum guten Schluss einfach alles nahtlos fügte, der mit solcher Hingabe und Liebe zum Detail gestaltet war. Nie zuvor standen familiäre Herzlichkeit und sorgsames Miteinander aller Beteiligten so im Mittelpunkt, wie dort in der Steiermark. Wir Läufer sprangen auf einen fahrenden Zug, der mit Tatkraft und unglaublicher Freude am Gelingen von Hannes und Barbara Kranixfeld aufs Gleis gesetzt wurde. Wer nicht dabei war, hat viel verpasst (kann es aber im kommenden Jahr nachholen).

Die Strecke präsentiert eine wunderbare Kulturlandschaft, die immer wieder herrliche Aussichten übers steiermärkische Land offeriert. Etwa drei Viertel des Kurses bieten fußfreundlichen Asphalt. Auf der restlichen Strecke wechseln die Bedingungen von einfachen Feld-/Waldwegen bis hin zu holprigen, etwas Vorsicht verlangenden Pfaden. Wegen seines herben Profils (auf: 1.730 Hm; ab: 740 Hm) bleibt der Lauf gut trainierten Ultras, Marathonis oder Bergspezialisten vorbehalten.

Organisatorisch blieben keine Wünsche offen und für das vergleichsweise niedrige Startgeld bekommst du Verpflegung alle vier Kilometer, läufergerechte Getränke und individuelle Betreuung. Bei der Siegerehrung werden alle Läufer aufgerufen und mit einer Urkunde geehrt. Wir wurden zum Duschen chauffiert, dann in die Gaststätte zum Essen (ebenfalls im Startgeld enthalten) und letztlich zurück zum Start – Fahrten von etwa 40 Kilometern. Der Lauf erfährt Unterstützung von Sponsoren, Vereinsmitgliedern, Bekannten und Verwandten in einem Umfang, der den exzellenten Ruf des Sportlers Hannes Kranixfeld in der Region widerspiegelt. Nie zuvor fiel mir der Abschied nach einem Marathon schwerer …

Fotonachweis: Bernhard Mandat, Ines und Udo Pitsch

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang