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Zwei Fliegen mit einer Klappe  –  Fränkische Schweiz Marathon 2012

Straßensperre! Und was nun? Wir waren allzu sorglos, glaubten die Abläufe nach unserem ersten Start beim Fränkischen Schweiz Marathon, 2006, zu kennen. Hatten diesmal ein preiswertes und günstig gelegenes Hotel gefunden. Ich war zu Fuß Richtung Start aufgebrochen, Ines mit dem Auto, um nach Ebermannstadt zum Wechsel und späteren Ziel zu fahren. Nun steht sie vor der Sperre und erkundigt sich bei einem Feuerwehrmann zur Fahrtroute. Der gibt sich superfreundlich aber entschieden: Hier geht heute gar nichts, die Straßensperrung ist total! Als ich zu Fuß ankomme, spricht er dann doch in sein Funkgerät. Derweil zischen auf der gesperrten Straße immer wieder Skater und Handbiker vorbei, die sich vorm Start aufwärmen. Unser fremdes Kennzeichen und die Tatsache, dass Ines als gemeldete Läuferin auch Teil der Veranstaltung ist, helfen uns aus der Patsche. Allerdings muss sie sich von Posten zu Posten vorwärts arbeiten und immer wieder die Strecke queren. Mit sehr gemischten Gefühlen setze ich meinen Fußmarsch Richtung Innenstadt fort und beobachte, wie sich Ines vorwärts „tastet“; mal wieder umkehrt, mit zwei weiteren Streckenposten „flirtet“, gemäß Anweisung dreißig Meter über den Bürgersteig fährt, bis sie schließlich aus meinem Gesichtskreis verschwindet. Wenn das mal gut geht!?

Wenn was gut geht? – Wie 2006 nehmen wir auch heute als Mixed Duo am Marathon teil. Ich übernehme die ersten 16 Kilometer bis nach Ebermannstadt und übergebe den Chip dort an Ines, die ihn über die restlichen 26 Kilometer tragen wird. Für Ines ein Trainingslauf, genauer: ein langsamer, langer Lauf im Rahmen ihres Marathontrainingsplans für New York. Nachdem ich den Chip vom rechten Fußgelenk an Ines übergeben habe, werde ich mit dem Chip am linken weiterlaufen und heute meinen 98. Marathon vollenden. Der Veranstalter hat es – wie schon 2006 – auch diesmal geschafft mich nicht für zwei Wettbewerbe zahlen zu lassen. Danke!

Für Ines geht es also um den reinen Trainingseffekt eines langen Laufes und für mich im Grunde um nicht mehr als anzukommen. Zwei Läufe fehlen noch, um mit 99 im Gepäck nach N.Y. zu reisen … Ja, klar, unter vier Stunden ist Pflicht, wie immer. Und sonst? Ganz ohne Schinderei? Wahrscheinlich bin ich einfach noch nicht alt genug, um den vermaledeiten Leistungsgedanken endgültig zu beerdigen (am besten bei einem Landschaftsmarathon, gaaaaanz tief drin im Wald). Jedenfalls habe ich mir auch für heute eine nette Bosheit ausgedacht: Die ersten 16 km bis zum Wechsel will ich möglichst schnell laufen, um dem Duo eine bessere Zeit zu sichern. Danach werde ich einen Gang zurückzuschalten. Das ist zwar einigermaßen sinnlos, weil Ines ihrem Trainingsplan gehorchen und langsam weiter laufen muss. Mir gibt die „Aufgabe“ jedoch einen zusätzlichen „Kick“ und um den geht es doch häufig beim Laufen – oder nicht?

So war’s erdacht. Und nun, nach einer knappen halben Laufstunde, passiere ich gerade die weiße Tafel mit der „6“. Sechs langweilige Kilometer Forchheimer Stadtgebiet, über die zu berichten sich nicht lohnt, liegen hinter mir. Mir ein Rätsel, wieso man den Start nicht auf die breite, ohnehin gesperrte Bundesstraße verlegt und dann in entgegen gesetzter Richtung läuft, um die hübsche Forchheimer Fußgängerzone und ein paar andere idyllische Gassen mitzunehmen. Für eine Organisation, die es schafft 30 Kilometer Bundesstraße einen Sonntag lang von früh bis abends zu blockieren, kann das nun wirklich kein Problem sein!?

Zu schaffen macht mir jedoch nicht die anfänglich langweilige Strecke – notfalls umkreise ich eine Telefonzelle (gibt’s die überhaupt noch?), wenn mir das zu einem Marathonsieg verhilft. Unzufrieden bin ich mit meiner Verfassung. Vom Start weg empfinden meine Beine das eingeschlagene Tempo von 5 min/km als „heftig“. Diese vergleichsweise lächerliche Pace liegt vielen Trainingsläufen zugrunde und treibt meinen Puls nicht mal über 75%. 4:50 min/km oder ein bisschen darunter hatte ich mir für heute erhofft. Bis Ebermannstadt könnte ich das sicher durchstehen, dann aber keine 26 Kilometer mehr dranhängen – nicht heute, das spüre ich nur zu deutlich. Dazu hätte es des leichten Anstieges, noch im Forchheimer Stadtteil Reuth, als Nachweis nicht bedurft. Während die letzten Häuser zurückbleiben suche ich nach Gründen für die bescheidene Tagesform und finde ein paar: Nicht wirklich effizientes Training seit dem Bergmarathon vor zwei Wochen (unter anderem zu viele Kilometer in dieser Woche); fehlende Motivation, da es letztlich um nichts geht; und meine im Sinkflug begriffene Formkurve, nachdem der Saisonhöhepunkt schon fast zwei Monate zurückliegt. In der Summe erklärt das einiges, aber nicht alles. Der Rest gibt – wie immer in solchen Situationen – Rätsel auf …

Ein Schild am Straßenrand begrüßt uns im Naturpark Fränkische Schweiz, im Tal der Wiesent. Das beschauliche Flüsschen – derzeit nicht auszumachen –, mündet in Höhe Forchheim in die Regnitz. „Tal“ klingt nach tiefem Geländeeinschnitt. Zwischen Forchheim und Ebermannstadt mäandert die Wiesent jedoch durch ein anfänglich flaches, kilometerbreites Becken, das weite Ausblicke erlaubt. Erst ab Ebermannstadt verengt sich das Tal, wird dann auch von höheren, teils felsigen Flanken begrenzt. Querab voraus, scheinbar mitten im landwirtschaftlich genutzten Niemandsland, taucht ein einsames Backsteingebäude auf. Die Aufschrift „Kraftwerk“ lässt vermuten, dass die Wiesent ganz in der Nähe vorbei fließt.

8 Kilometer gelaufen. Die nunmehr offene Landschaft samt hübscher Aussicht hat auch ihre Nachteile: Gegenwind bremst und lässt mich zuweilen frösteln. Entgegen ihres frühmorgendlichen Versprechens versteckt sich die Sonne mehr und mehr hinter Wolken. Ungewohnt sind die bunt bepflasterten Rücken vieler Läufer: Einzelläufer, die in Ebermannstadt den Wettkampf beenden, sind mit der Aufschrift „16 km“ gekennzeichnet, alle Duo-LäuferInnen mit dem Schriftzug „Team“. Blanke Rückenpartien der MarathonläuferInnen bilden eine Minderheit. Mir selbst standen verschiedene Versionen zur Wahl. Als besonderen Jux hatte ich sogar erwogen beide Startnummern zu tragen. Entschieden habe ich mich für die Duo-Startnummer plus Teamschild. Selten genug haben Ines und ich die Möglichkeit als Mannschaft gemeinsam zu laufen. Ergo liegt darauf der Fokus, wenn auch eher als symbolische Handlung, da wir uns beide auf dem jeweiligen Staffelabschnitt nicht verausgaben können.

12 Kilometer: Das breite Asphaltband der Bundestraße 470 bietet ideale Laufbedingungen. Im Feld klaffen bereits große Lücken. Ich kontrolliere an jeder Marke meine Geschwindigkeit. Nichts ändert sich, nichts geschieht. Weder um mich herum, noch in mir drin. Nach einer Stunde wird kein Knoten mehr platzen. Ich muss mich damit abfinden nach dem Wechsel mehr als nur einen Gang zurückzuschalten. Auch wenn ich es jetzt noch verdränge: Zum Ende hin werde ich für die 16 schnelleren Auftaktkilometer büßen!

Links vom Hang grüßen die ersten Häuser von „Ebs“, wie Einheimische das Städtchen Ebermannstadt salopp abkürzen. Noch knappe zwei Kilometer bis zum Wechsel und ich werde immer wieder von keuchenden Mitläufern überholt. Die „Team-“ und „16 km-Rücken“ ziehen ihren Endspurt an, auf den ich leider verzichten muss. Ein bisschen bin ich in Sorge, ob Ines sich rasch genug aus dem „Gefängnis“ Forchheim befreien konnte. Was, wenn sich einer der Streckenposten stur stellte? Die letzten paar hundert Meter: Ich laufe durchs spätere Ziel und streife die Schlaufe der Kamera vom Handgelenk. Die muss ich einstecken, um beim Wechsel die Hände frei zu haben. Stückweit voraus erkenne ich die Tankstelle, heute zur Wechselzone umfunktioniert. In der Einfahrt passiere ich die Matten der Zwischenzeitmessung und halte nach Ines Ausschau … Wo ist Ines? Nach einer Schrecksekunde hebt sie den Arm und tritt aus dem dicht stehenden Pulk der Wechselläufer auf mich zu. Rasch löse ich das Klettband vom Knöchel und montiere den Chip an ihrem. Noch ein Kuss nebst guten Wünschen und nach kaum einer Minute starten wir beide zur 26 km-Etappe. „Alles Gute Udo!“ Aus der Schar der Wechselläufer reckt sich mir ein Arm entgegen und ich erkenne eine Laufbekannte, die zuletzt beim Fürth Marathon vom Streckenrand grüßte. Ein flüchtiges „Hallo!“ und dann hält mich nichts mehr in „Ebs“.

Für ein, zwei Fotos von Ines laufe ich jeweils voraus und stelle mich an den Streckenrand. Letztmalig spiele ich mit dem schon mehrfach verworfenen Gedanken, den Marathon an ihrer Seite zu beenden. Doch erstens bliebe ich dann über meinem Minimalziel von vier Stunden. Außerdem bestünde die Gefahr, sie zu überzogenem Tempo zu animieren und damit das Trainingsziel eines langen Laufs zu verfehlen. Immerhin hat Ines bereits eine volle Marathontrainingswoche in den Beinen.

Gleich hinter Ebs beginnt die markanteste Steigung des ganzen Kurses, lang und durchaus fordernd. Natürlich ist das nichts im Vergleich zu den Allgäuer Bergen vor zwei Wochen, aber da war ich auch im Schneckentempo unterwegs. Trotz merklich reduzierter Geschwindigkeit, muss ich in der Steigung bereits ein bisschen kämpfen … Die 26 Kilometer der zweiten Etappe sind als Wendestrecke ausgelegt. Pylone auf dem Mittelstreifen separieren Hin- und Rückweg. Auf der Gegenfahrbahn zischen immer wieder vor den Läufern gestartete Skater und Handbiker in einem Affenzahn vorbei. Der erste Buckel ist besiegt und abwärts tanke ich wieder ein wenig Kraft nach. Tendenziell geht es bis zur Wende weiter bergauf, mal mehr, mal weniger. Wie erwartet hat sich das Tal verengt und verengt sich weiter, rücken die bewaldeten, von Felsen durchsetzten Talflanken näher heran.

Ich gebe mir kein Tempo vor, überlasse es meinem Körper eine Schrittfrequenz einzustellen, die er mutmaßlich bis zum Ende durchhalten kann. Körpereigene Automatik übernimmt das Regiment und so habe ich Muße zum Schauen, Fotografieren und Grübeln. Wieso kommen mir Strecke und Landschaft heute weniger „spannend“ vor, als die Bilder in meiner Erinnerung? Woran liegt es, dass die zweifelsfrei idyllischen Ansichten entlang der Route diesmal kein Feuer der Begeisterung entzünden? 2006, anlässlich meines damals zwölften Marathons, war das ganz anders. Fehlt nur der Reiz des Neuen oder sitzt heute auch mental was quer? Zwischen damals und heute liegen mehr als 85 Marathon- und Ultrastrecken. Unter ihnen einige, die mich mit grandiosen, unvergesslichen Eindrücken überhäuften, die mir herrliche Bilder ins Gedächtnis brannten, nie mehr zu löschen und jederzeit abrufbar. Stumpft einen das Wunderbare, Unvergleichliche, Fantastische ab? Macht es einen weniger empfänglich für die Schönheit nicht ganz so spektakulärer Natur?

Vorbei an der Ortschaft Streitberg und einer brasilianischen Musikgruppe. Brasilianisch klingen die von Trommeln, Trillerpfeifen und Tröten geformten Rhythmen, aber auch zwei kaffeebraune Paradiesvögel. Mit sichtlichem Vergnügen und heraus geputzt wie für den Karneval in Rio – also halbnackt – tanzen die Damen zu den hart geschlagenen Rhythmen …

Eine Burgruine, kurz nach der Halbmarathonzeitmessung, winkt herüber, will unbedingt fotografiert werden. Aber nicht ohne Läufer davor! Also stehenbleiben und warten bis einer vorbei rennt. Ein Schnappschuss und zur Sicherheit noch ein zweiter. Das zuletzt im Bild verewigte Model quittiert meine Aktivität mit sicht- und hörbarem Vergnügen. Was genau er mir zuruft verstehe ich leider mangels fränkischer Sprachkenntnisse nicht …

Noch eine Flussbiegung und noch eine, die Wiesent windet sich durch die Tallandschaft und die Bundesstraße tut es ihr gleich. Mal rauf, dann wieder etwas runter. Nur ein paar versprengte Skater begegnen uns Läufern noch, dafür in Höhe des Örtchens Muggendorf bereits der führende Marathoni. Ein dunkelhäutiger Athlet mit idealer Statur, dessen Füße den Asphalt nicht zu berühren scheinen. Beneidenswert!

Alles hätte ich in dem inzwischen recht engen Wiesenttal vermutet, aber keine Eisenbahn. Mit lautem Warnsignal und im Schneckentempo rattert ein Zug auf der anderen Talseite vorbei. Hinter der neuzeitlichen Diesellok hängen kleine, historische Wagen. Irgendwas stört mich an diesem Anblick. Ich empfinde eine deutliche Disharmonie, die sich jedoch nicht zur Erkenntnis verdichtet. An die Spitze der nur an Sonn- und Feiertagen verkehrenden „Dampfbahn Fränkische Schweiz“ gehört eine Dampflok, wie ich sie bei späteren Internetrecherchen zur Museumsbahn auf vielen Bildern sehe. Doch ausgerechnet heute ist laut Jahresfahrplan die Verwendung einer Diesellok vorgesehen :-( . Menschen winken aus den Abteilfenstern und von den Plattformen zwischen den Wagen herüber. Zwei Minuten später hört man nur noch das Getrappel von Läuferfüßen und zuweilen ein Rauschen aus Richtung Flussbett. Links, rechts, rauf, runter, rauf, Kilometer 24, 25, 26, 27 … Aus einer Gruppe von Läufern auf der Gegenseite grüßt Michael herüber, hinter ihm läuft Sonja. Meine Vereinskameraden werden sicher wieder eine gute Zeit um die 3:15 h realisieren.

„300 m Wende“ steht auf der Tafel und ich höre bereits Fetzen einer über Lautsprecher verbreiteten Moderation. Eine ganze Schwadron von Pylonen formt eine bequeme Wendeschleife, die Sekunden vor mir der „schnellste Beamte von Nürnberg“ passiert. So jedenfalls kommentiert der Sprecher die Vereinszugehörigkeit des Läufers. Vor ein paar Minuten überholte mich der Mann und auf seinem Rücken las ich: „Vorsicht schneller Beamter!“ Ein paar Sekunden später lege ich mich unter Aufsicht einer kleinen Zuschauerkolonie in die Wendekurve und trete den Rückweg an – nicht ohne Nennung von Startnummer, Name und Herkunft … Wird er sich in ein paar Minuten wundern? Wenn Ines hier vorbei kommt und er dasselbe Duo neuerlich den Zuschauern anpreist?

So frühzeitig habe ich Ines nicht erwartet! Bereits fünf Minuten nach dem Umkehrpunkt trabt sie mir lächelnd und ohne äußere Zeichen von Anstrengung entgegen. Rasch anhalten, ein Foto und abklatschen. „Du bist aber ganz schön flott unterwegs!“ gebe ich ihr noch mit auf den Weg. Ich registriere noch ihr Erstaunen, dann zieht jeder in seiner Richtung davon. Was als wenig originelles „Motivations-Sprüchelchen“ verkleidet daher kommt, bei ihr vielleicht auch so wirkt, meine ich ehrlich. Nach knapp der Hälfte ihrer Strecke liegt sie nicht mal zwei Kilometer hinter mir. Ergo muss sie schneller als 6:30 min/km unterwegs sein, dem für ihren langen Trainingslauf angemessenen Tempo. Oder habe ich mich in meinem nicht mehr taufrischen Oberstübchen einfach nur verrechnet?

Noch ein bekanntes Gesicht aus dem Forum: Roland trabt mir entgegen. Er begleitet heute einen blinden Läufer, ist mit ihm über eine Schlaufe verbunden. Erkennen, Grüßen, Passieren. Eine lange Wendestrecke hat immer ein bisschen was von „Parade abnehmen“. Nach und nach bekommt man alle MitläuferInnen zu sehen, studiert Aufmachung, Laufstil, Haltung und Gesichtsausdruck. In Letzterem spiegelt sich vieles, die ganze Skala zwischen Lust und Leid des Langstrecklers, von locker flockig bis schweißtriefend erschöpft. Ernst, Gleichgültigkeit, Schmerz, auch Dauerlächeln, alles zu beobachten. Und selbst? Auf den Läuferfotos, die über die Jahre von mir entstanden, blicke ich überwiegend ernst und gegen Ende eines Wettkampfs auch mal fix und fertig in die Laufwelt. Kraft, um die Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln anzuspannen, wende ich in der Regel nur auf, wenn Ines durch die Kameralinse schaut.

„Alles Gute für dich Udo! Auch in New York!“ Ich bedanke mich bei meiner Forumsbekannten – sie grüßte vorhin bereits im Wechselraum – und fühle mich auf angenehme Weise „begleitet“. Seit zehn Jahren tobe ich mich nun in der Marathonmanege aus und habe manchen (Selbst-) Dressurakt zu Wege gebracht. Eine Reihe von Menschen haben meinen Weg abschnittsweise verfolgt und nahmen Anteil. Ein gutes Gefühl, auch wenn es bedeutet mich bei keiner Laufveranstaltung im deutschsprachigen Raum daneben benehmen zu dürfen ;-)

Die plätschernd bis still dahin fließende Wiesent, bewaldete Talflanken mit schroff hervorlugenden Felsgestalten und grüne Auwiesen bilden die bereits bekannte Kulisse auf dem Rückweg. Nichts Sensationelles, aber durchaus hübsch anzuschauen. Ines wird mir später verraten, dass sie diese Abschnitte als beinahe langweilig empfand und froh über die Gesellschaft anderer Läufer war. Publikum trifft man in „freier Wildbahn“, oberhalb von Ebermannstadt, gleichermaßen selten wie Leoparden in der Serengeti. Auch in den wenigen Dörfern an der Strecke interessieren sich erstaunlich wenige Menschen für das Geschehen auf ihrer B 470. Möglicherweise spielt mir mein Gedächtnis einen Streich, aber von 2006 habe ich mehr applaudierendes Volk in Erinnerung. Eine Ausnahme bildet lediglich die Ortschaft Streitberg, etwa fünf Kilometer vor dem Ziel. Vielleicht weil ihr die Ehre des einzigen Schlenkers abseits der B 470 zuteilwird. Während ich von der Bundesstraße in Richtung Ortskern abbiege, höre ich einmal mehr Ines’ und meinen Namen, vorgestellt als „Duo aus Königsbrunn“. Ich kann den Moderator nicht sehen; doch wie er dieses „Königsbrunn“ ausspricht, scheint er in seiner Erinnerung zu graben, wo dieser Ort liegen könnte. Begleitet von Applaus und brasilianischen Rhythmen trabe ich … bergauf.

„Bergauf“ darfst du getrost als schamlose Übertreibung verstehen, zugleich aber auch als Hinweis, wie es um meine Verfassung bestellt sein muss. Schon vor sechs Jahren habe ich die „Schikane“ Streitberg nicht so recht einordnen können. Weder gibt es etwas von Bedeutung zu sehen, noch ist der minimale Umweg in Sachen „Füllkilometer“ erforderlich. Egal: Ums spitze Eck, wieder mit sachtem Gefälle Richtung Bundesstraße und schließlich auf dieser gen Finish …

Nun fehlen zum 98. Marathon noch vier Kilometer und der finale, sich laaang hinziehende Hügel vor Ebermannstadt. Ein Klacks für einen Ultraläufer – sollte man meinen. Allerdings verhält sich jede Laufdistanz gemäß meiner ganz persönlichen „Relativitätstheorie“. Wie in der Einsteinschen Lehre geht es um den Zusammenhang von Zeit und Raum – nur anders. Auf meine heutige Situation angewandt: Die ersten vier Kilometer in Forchheim waren ein Katzensprung, die letzten kommen mir endlos vor. Blöderweise behalte ich mit Prognosen zum Wettkampfverlauf meistens Recht. Der flotte 16 km-Auftakt macht sich bereits seit der Wende als zunehmende Ermüdung und mit schweren Beinen bemerkbar. Wirklich hart aber wird es jetzt. Also beißen! Wieder einmal, wie so oft. „Nimmst du einen Marathon überhaupt noch ernst?“ – Die Frage wurde mir schon häufiger gestellt und schießt mir jetzt durch den Kopf. Es ist nicht immer leicht dem Gegenüber verständlich zu machen – auch nicht, wenn es sich um einen Läufer handelt –, dass 42 Kilometer immer eine Herausforderung darstellen. Entweder laufe ich sie für meine Verhältnisse schnell oder mehrmals in kurzen zeitlichem Abständen, wobei ich nie erholt auf die Strecke gehe. Auch Fehleinschätzungen des aktuellen Leistungsvermögens unterlaufen mir. Oft sind sie unterschwellig lauerndem Ehrgeiz geschuldet und verführen mich zu Temposünden. So oder so: Die Schlusskilometer sind immer hart und werden es bleiben, auch wenn man mir weitere tausend Finishershirts überstreifen sollte …

Also kämpfen: Mehr und mehr lugt die Sonne durch die dünner werdende Wolkendecke, treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Der verdammte Hügel zieht sich und der ebenso verdammte Ehrgeiz lässt mich seit der Wende immer wieder auf die Uhr blicken. Jede Kalkulation ergibt dasselbe Resultat: Es wird eine Zeit um 3:43 h werden. ‚Also kommt’s auf eine Minute hin oder her nicht an!’ sage ich mir und … … stecke trotzdem nicht zurück. Warum nicht? Wenn ich das nur wüsste. Kopf heben und voraus schauen: Noch immer kein Ende des Buckels in Sicht. ‚Noch höchstens 10 Minuten leiden, dann geht’s dir gut. Also halt durch!’ Warum so ein Spruch Erleichterung bringt, vermag ich nicht zu sagen. Dennoch hilft er mir ein paar Sekunden. Wenigstens bis ich abermals nach vorne oben spähe und endlich das Ende des Leidens ausmachen kann: Der Buckel wird flacher …

Im Gefälle derselben Erhebung trabend durchschaue ich den Selbstbetrug: Abwärts leide ich anders, aber keines-weg-s weniger … Noch anderthalb Kilometer, den Kirchturm von „Ebs“ fest im Visier. ‚Gleich geschafft! Nicht mehr weit!’ Die ersten Häuser ziehen vorbei, dann und wann Zuschauer, auch Beifall. Noch 500 Meter bis zum Ziel – informiert eine Tafel. Eigentlich einerlei, ob da ein Schild steht und die letzten 500 Meter ankündigt oder nicht. Eigentlich. Tatsächlich mobilisiert es Kraft und dämpft das Wehklagen aller Organe, das außer mir selbst niemand hören kann. Dann sehe ich voraus das Marathontor und alles wird leichter. Noch 300 Meter – sagt eine weitere Tafel. Und wieder einmal erlebe ich, wie auf den letzten Metern alles, was vorher war, seine Bedeutung verliert. Ich laufe ins Ziel, erlebe den erlösenden, glücklichen Moment des Finishs und beschenke mich mit dem 98. Marathon, den niemand mehr ungeschehen machen kann …

Hätte nicht bereits der Zieleinlauf meine Stimmung auf „glücklich“ gedreht, das „Manna“ des Marathonläufers, köstlich kühl in der Kehle prickelnd, tut ein Übriges. Alkoholfreies Weizenbier. Nichts löscht besser den Durst und nichts hilft mir schneller zu regenerieren. Ein Becher, dann noch einer. Schließlich schlendere ich zur Gepäckdeponie, um mein durchnässtes Oberteil gegen trockene Sachen zu tauschen. Wenn Ines ins Ziel läuft, will ich zurück sein und mit der Kamera parat stehen. Ich schätze dafür mehr als 20 Minuten Zeit zu haben. … … … Zurück im Zielbereich, gerade mit einem neuen Becher Bier bewaffnet, falle ich dann aus allen Wolken: „Hallo mein Schatz!“ Das Lächeln meiner Frau steht in krassem Gegensatz zu meinem verdutzten Gesicht. Ines absolvierte die 26 Kilometer ihres langen Laufes in einer Pace von etwa 6:13 min/km, womit ich nach ihrer harten Trainingswoche nicht rechnete. Sie ist mit Verlauf und Ergebnis hoch zufrieden und hat keine ernsthaften Blessuren zu beklagen. Besser kann es kaum laufen …

 

Ergebnisse:

Team mixed: 4:02:01 h (Platz 63 von 84)

Marathon Udo: 3:42:53 h (Platz 96 von 213, Platz 6 von 18 in M55)

 

 

Fazit zur Veranstaltung

Planung und Durchführung der Veranstaltung lassen keine Wünsche offen. Die Organisation erwies sich einmal mehr als flexibel genug den Sonderwunsch „gleichzeitige Teilnahme am Team- und Einzelmarathon“ zu erfüllen. Der Lauf bietet jeden nur erdenklichen Service.

Ein Hoch auf die Feuerwehrmänner in Forchheim, die es ermöglichten Ines aus der zugeschnappten Falle „Straßensperrung“ zum Stadtausgang zu lotsen!

Die Strecke ist nicht spektakulär aber reizvoll für jeden der gerne laufend Landschaften erlebt. Die werden einem auf breitem Asphaltband der B 470 laufend, mithin Kraft sparend, serviert. Vor allem Marathondebütanten sollten jedoch den welligen Charakter des Kurses, insbesondere auf dem zweiten, 26 km langen Teil ab Ebermannstadt, nicht unterschätzen.

 

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