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Grauzone  –  Zürich Marathon 2013

Mein Marathonsonntag beginnt um kurz vor sieben Uhr mit einer zügigen Wanderung in leblosen Züricher Straßen. Eine Straßenbahn der Linie 2 treibt mich vor sich her. Die vorherige fuhr gerade ab als ich mich der Haltestelle näherte und die nächste war erst 20 Minuten später signalisiert. Im immer noch eisigen Luftzug (knapp über 0°C) des kalendarischen Frühlings mag ich nicht auf eine Tram warten und dabei auskühlen. Dieser Dreckswinter hat sich wie eine tollwütige Bestie in die nach Wärme dürstenden Fluren Westeuropas verbissen. Wie lange noch? Die Frage stelle ich mir mehrmals täglich, spätestens in dem Augenblick, wenn ich in Laufschuhen und trotz „fetter“ Verpackung fröstelnd vor die Haustür trete. Ich folge den Schienen von Haltepunkt zu Haltepunkt. Die Straßenbahn holt langsam auf. Über mir lastet ein düsterer Himmel, lässt die Straßenschluchten in spärlichem Licht ergrauen. Gibt es Farben? Blasse bestimmt, da und dort. Aber Farbwahrnehmung geschieht im Kopf, im Dialog mit der jeweiligen Stimmungslage. Meine zeigt sich seit Wochen abhängiger von Wärme und Sonnenscheinstunden als mir lieb sein kann. Die Anzeigetafel an der Haltestelle „Stauffacher“ verheißt eine Tram in 4 min. Schaffe ich noch eine Station? Beherzt marschiere ich weiter und überquere die „Sihl“, eines der beiden Flüsschen, die sich im Züricher Stadtgebiet vereinigen.

Gerade mal eine Haltestelle fahre ich dann noch bis zum „Paradeplatz“, wo ich umsteigen muss. Umsteigen heißt warten, 10 Minuten. Ich ziehe mich tief in den windgeschützten Eingang einer Bank zurück, um in Gesellschaft erstaunlich weniger Läufer auszuharren. Kurz vor halb acht (Start ist um 8:30 Uhr) sollte hier eigentlich mehr los sein!? Als die Tram schließlich um die Ecke quietscht, bin ich schlagartig aller Zweifel enthoben. Dicht an dicht stehen die Läufer mit ihren Kleidersäcken. Es gelingt mir nur mit Mühe und auch erst im zweiten Anlauf, eine Tür weiter vorne, den allerletzten Platz auf dem Trittbrett zu ergattern. Dann rumpelt der Wagen los und von Haltestelle zu Haltestelle wächst meine Verwirrung. Zum einen steigt kaum mehr jemand zu, zum anderen verlässt ein ganzer Schwung Läufer die Bahn an der Station „Bahnhof Enge“. Mit der Mehrheit bleibe ich im Wagen und lasse mich noch ein paar Haltestellen weiter schaukeln.

Draußen folge ich dem Läuferstrom, der sich alsbald teilt. Die einen streben einem Areal zu, wo sich bereits viele umziehen, der Rest geht weiter, offensichtlich Richtung See und Startbereich. Oder doch nicht? Andere kommen mir entgegen. Meine Verwirrung resultiert aus der reichlich komplizierten, weit verteilten Logistik des Zürich Marathon, mehr noch der mangelhaften Kartendarstellung im Infoheft. Kleiderdepot, Marathonstart und Start des 10 km-Laufes (mit nur 10 min Verzögerung) befinden sich an verschiedenen Orten. Aber wo ist was und – entscheidende Unbekannte – wo stehe ich in diesem Augenblick? Also jemanden um Auskunft bitten: Der Erste versteht nur Englisch, meint lapidar er folge auch nur der Schlange. Die Zweite hat schlicht keine Ahnung (Wohin geht sie dann so zielstrebig?). Erst der Dritte weist mich verlässlich ein, in kehligem Schwyzerdütsch und überflüssiger Schlussfrage: „Zum ersten Mal hier?“ Im Moment möchte ich meiner Zustimmung eigentlich ein unwirsches „ … und sicher zum letzten Mal!“ folgen lassen, um meiner Irritation über das Durcheinander und sein süffisantes Gehabe Luft zu machen, verkneife es mir aber.

35 Minuten bleiben noch bis zum Start. Ich stelle mich zu etlichen „Mitverfrorenen“ ins Umkleidezelt und beobachte das Verrinnen der Sekunden, schließlich Minuten … Innere Unruhe – stete Begleiterin kurz vor einem Wettkampf und sei er noch so unbedeutend – zwingt mich vorzeitig mit unvermeidlichen Vorbereitungen zu beginnen: Beide Überjacken abstreifen, Schlaufe der Kamera ums Handgelenk legen, „Kunststoff-Ganzkörperkondom“ überziehen, Brille absetzen und alles Überflüssige samt Rucksack im (gottlob großzügig dimensionierten) „Kleidersäggli“ verstauen. Als ich meine gedankliche Checkliste noch einmal Position für Position abhake, fragt einer nach der Zeit. Ich halte ihm die Uhr unter die Nase, weil ich sie im Halbdunkel des Zeltes nur schlecht ablesen kann. „Tut mir leid“ meint der ältere Läufer, „aber ohne Brille kann ich das nicht lesen!“ – „Ich auch nicht!“ entgegne ich, um im selben Moment die Comedy-Reife der Szene zu erfassen. Statt in lautes Gelächter auszubrechen, mühe ich mich die verschwommenen Zahlen zu entziffern und schicke ihm ein überzeugtes „Wir haben jetzt 8:13 Uhr!“ hinterher (Wetten, dass er noch jemand ohne Sehbehinderung um die Zeit gebeten hat?).

Ich bringe das prall gefüllte „Säggli“ mit meinen Habseligkeiten zum Kleiderdepot. Immerhin schon Marathon Nummer 102 will ich heute finishen und feiere trotzdem eine Uraufführung: Erstmals werden die Kleiderbeutel in Eisenbahnwaggons verwahrt. Wie viele Marathons braucht einer auf dem Kerbholz, bis ihm nichts Neues mehr begegnet?

Noch eine Viertelstunde und – wenn das Infoheft nicht lügt – 800 Meter bis zum Marathonstart. Im Kielwasser des 4:30 h-Pacemakers strebe ich dem Startbereich entgegen (der wird schon wissen, wo das ist). Schließlich verlassen wird das bewaldete Areal und betreten eine mehrspurige, gesperrte Straße. Durch die Kronen gegenüberliegender Bäume erhasche ich einen Blick auf den Zürichsee. Graue, kaum bewegte Fluten hinter dunklem, kahlem Geäst. Der Mensch wird bescheiden, wenn ihn die Elemente dazu zwingen: Mit jetzt entblößter Halspartie bin ich schon dankbar für die Windstille auf dieser Seite des Sees. Mein Oberkörper verbirgt sich unter vier (!) Lagen Funktionshemden, Mütze und Handschuhe sind obligatorisch. Und doch fröstele ich, wogegen auch der zusätzliche Kunststoffüberwurf nicht hilft …

Startbereich: Ich studiere die Einteilung der Startblöcke, zugleich schweift mein Blick über die Köpfe der angetretenen Läuferschar. Ich suche den gelben Luftballon mit der Aufschrift „3:15“. Keine Bange, ich leide nicht an plötzlicher Selbstüberhebung. Es ist nur so, dass ich den Pacemaker „3:15“ kenne. Es dauert keine Minute, dann habe ich Kraxi (Hannes Kranixfeld, Lauffreund und Spitzen-Ultra aus Österreich) unter seinem Ballon entdeckt. Ein herzliches, wenn auch kurzes Wiedersehen beschert mir, was ich hören will: „Heute siehst du besser aus!“ Als wir uns vor drei Wochen in Fürth begegneten, war mein Konterfei noch von den Nachwehen einer notdürftig überstandenen Erkältung gezeichnet. Kraxi wird den Zürich Marathon als Trainingslauf in seiner Vorbereitung auf den Supermarathon am Rennsteig verbuchen. Als „Gepäck“ führt er nicht nur seinen Pacer-Ballon, sondern die bereits absolvierten 110 Wochenkilometer mit. Da nimmt sich meine Trainingsleistung bescheidener aus. Ich bringe es auf knapp 60 Kilometer und will mit dem heutigen Marathon die 100 voll machen.

Schuster bleib bei deinem Leisten: Ich habe mich in den passenden Startblock verabschiedet und schließe meine Startvorbereitungen ab. Schuhe noch einmal nachschnüren, Kamera kontrollieren und schließlich den Kunststoffumhang abstreifen. „Passender Startblock“. Das klingt ganz so, als stünde mir eine klare Marschroute vor Augen. In Wahrheit ist nur die Schallmauer fix. Unter vier Stunden muss ich bleiben, das verlangt mein Ego. Ansonsten: Loslaufen und „sich vom Tempo finden lassen“. Nach schleppendem Formanstieg auf immermüden Beinen warf mich die Erkältung ziemlich aus der Bahn. Mal sehen, was heute geht …

Das nach Nordwesten in die Züricher Innenstadt „vorstoßende“ Ende des schlanken Zürichsees haben wir bereits in einer Art Halbkreis umrundet. Nur zögerlich, nach nunmehr zwei Kilometern auf kältestarren Beinen, stellt sich so etwas wie Laufgefühl ein. Mein Tempo? Keine Ahnung. Ich lasse mich einfach treiben, passe mich den anderen Schwarmwesen ringsum an. Die knicken nach etwa drei Kilometern scharf ab und laufen wieder zurück Richtung Innenstadt. Also doch. Natürlich habe ich versucht die Streckenkarte im Infoheft zu deuten, was schlechterdings nicht möglich war. Auch meine Frau Ines brachte nicht mehr als ein paar Mutmaßungen zustande.

Es gelingt mir nicht das Tempo zu „spüren“. Ich fühle mich weiterhin ausgekühlt und steif. Mein Bewegungsapparat führt ein Eigenleben, wird sicher von irgendwas gesteuert, aber nicht von mir. Ich brauche Klarheit und „befrage“ meinen GPS-Knecht am Handgelenk. Der meldet Kilometer, die sämtlich nach 5:08 bis 5:23 min zu Ende sind. Zu schnell? Wahrscheinlich. Was spüre ich? Ein Ziehen hier, ein Zwacken da. Das hat nichts mit der Laufgeschwindigkeit zu tun. Was sich da mitteilt sind Lebensalter und bereits absolvierte Trainingskilometer – vereinfacht ausgedrückt. Was noch? Schwere, träge, „stelzige“ Beine. Das kann jetzt nichts mehr mit der Kälte zu tun haben. Also Restermüdung – die Trainingswoche lässt grüßen.

Mittlerweile laufen wir einen Spähtrupp Richtung Züricher Innenstadt und meine Kamera hofft auf ein paar attraktive Ansichten. Zunächst Geschäfte, Auslagen, Läden und dann … weitere Geschäfte, noch mehr Auslagen. Läden ohne Ende ziehen vorbei, darüber gepflegte, nichtsdestoweniger graue Fassaden. Meine Enttäuschung wächst mit jedem Schritt. Die Stadt hat doch hübschere Ecken zu bieten, als diese schnöde Fußgängerzone (anlässlich eines gestrigen Spaziergangs haben wir einige entdeckt). Oder gestattet der tiefhängend trübe Himmel keine anderen als abweisende, langweilige Ansichten?

Alles auf Anfang: Nach etwa 10 km laufen wir neuerlich durchs Startportal. In separater Spur, rechts neben uns, finishen die Läufer des „10 km City Run“. Für die schnelleren Läufer unter ihnen dürfte sich der Spaßfaktor in engen Grenzen gehalten haben. Zehn Minuten und etwa 300 m hinter dem kompletten Marathonfeld gestartet, mussten sie gut und gerne 3.000 Marathonis wie Slalomstangen umkurven.

Zum dritten Mal überqueren wir die „Quaibrücke“, zum zweiten Mal in West-Ost-Richtung. Unter uns nimmt das Wasser einen anderen Namen an, aus dem Zürichsee fließt die Limmat. Ich schieße stehend ein paar Fotos Richtung Stadt, erkenne historische Fassaden, hoch aufragende Türme, dahinter bewaldete Hügel. Meine Bilder wirken wie ausgebleichte Ansichtskarten, die nach Jahrzehnten als Wandschmuck alle Farbe eingebüßt haben. Dunst und Hochnebel verwischen die Skyline, vermitteln den Eindruck eines tristen Novembertages. Ich bedenke die Alternative zu diesem Trainingswettkampf – 40 Trainingskilometer alleine auf heimischen Wegen –, was ein Hadern mit den Witterungsbedingungen dann doch sicher verhindert. Außerdem hätten wir es wahrlich schlechter treffen können. Der Wetterbericht drohte noch vorgestern mit 1°C am Morgen und leichtem Schneefall. Stattdessen hat Petrus ein Einsehen, bewahrt Trockenheit und relative Windstille.

Wir laufen am Ostrand des Zürichsees auf der Seestraße in südliche Richtung. Klingt spannend und idyllisch, hält auf vielen Kilometern aber nicht, was es verspricht. Am (insgesamt etwa 40 km langen) Seeufer gibt es nur kurze, unbebaute Abschnitte; Weinberge zumeist, ansonsten reiht sich Ortsteil an Ortsteil, Dorf an Dorf, Anwesen an Anwesen. Der Blick über den See wird immer nur für Sekunden, mal eine Minute, frei, was normalerweise wohl genügt, um das Herz eines nach Natur und herrlichen Ansichten lechzenden Läufers noch schneller schlagen zu lassen. „Normalerweise“. Also vielleicht im letzten Jahr und womöglich auch wieder im nächsten. Nur heute nicht. Grau und stumpf erstreckt sich die Wasserfläche zwischen diesem und dem gegenüberliegenden Ufer. Kahle Uferbäume und winterfest vertäue Segelboote verstärken den Eindruck starrer Leblosigkeit.

„Frühling lässt sein blaues Band'
Wieder flattern durch die Lüfte; …“

Einstmals auswendig gelernt und als Fragment gewiss in jedem Jahr in Gedanken wiederholt. Und doch habe ich diese bekanntesten aller Frühlingsgedichtzeilen all die Jahre nie wirklich verstanden. Bis heute, bis mir der Blick über den Zürichsee an einem Sonntagmorgen im April die Augen öffnet. Das schafft die totale Abwesenheit des „blauen Bandes“, wo es doch schon seit Wochen „flattern“ sollte. Wie gerne erginge ich mich in romantischer Schwärmerei, berichtete von warmem Sonnenschein, blauem See und grünen Gestaden. Wie gerne ließe ich mich von schneebedeckten Gipfeln hoher Berge hinter den Hügeln auf der anderen Seeseite begeistern. Eine herrliche Aussicht muss das sein, wenn man Reiseprospekten Glauben schenkt …

Das Laufen macht mir heute keinen Spaß. Nicht etwa, weil ich nun, nach mehr als der Hälfte der Distanz, bereits erschöpft und der Sache überdrüssig wäre. Die Unlust stand mit am Start und rennt seitdem wie ein Schatten neben mir her. Dass ich dennoch laufe, heute, jetzt und hier, und den Marathon ohne Selbstverleugnung zu einem befriedigenden Ende bringen werde, ergibt sich aus meinen unerschütterlichen Antrieb, dem (noch?) unbeugsamen Willen ein hartes Trainingsprogramm zu absolvieren. Aber werde ich nicht langsam zu alt und zu bequem für diesen Quatsch? Wochenlang bei miesesten Witterungsbedingungen anspruchsvoll trainieren und frieren? Kein Wunder, dass sich die Frage aller Läuferfragen ausgerechnet während eines Marathons stellt: Warum tue ich mir das an? Ich kenne mich doch: Wärme und Sonne knipsen Licht an in mir, Kälte und Dauergrau machen mich mürbe, laugen aus, strangulieren jedwede Lauflust. Dieser Bericht flösse über vor Vergnügen, gönnte uns der Himmel zehn Grad mehr und ein paar Sonnenstrahlen. – Die Gedanken sind frei und die Füße … setzen weiter Schritt um Schritt …

Begegnungen: Auf der über etliche Kilometer als Wendeschleife angelegten Strecke fliegt mir die Spitze des Feldes entgegen. Vorneweg ein dunkelhäutiger Mann aus Eritrea (der spätere Gewinner mit 2:07:44 h und Streckenrekord), dahinter ein Kenianer mit etwa zehn Sekunden Versatz. Schon mehrmals war es mir vergönnt Hochleistungsathleten mit solchen Geschwindigkeiten passieren zu sehen. An ihren raketenhaft schwerelosen Anblick gewöhnen werde ich mich nie. Bin ich doch selbst Läufer, mühe mich täglich am Limit, um meine Ausdauer zu verbessern, um schneller zu werden. Exakt diese Grenzerfahrung auf ERHEBLICH niedrigerem Niveau lässt mir den Auftritt so schneller Leute wie von einem anderen Stern erscheinen. Auch rechnerisch packe ich das überhaupt nicht: In ihrem Durchschnittstempo von ca. 3:07 Minuten pro Kilometer könnte ich nicht mal eine Stadionrunde absolvieren …

Noch eine Begegnung: Auf den Platzhirsch ansitzende Jäger müssen sich so ähnlich fühlen. Meine Spannung steigt und immer wieder richte ich den Blick voraus, um rechtzeitig seinen gelben Luftballon zu erspähen. Ich wünsche mir ein Foto von Kraxi als Zugläufer und habe dafür nur einen Schuss im Lauf. Als es dann so weit ist, bleibe ich frühzeitig stehen und visiere den Hasen mit seiner Meute an. Dann „Schuss“ und … Riesenenttäuschung, weil just im selben Moment einer seiner Klienten „brettlbreit“ vor meine Linse rennt. Vom lächelnden Kraxi bleiben mir nur der Kopf und die zum Gruß erhobene Rechte.

Es muss jetzt raus, sonst platze ich: Die Läuferverpflegung steht unter dem Motto „Irrsinn mit Methode“. Was ich bisher eher in Italien, gottlob aber auch dort nicht durchgängig, erlebte, lässt mich hier etwa alle 3,5 Kilometer innerlich aufstöhnen. Wasser wird den Läufern in Halbliterflaschen angeboten. Zwei, drei Schlucke trinken, den Rest wegschmeißen. Gut und gerne 10 Flaschen, also fast 5 Liter bestes Trinkwasser lasse ich auf diese Art am Ufer des Zürichsees verrinnen! Ich überlasse es deinen Rechenkünsten, das auf etwa 3.000 Teilnehmer hochzurechnen … Im Zusammenhang mit weggeworfenen Lebensmitteln wird oft das Bild verhungernder Kinder in der Dritten Welt bemüht. Derlei Argumentation dient weniger der Problemlösung als polemischer Zuspitzung, so viel ist klar. Und doch haue ich daneben in eine noch tiefere Kerbe: An zahlreichen Orten dieser Welt stellt die Beschaffung von sauberem oder zumindest nach Abkochen genießbarem Trinkwasser ein noch viel drängenderes Problem dar. Vor diesem Hintergrund empfinde ich die Verschwendung einiger Kubikmeter Trinkwasser zum Plaisier von ein paar tausend Läufern als unerträglich.

Das sehen auch andere Menschen der so genannten „Ersten Welt“ so und zwar spätestens dann, wenn die Katastrophe vor der eigenen Haustür passiert. November 2012, New York, Hurrikan Sandy lässt Teile der Millionenstadt unter einer Flutwelle absaufen. Zusammen mit zig tausend anderen Läufern weilen Ines und Udo im Big Apple, um nur sechs Tage danach den Marathon zu laufen. Zwei Tage vorher wird die Veranstaltung abgesagt. Abgesehen von der kochenden Volksseele – „Wie könnt ihr Polizei, Feuerwehr und andere Hilfskräfte für einen Marathon abstellen, während nebenan die Menschen ums Überleben kämpfen?“ – verhinderte der örtliche Getränkesponsor die Durchführung, weil er sein Wassergeschenk medienwirksam an jene weiterreichte, die ohne Strom und Wasserversorgung in ihren Wohnungen ausharren mussten …

Kilometer 25, die Wendeschleife. Endlich. Ein paar Höhenmeter werden hier gefordert. Erst rechtwinklig weg vom See aufwärts, dann, um das Dreieck zu schließen, wieder abwärts und zurück auf die Uferstraße.

Fast seit Anbeginn meiner Marathon-„Karriere“ versuche ich mir läuferisch auf die Schliche zu kommen. Ich horche und forsche in mich hinein. Physisch und psychisch. Natürlich vor allem, um in gegebener Situation richtig entscheiden zu können, um möglichst wenig Negativerlebnisse zu provozieren. Jedoch auch, um mich selbst besser kennen zu lernen. Dennoch überrasche ich mich immer wieder selbst, so auch heute. Nein, ich habe immer noch keine Lust zum Laufen. Aus ebendiesem Grund hatte ich eine quälende zweite Hälfte erwartet. Und nun? Die Kilometer vergehen ohne mich mental anzutasten. Klar fühle ich die Anstrengung und – wie jedes Mal – knarrt es überall im Gebälk. Einerlei. Ich spule das Ding ab. Es macht eben doch einen positiven Unterschied, ob man sich trainingshalber über heimische Wege schickt, oder gemeinsam mit anderen leidet …

Noch etwas hatte ich so nicht auf dem Schirm: Von A bis Z halte ich mein Tempo wie ein Uhrwerk. In Zahlen ausgedrückt:

Finish: 3:47:03 h
1. Hälfte: 1:53:34
2. Hälfte: 1:53:29
1. Viertel: 55:39 min
2. Viertel: 57:54 min
3. Viertel: 57:22 min
4. Viertel: 56:07 min

Wie kann einer das realisieren, der gar keinen „Bock auf Laufen hat“? Macht’s mir vielleicht doch Spaß und ich merke es nur nicht? Es soll ja Menschen geben, die sich durchaus mal selbst im Wege stehen …

Tristesse bliebt Tristesse, grau bleibt grau: Ein zweites Mal durch die langweilige Züricher Shopping-Schlucht. Wenigstens Zuschauer lockt die Veranstaltung an und das bei dem Wetter. Die Anfeuerung tut gut. Die meisten können gar nicht ermessen, was es heißt 42.195 Meter weit zu laufen. Und doch bewundern sie dich. Warum auch nicht. Auch ich stehe sprachlos vor menschlichen Leistungen, zu denen ich nicht fähig bin, etwa der unglaublichen Geschicklichkeit von Artisten oder der Genialität bildender Künstler.

Noch drei Kilometer. Ich werde schneller. Nicht Begeisterung treibt mich an, einfach der Wunsch es nun rasch zu Ende zu bringen. Mit einiger Genugtuung registriere ich, dass eine Tempoverschärfung noch vergleichsweise mühelos möglich ist. An einigen, die ihre Kräfte zu früh verschlissen haben, ziehe ich flott vorbei. Es tut gut, wieder einmal die eigene Form richtig eingeschätzt zu haben. Mit jedem Meter verbessert sich jetzt meine Stimmung. So erging es mir immer, wenn ich nicht gerade – als seltene Ausnahme – „mausetot“ dem Ziel entgegen stolperte. Egal wie weh es tut, wie viel ich geben oder leiden musste, wie tief meine Stimmung auch im Keller gewesen sein mag, auf den letzten Kilometern wird alles leichter, heller, bunter. Und dann biege ich auf die Zielgerade ein und erblicke das Marathontor etwa 300 Meter vor mir. Unbekannte Menschen applaudieren, rufen meinen Namen (steht auf der Startnummer) und ich setze zu einem langen Endspurt an. Sinnlos, zwecklos, überflüssig – einfach nur, weil ich es noch kann. Weil es mir ein gutes Gefühl gibt, nach 42 harten Kilometern. Mit Gruß und einem Lächeln fliege ich an der fotografierenden Ines vorbei. Noch 100 Meter und dann geht es mir blendend, um Potenzen besser, als wenn ich heute nicht Marathon gelaufen wäre und letztlich zählt nur das …

Fazit zum Zürich Marathon

Eine auch nur ansatzweise objektive Wertung der Strecke kann mir nicht gelingen, weil dafür die Wetterverhältnisse zu schlecht waren. Einen Großteil der Strecke empfand ich als langweilig und öde, was aber sicher bei Sonne und guten Sichtverhältnissen anders gewesen wäre.

Negativ aufgefallen sind mir die extrem weiten Wege, die unklaren Infos für Erstteilnehmer, die sündhaft dumme Verschwendung von Trinkwasser an den Verpflegungsstellen und natürlich das exorbitant hohe Startgeld von 110,- Schweizer Franken (ca. € 90,-). Schlechter Wechselkurs und deutlich höheres Preisniveau in Schweizer Gefilden liefern für die Höhe der Gebühr nur eine Teilerklärung.

 

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