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Ein Ultra-Trainingswochenende der heftigen Art

Sonntag:

… 34 neue Feiertage …  –  Fürth Marathon 2012

Aufregend oder glanzvoll war sie nicht, die vormalige Fürther Marathonstrecke, dafür belohnte sie den Läufer auf einem 42 km-Rundkurs mit ein wenig von allem: Städtisches Flair, historische Straßenzüge, Einblicke ins Umland, Laufwege an Gewässerufern, grüne Lungen, Publikumsinseln in Vororten, hie und da ein optischer Leckerbissen. Mich überzeugte der ursprüngliche Kurs mit seinem eigenwilligen, nicht näher charakterisierbaren Charme. Was davon übrig ist, wird sich zeigen. 2012 hat man Strecke und Startzeit von Marathon und Halbmarathon zusammengelegt. Ihre zweite Hälfte bestreiten die Marathonis dann auf einer Viertelmarathonrunde, die sich zum größten Teil aus Abschnitten der Auftaktrunde zusammensetzt. Diverse Fürther Lokalitäten werde ich also dreimal zu sehen bekommen …

Kurz vor neun stehen wir uns gegenüber: Ines und Roxi jenseits, ich diesseits der Absperrung, bereit meinen 94. Marathon „einzufahren“. Uneingeweihte Beobachter könnten es für übertriebene Lässigkeit halten, wie ich mich mit den Ellbogen auf das Geländer stütze. Tatsächlich gibt diese Haltung nur meine „psychophysische Befindlichkeit“ an diesem Sonntagmorgen wieder. „Bist du denn wenigstens ein bisschen aufgeregt?“ fragt Ines. Wie sie es sagt, habe ich den Eindruck, dass sie nichts anderes als mein knappes und ehrliches „Nein!“ erwartet. – Was ist das für ein komischer Vogel? Mundfaul und offensichtlich gelangweilt auf eine läuferische Herausforderung reagierend, der die meisten ringsum seit Wochen entgegen fiebern. – Falsch! Weder bin ich gelangweilt, noch unterschätze ich die bevorstehende Aufgabe. Auf meine Art freue ich mich sogar darauf – Selbstverständlich! Wäre ich sonst hier? –, freilich ohne diese Empfindung in freudig erregtes Mienenspiel zu übersetzen. Dazu bin ich einfach zu … müde. „Müde“ trifft es eigentlich nicht, aber langatmige Umschreibungen sollen dir erspart bleiben. Meinen Zustand nachvollziehen kannst du eher, wenn ich über die Ursachen schreibe: In meinen Beinen stecken schon jetzt 160 Wochenkilometer und knapp 63 davon sammelte ich gestern beim 6-Stundenlauf in Fellbach bei Stuttgart.

Ganz recht: Nach diesem Marathon werde ich also mehr als 200 Wochenkilometer trainiert haben. Wofür? Da du diesen vielleicht als ersten meiner Laufberichte liest, will ich es wiederholen: In zwei Wochen steht mir als Saisonhöhepunkt ein 100-Kilometer-Lauf in Thüringen bevor. Darum kasteie ich mich auf diese, vielen Freizeitläufern unvorstellbare Art. Tatsächlich bildet der Fürth Marathon den Abschluss von fast fünf (!) Vorbereitungsmonaten, mit bisher schon vier Ultraläufen, sechs Marathons und zwei Halbmarathons. Heute setze ich den Schlusspunkt und gönne meinem Körper dann mit zwei Wochen Tapering die nötige Erholung.

Bis zum letzten Wochenende lief mein Training wie am Schnürchen. Ich konnte von Mal zu Mal weiter, auf Unterdistanzen zunehmend schneller und beides auch noch in immer kürzeren Abständen laufen. Möglich ist das, wenn die Fähigkeit des Organismus zur Erholung mit der Ausdauer wächst, sich also zeitlich verkürzt. Wenn mich jemand fragte „Wie läuft’s?“, dann antwortete ich wahr- und orakelhaft zugleich: „Es läuft gut! Eigentlich zu gut!“. Dann kam der hart und mit Ehrgeiz gelaufene Halbmarathon in Augsburg und seitdem habe ich ein nicht näher bestimmbares „Problem“ mit dem Sprunggelenk rechts. Oder vielleicht doch wieder mit der Achillessehne, falls die ihr Unwesen hinter einer verlagerten Symptomatik versteckt. Ein orthopädisches „Problem“ muss nicht notwendigerweise dort liegen, wo es weh tut. Sportler wissen, wovon ich rede …

Der Abschied von Ines ist demnach von vorsichtigem Optimismus (steckt bei mir in den Genen) und einem Schuss Skepsis geprägt. Nicht mehr als ein „Schuss“, weil es mir noch jedes Mal gelang einen Marathon zu Ende zu laufen – und das äußerst selten mit ernsthaften Schwierigkeiten. Dafür hat die Zeitnehmerfirma Schwierigkeiten mit der Startsequenz und mein „Lauf ins Ungewisse“ verzögert sich. Als „Lauf ins Ungewisse“ – Erfahrung hin, Optimismus her – begannen Marathons oder Ultras noch jedes Mal. Das meint nicht den gerade von Ines an die Wand gemalten größten, anzunehmenden Unfall eines Zeitnehmers: „Was für eine unvorstellbare Katastrophe, wenn die Zeitnehmung versagen würde!?“ Ich wusste vorher nie, was mich erwartet und wie es ausgeht. Lauflust oder Lauffrust? Grandioses Finish oder qualvolle Schlussetappe? Es gibt einfach zu viele innere und äußere Konditionen, die Marathonverlauf und -erlebnis beeinflussen: Wetter, Attraktivität und Härte der Strecke, Organisation, Zufälle unterwegs, Trainingszustand, Tagesform, taktisches Geschick oder Unvermögen und andere mehr …

Endlich, mit mehr als fünf Minuten Verspätung, wird die Startmusik eingespielt. Pianissimo zunächst, Klänge in Moll, rumorend auch, mit der Absicht Spannung in erwartungsvolle Läuferherzen zu pflanzen. „Klingt mehr nach Beerdigung …“ raune ich Ines zu, wohl wissend, dass schmissige, sich enthusiastisch im Fortissimo und Crescendo entladende Rhythmen nicht lange ausbleiben werden. Und so kommt es dann auch: Packend, aufwühlend, mitreißend. Tonale Vibration der Luft wandelt sich in innere, legt – erstaunlich genug – auch in meinem abgebrühten Läuferhirn einen Schalter um … Ich bin bereit. Ein letztes Winken in Richtung Ines, dann Countdown, Startschuss und mit kurzer Verzögerung der Schritt über die Startlinie. Ein erster Innenstadtschlenker bringt uns in Richtung Bahnhof. Die Beine senden „hölzerne“ Signale und meine Füße laufen ziemlich „unrund“. Ein asymmetrischer Kaltstart, mehr „eiern“, denn laufen. Im Grunde verständlich. Was mich dennoch etwas beunruhigt, sind die vom gestressten Fußknöchel ausgehenden Beschwerden. ‚Nicht gleich unken! Erst mal einlaufen!’ beruhige ich den inneren Hasenfuß. Jetzt vorbei am Fürther Bahnhofsgebäude, das mich unwillkürlich an deutsche Eisenbahngeschichte gemahnt – die erste Eisenbahnstrecke verlief zwischen Nürnberg und Fürth (allerdings lag der damals genutzte Bahnhof auf der Fürther Freiheit, also im Start-/Zielbereich).

Rechts Bahnhofsgelände, links Wohn- und Geschäftshäuser, wir trappeln um kurz nach neun durch ein ausgestorben wirkendes Fürther Viertel. Rasch wenden wir uns in nördliche Richtung, werden im Gefälle schneller, schlüpfen schließlich ins kühle Grün des Stadtparks. Auf schmalem, asphaltiertem Parkweg genieße ich einen knappen Kilometer entlang der Pegnitz. Ein Flüsschen, das Fürth mit dem größeren Nachbarn Nürnberg verbindet. Geografisch und auch sonst nicht das einzige, was die beiden Städte eint. Aber es besteht auch eine herzliche Abneigung zwischen den Ureinwohnern von „Nämmbärch“ und „Fädd“, die allenfalls eine friedliche Koexistenz, hingegen keine landsmannschaftliche Geschlossenheit zulässt. Die einen fühlen sich über-, die anderen unterlegen, würden das aber nie zugeben. Doch das unerhörte Geschehen der letzten Monate – du erinnerst dich? – scheint geeignet, die Gewichte beträchtlich zugunsten der Fürther zu verlagern …

Der Genuss im Park wird von Enge getrübt. Vor dem Brücklein über die Pegnitz muss ich gar drei Gänge zurückschalten, um meinen Vorderleuten nicht auf die Hacken zu treten. In Gedanken setze ich ein fettes Minuszeichen hinter die neue Streckenführung, weil sie den zeitgleichen Start von Halb- und Marathon, als Ursache der Stockungen, ermöglicht. Drüben, auf dem Weg durch die hübschen Pegnitzauen, ändert sich vorerst nichts. Entweder schwimmt man mit der Flut oder verschleudert Energie bei gewagten Überholmanövern auf unbefestigtem Streckenrand. Mir kann das egal sein, mein Ziel heißt „irgendwann unter vier Stunden ankommen“. Dabei spielen eine verlorene halbe Minute und der unstete, mehrmals gebrochene Laufrhythmus keine Rolle. Umso eifriger verlege ich mich aufs Sammeln von Fotos.

Höchste Zeit vom Wetter zu reden: Neuerlich habe ich Glück. Und Wetterglück bedeutet für mich laufen in Wärme und Sonnenschein. Gestern überwiegend Sonne und heute wieder. Überhaupt – den Wettermächten sei Dank – waren die äußeren Bedingungen in diesem Jahr bei allen Wettkämpfen zumindest befriedigend, meist sogar gut. „Gut“ natürlich in meinem, vielleicht nur von einer Minderheit geteilten Sinne. Auch heute sind Temperaturen deutlich über 20°C zu erwarten, weshalb ich mich an jeder Tränke bediene. Tränke kommt von „ertränken“. Die böse Stiefmutter des Fürth Marathons scheint ihre Mordtaktik von „vergifteter Apfel“ in ersäufen mit Wasser, Iso und später auch Cola geändert zu haben. Alle paar Minuten schallt mir vielstimmiges Wasser-Iso-Cola-Geplärre entgegen. Schlau, wie weiland die Sieben Zwerge, begnüge ich mich jeweils mit einem halbvollen Becherchen, meist aus der Hand eines Schneewittchens, das daraus sicher nicht getrunken hat …

Auf die Pegnitzauen folgt eine Runde durch den Stadtteil Ronhof. Dessen Seele ist grün-weiß und dem Fürther Stadtwappen mit dem Kleeblatt besonders verpflichtet. Im Ronhof residieren die Kleeblätter, jene Truppe, die den „Fädda“ dieser Tage vor Stolz fast platzen lässt. Nun ist der Groschen gefallen oder? Die Rede ist von der Spielvereinigung Greuther Fürth, dem dreimaligen deutschen Fußballmeister der frühen Kickerjahre 1914, 1926 und 1929 und frisch gebackenen Aufsteiger in die erste Fußballbundesliga! Schon in der Startaufstellung zum Marathon dominierte Grün, wurden Kleeblätter zur Schau gestellt. Einer rennt gar im Fan-Habit, Vereinstrikot plus -fahne, durch die Gegend. Aber es kommt noch dicker. Wer hier Marathon läuft, darf der Spielvereinigung Greuther Fürth auf einem Schlenker durch die Außenanlagen des Stadions Reverenz erweisen. Seit Barack Obamas „Yes we can“ vermochte keine Phrase pralles Selbstbewusstsein besser auszudrücken als diese, die da haushoch auf einem Plakat an der Stadionfassade prangt: „Fürth hat jetzt 34 neue Feiertage. 1. Liga wir sind dabei“. Will ja nicht Miesmachen, nur komm’ ich aus Augsburg und kenn’ mich mit so was aus: Wie viel ließ der „reale Spielbetrieb“ jenseits des Atlantiks noch von der Zielvorstellung des dunkelhäutigen Polit-Messias übrig? Kämpft der nicht gerade mit aller Macht und wenig Glanz gegen den Abstieg?

Der Rest im Fürther Außenbezirk sind Straßen. Solche auf denen wir rennen. Andere, wie die A 73, die wir überqueren, erst hin-, später wieder herüber. Der Rest ist auch gesichtslose Mischnutzung durch Gewerbe und Wohnbebauung, im Stimmungsvakuum mangels applaudierender Zaungäste erstickend und bar regionaler Eigentümlichkeiten. Wer hier desorientiert aufwacht, scheitert beim Versuch einer ungefähren, an Lokalkolorit orientierten Koordinatenbestimmung. Solche oder ähnliche „Füllkilometer“ kenne ich landauf, landab, von vielen City-Marathons. Es kann nur besser werden und wird es auch, sobald wir an den Rand der Pegnitzwiesen zurückkehren. „Besser“ gilt für meine Sinne: Intensiver Heuduft gemähter Feuchtwiesen kitzelt die Nase und massenhaft Grün verwöhnt die Augen. Hölzerne Hochwasserstege, Alleen und gepflegte Ufer verwirklichen eine parkähnliche Raumordnung. Das „Besser“ gilt nicht für die Laufbedingungen. Gut sieben Kilometer nach dem Start herrscht auf schmalen Fußwegen plötzlich wieder Enge. Selbstbestimmtes Laufen unmöglich! Das weckt durchaus Erinnerungen an den skandalösen Halbmarathonunfug in Ingolstadt, wo man, im Mittelfeld laufend, Platzkarten lösen musste.

Ende Gelände: Keine Raumnot mehr am jenseitigen Pegnitzufer, beim „Aufstieg“ Richtung Innenstadt. Wort und Gänsefüßchen sind mir wichtig, denn tatsächlich fordert die Route den Läufer mit Höhenmetern; allerdings nie steil oder dramatisch lange, um von einem anspruchsvollen Profil sprechen zu können. Kaum oben, tauchen wir auch schon wieder ab, ins Dunkel unterm Schienengewirr in Bahnhofsnähe. Der dunkle Schlund der Unterführung entlässt den Läuferstrom in gleißende Helligkeit, aufwärts, entlang eines menschenleeren Straßenzuges. Wo sind die Einwohner? Frühstück? Bett? Ausflug? Urlaub?

Zwei Kursänderungen später leisten wir Läufer uns selbst Gesellschaft. Hüben renne ich hin, drüben wetzen hunderte Schnellere her. Es hat der unergründlichen Weisheit des Streckenplaners gefallen uns mit einem Kilometer Wendeschleife zu beschenken. Vergeblich fahnde ich nach einem optischen „Zuckerl“, das mich diesen Schlenker verstehen macht. Vielleicht diese Kirche, deren Umrundung im Karree die Wende markiert? St. Paul belohnt zwar mit kühlem Schatten, wartet im Übrigen mit keiner erwähnenswert eindrucksvollen Kulisse auf. Zurück auf Gegenkurs, in angestrengte Gesichter gucken und sich darüber freuen, dass sooo viele hinter mir sind. Bitte nicht missverstehen! Nicht Beschwernis anderer nährt meine Freude, sondern allein die Erkenntnis, ungeachtet einer kriminellen Wochenkilometersumme und gestrigem 60-Kilometer-Trip, im ersten Felddrittel mithalten zu können. Die Wendeschleife erlaubt auch eine zeitliche Einordnung: Zu Anfang begegnete ich dem Pacemaker 3:45 h und jetzt, auf dem Rückweg, ungefähr an derselben Stelle, passiere ich das Rudel um die orange-farbenen Luftballons mit der 4:00 h.

Nächste Aufgabe: Rätseln über den Streckenverlauf im Südstadtpark. Der Südstadtpark entstand auf dem Gelände einer früheren Kaserne und begegnet mir so widersprüchlich wie vordem. Einerseits übersichtlich, weil junger Baumbestand den Blick nicht einengt, andererseits verwirrend, weil Flächen dominieren und nicht Wege. Abschneiden beinahe allerorten möglich, von unauffälliger Markierung und fehlender Trassierung kaum unterbunden. So was hasse ich! Ich will einen Marathon laufen, also 42.195 Meter weit (mindestens). Und nicht etwa 42.190 oder noch weniger. Und doch folgt man automatisch den Vorderleuten, die vermeintlich den rechten Kurs einschlagen. Jetzt bin ich vorbei am rostigen „Visionär“, einer aus Stahl dem menschlichen Kopf nachempfundenen Skulptur, über zwei Meter hoch, auf steinernem Sockel ruhend. „Irgendwie“ entlang einer Allee, mal über Asphalt, bald auf feinem Schotter, auch am grasigen Rand. Zickzack vor einem zentralen Gebäude; heute Musikschule, unverkennbar allerdings die frühere militärische Rolle als Stabsgebäude oder Ähnliches. Dann erwartet mich die „Grüne Halle“, deren gaststätten-ähnlichen Innenraum ich auf rotem Teppich durchquere. Ehedem von den amerikanischen Streitkräften als Sporthalle erbaut, vermarktet sich die „Grüne Halle“ jetzt als „Eventlocation“. Eine Zweckbestimmung, die sich, deren Vokabelarmut wegen, nun mal nicht in deutscher Sprache ausdrücken lässt …

Es folgt ein weiteres Stück scheinbar geschichtsfreies Fürth. Keine Historie aus Stein, wo doch eigentlich welche stehen sollte. Eben genau deshalb künden auch diese Straßen von der Vergangenheit. Von politischem Wahn und grenzenloser Menschenverachtung, von der daraus resultierenden Furie eines Krieges, die über Generationen Geschaffenes unwiederbringlich auslöschte.

Bergab, hinunter zum Fluss, auf S-förmig gewundenem Sträßchen, durch die Senke, stückweit parallel zu einem Hochwassersteg. Der Brückenschlag erfolgt über die Rednitz. – Hinweis für Ortsunkundige: Jetzt „Rednitz“ und nicht „Pegnitz“, wie vorhin! Ums fränkische Flussverwirrspiel zu komplettieren: Im Fürther Norden fließen Pegnitz und Rednitz zusammen und heißen ab dort „Regnitz“. Alles klar? – Jenseits der Rednitz erkämpfen wir uns Höhenmeter im Stadtteil Dambach. Natürlich ringe ich mit meiner Müdigkeit, empfinde das allerdings als nachrangige Bürde. Zunehmend Sorgen mache ich mir über meinen rechten Fuß. Die Beschwerden am Knöchel haben sich verstärkt, wobei ich die Formulierung „Es tut weh“ gedanklich noch nicht zulasse ... Noch immer findet die Veranstaltung unter größtmöglichem Ausschluss von Öffentlichkeit statt. Zufällige Passanten hin und wieder, selten Menschen, die wirklich der Läufer wegen auf der Straße sind. Doch auch mal eine Frau mit lärmender Ratsche in der Hand, deren Rasensprenger Abkühlung gewährt.

Kilometer 15 dann 16, jetzt in einem anderen Stadtteil, der gleich dem vorherigen nichts Bemerkenswertes offeriert, der einfach „abgelaufen“ werden will. Und hier, binnen weniger hundert Meter, schaltet der Schmerz am Fußknöchel um etliche Eskalationsstufen höher. Eine eiskalte Hand legt sich in meinen Nacken. Schließlich tut es so weh, dass ich Tempo rausnehmen und mich in einer Mischung aus Hinken und Traben, also völlig unrund, vorwärts bewege. Selbstverständlich gehe ich davon aus, dass das nicht besser wird, so lange ich laufe. Und deshalb scheint alles gefährdet, was ich mir in auszehrenden Trainingsmonaten erarbeitet habe. Wie soll ich in zwei Wochen mit dem Fuß einen 100er laufen? Es tut wirklich verdammt weh. Was ist das nur? Kilometer 17. Aussichtslos. Nicht mal die Hälfte gepackt. Frust, Verwirrung, Furcht, fast Panik, tausend flirrende Gedanken. Und Schmerz, bei jedem Aufsetzen des rechten Fußes. Irgendwie muss ich es noch bis zur Halbmarathonmarke im Start-/Zielbereich schaffen. Dort muss ich sowieso hin ... Ein Anflug von Resignation, denn das Unmögliche, bislang Undenkbare scheint mir in diesen Minuten unausweichlich: Abbrechen. Aufgeben.

Ich will die Bitterkeit der nächsten Kilometer nicht in Worte fassen. Einerseits mag ich mich nicht erinnern, andererseits durchdringt sie schon bald wieder Hoffnung. Ich eiere durch Fürth, bald hinunter in die Mulde der Rednitz, den Kopf voller Katastrophenszenarien, registriere jedoch ein zögerliches Abflauen des Schmerzes. Das gibt mir noch mehr Rätsel auf als sein Anschwellen. Aber medizinische Wissenschaft lehrt, dass Schmerz keine Gewöhnung kennt. Also hat sich etwas geändert, wenn er nachlässt. Nur was? Ich kämpfe mich durch den idyllischen Teil von Fürth, entlang des Rednitzufers, dann rauf in die romantische Altstadt. In Sätze verkapselte hübsche Bilder mag ich dir im Augenblick nicht anbieten, weil sie mir gerade völlig am A… vorbei gehen. Außer meinem Fuß und der gleich anstehenden Entscheidung ist nichts mehr wichtig. Nicht weniger als mein Saisonhöhepunkt und das restliche Laufjahr stehen hier auf dem Spiel. Dem Kopfsteinpflaster in der Altstadt versuche ich so gut es geht auszuweichen. Warum bessert sich das jetzt? So nachhaltig jedenfalls, dass ich sogar den Eindruck habe wieder rund zu laufen. Und: Wenn ich nicht nach dem Halbmarathon abbreche, wird es sich dann wieder verschlimmern?

Die Fürther Freiheit liegt hinter mir. Bin zum zweiten Mal vorbei am Bahnhof und auf der ersten von zwei 10,5-Kilometerrunden. Nur wer mich nicht kennt, wird sich wundern, dass ich weitermache. Aber es geht wieder, es „verläuft“ sich und zum Abbruch müsste „Es“ mich letztlich zwingen. Ich hoffe und vertraue darauf, dass der Spuk nicht wiederkehrt. Tempo und Laufstil scheinen wieder wie vordem. Dass zumindest Letzterer noch unter dem Schmerzgeschehen leidet, verdeutlicht mir Ines’ Frage nach dem Lauf: „Hattest du Schmerzen zur Halbzeit?“ Sie hat sich ein bisschen versteckt, etwa einen Kilometer hinter dem Bahnhof, schießt Fotos aus erhöhter Position. Ich sehe sie nicht, aber so kann mich auch Roxi nicht erkennen. Die Fürther der Umgebung dürfen ihre Sonntagsruhe folglich unbelästigt von Hundegebell genießen.

„Hallo Udo! Hallo! …“ Ich nehme sie erst nicht wahr, bin völlig in mir versunken, spüre noch immer dem hinterher, was da unten rechts in mir passiert. „Hallo Udo! Kennst du mich noch?“ Dem Grübeln entrissen, mit einem bekannten, weiblichen Gesicht konfrontiert, fällt mir alles ein, vor allem ihre läuferische (Kranken-) Geschichte, aber – wie so oft – nicht das Nächstliegende, der Name. „Klar kenne ich dich! Hallo!“ werde ich noch los und bin auch schon vorbei. Vorbei heißt in diesem Fall auf dem Weg hinunter zur Pegnitz und zum zweiten Mal in den Stadtpark. Diesmal nur ein kurzes, kühles Stück entlang der Pegnitz, dann früher über den Fluss und sofort nach rechts am jenseitigen Ufer entlang. Zweihundert Meter weiter höre ich das „Wort zum Sonntag“. Im Schatten unter Bäumen predigt einer. Worte schlüpfen wie geölt aus seinem Mund. Kluge, perfekte Sätze, von einer wohlklingenden Stimme geformt. Suggestives, pastorales Argumentieren, das sofort meinen Argwohn weckt. Wer so redet, will mich zu was bewegen. Worauf er abzielt kann ich mir nicht zusammenreimen, dazu ist der gehörte Ausschnitt zu kurz. Er verweist auf die vorbeiziehenden Läufer, ihre Anstrengungen über viele Wochen, Monate, Jahre und vergleicht dieses Mühen mit dem Leben an sich. Was will der? Auf die Brücke, zurück über die Pegnitz und die Stimme des Verführers bleibt zurück, gerinnt zu unverständlichem Murmeln …

Keine fünf Minuten sind vergangen, dass ich diese Straße abwärts rannte (eierte?). Jetzt wieder rauf, dann winkend vorbei an der Bekannten, deren Namen sich meinem Bewusstsein nach wie vor verweigert. „Halt durch Udo!“ Der Ansporn tut mir einfach gut. Möglicherweise kommt mir deshalb nicht der Gedanke, die Formulierung „halt durch“ könnte meinem „gestörten“ Laufstil geschuldet sein. Zum zweiten Mal unterm Gleisbett hindurch, erst lange dunkel, dann ins grelle Licht. Hinauf mit inzwischen trockenem Mund, dennoch die Sonne willkommen heißend. Zum zweiten Mal die Wendeschleife, rund um die Kirche. Und wieder Gesichter, aus denen Anstrengung redet. Fürth rechts, Fürth links, bereits bekannt, so auch der Südstadtpark. Nur diesmal, der Hauptstreitmacht von Halbmarathonis beraubt, bin ich fast allein unterwegs und suche nach Markierungen. Unzweideutige, rasch erfassbare Wegweisung gibt es kaum, weder vor, noch hinterm rostigen Kopf. Also nehme ich den längsten aller möglichen Wege. Vorbei an der Musikschule, wo sich ein Orchester um klangvolle Untermalung bemüht …

… Musik und Tanz gibt es entlang der Strecke zuhauf. Von A wie Anfänger, über B wie Blaskapelle, bis X wie Xylophon ist alles vertreten. Da wird ge-cheerleadert, Rock’n Roll und Boogie Woogie getanzt und drehen sich Gruppen in Formation. Für wen das alles? Als Läufer habe ich kaum etwas davon, selbst wenn mir der Rhythmus aufmunternd in die Beine fährt. Ein paar Sekunden und alles ist – ich bin – vorbei. Fürs Publikum an Streckenrand? Nur um wenige der Darbietungen scharen sich ein paar Interessierte. Ach egal. Wer musiziert und tanzt, tut das zunächst und vor allem für sich selbst …

Hinunter ins Rednitztal und diesmal nicht am Gegenhang hinauf. Stattdessen bleiben wir in der grünen Mulde, unterbrechen die stadtnahe Landpartie nur für eine Stippvisite Richtung City. Die hat’s dafür in sich, jedenfalls für meine müden Beine und in dieser Phase des Marathons. Alsbald wieder runter zum Fluss, unter der Eisenbahnbrücke hindurch und entlang der wirklich wunderschönen Flusspromenade. Die endet kurz vor der Altstadt, deren malerischer Fachwerkbebauung ich jetzt mehr Aufmerksamkeit schenke. Mein Fuß spielt wieder mit, wieso auch immer. Südamerikanische Rhythmen locken auf den romantischen Marktplatz, geben Geleit in die sich anschließende Gustavstraße mit ihren schön restaurierten Häusern. Hier reiht sich Lokal an Lokal. Weiter zum Rathaus, durch dessen Tor und Hof wir zum Anfang der Fußgängerzone gelangen. Hier steht Ines, die ich wieder nicht bemerkt hätte, wäre ich nicht, einen Becher Iso leerend, just an dieser Stelle ein paar Meter gegangen. Einen stillen Abgang ohne Zuwinken und Hallo bringe ich nicht über mich. Selbst schuld, nun verfolgt mich Roxis sehnsüchtiges Gebell bis ans Ende der Fußgängerzone …

Durch ein emsig mit Pompons raschelndes Cheerleader-Spalier lasse ich den Zieleinlauf zum zweiten Mal hinter mir. Gerade redet der Moderator von der immensen Willensanstrengung, die es Läufer kostet nach mehr als 30 Kilometern noch einmal vom Ziel wegzulaufen. Für viele trifft das wahrscheinlich zu. Was mich angeht, so erinnere ich mich an keinen Fall, wo es mir schwer gefallen wäre, am Ende einer Runde zu einer weiteren aufzubrechen. Auch in meinen ersten Jahren als Marathonläufer war das nicht anders. An einen Marathon wage ich mich nur mit ausreichend trainierter Ausdauer. Der Rest ist Sache des Kopfes: An diesem Tag will ich den Marathon, keine Distanz darunter. Und deshalb bedeutet der Zielbereich beim mehrfachen Durchlauf für mich nicht mehr als den Einstieg in die nächste Runde.

Merkwürdig und auch wieder nicht: Die verbleibenden 10 Kilometer gehen mir locker vom Fuß. Der wird nicht noch mal rumzicken, das fühle ich und die Ermattung im ganzen Körper ist ein guter, alter, niemals hinterhältiger Bekannter. Wenn es sich so anfühlt, wie es sich gegenwärtig anfühlt, dann kann ich noch etliche Kilometer traben. Ich mache mir mehr Gedanken um morgen. Morgen wird sich der Fuß anfühlen wie ein Holzklotz und auch ungefähr so beweglich sein. Also Ruhetag oder doch ein paar Kilometer Bewegungstherapie zum rascheren Regenerieren? Zum dritten mal runter in den Stadtpark, laufen an der Pegnitz, zum anderen Ufer übersetzen und in Gegenrichtung zurück. Kein Prediger mehr weit und breit. Rauf zur Stadt, runter in den dunklen Hades in Bahnhofsnähe, hinaus ins Licht und auf die Wendestrecke. Zu Beginn des Wendeabschnitts streift mein Blick eine Läuferin am Straßenrand. Gerade hinkt sie, auf ihren Begleiter gestützt, zum Bürgersteig und weint hemmungslos. Ob vor Schmerz oder brennender Enttäuschung, vielleicht auch wegen beidem, wer weiß. Unwillkürlich erinnere ich mich an meine düstere Weltuntergangsstimmung kurz hinter Kilometer 17 …

Zum dritten Mal ums Kirchenschiff und wieder zurück. Die Verletzte sitzt jetzt im Schatten unter Sträuchern, betreut von ihrem Laufkameraden und ein Polizist holt offensichtlich Hilfe per Sprechfunk. Das war’s dann wohl. Ihr Marathontag endet vermutlich in der Ambulanz irgendeines Knochendoktors. Mist. Ganz großer Mist. Ich brauche ein paar Minuten um die Beklemmung loszuwerden. Aber glücklicherweise laufe ich und Laufen war noch immer die beste Pille gegen jede Art von Unbehagen.

Ein letztes Mal vorbei am „Visionär“, dem vom Künstler so getauften Schrott in Kopfform. Betont weite Wege gehend, wie übrigens überall auf der Strecke, durchstreife ich den Südstadtpark. Ich will in New York meinen hundertsten Marathon laufen. Hundert mal Marathon oder weiter. Nicht auszudenken, wenn ich zwischen Manhattans Wolkenkratzern und mit Ines an meiner Seite ständig dächte: Eigentlich ist das erst der Neunundneunzigste, denn bei dem „Ding“ in Fürth hast du doch ständig abgekürzt …

Ein letztes mal rein in die Grüne Halle. Die wird, wie zuvor, von einem DJ mit Techno beschallt. Kennst du den Liedtext von Klaus Lage?

      „Tausendmal berührt, tausendmal ist nix passiert
       Tausend und eine Nacht, und es hat ZOOM gemacht!!“

Bin zwar nur zweimal hier durch und nur zweimal ist „nix passiert“, aber trotzdem macht es jetzt beim dritten Mal schon ordentlich „ZOOM“. Keine Ahnung wie mir das passieren kann, welche Synapsen sich da kurzschließen und vor allem wieso. Kein weher Fuß hindert mich und keine noch so fortgeschrittene Erschöpfung. Harte Techno-Beats hämmern aus den Lautsprechern und mein Körper nimmt den Rhythmus auf, wehrlos, wie hypnotisiert. Halb laufend, halb springend, von zuckenden Armen unterstützt tanze ich über den roten Teppich in Richtung Ausgang. Was ich dabei empfinde, entzieht sich jeder Beschreibung, kann man nur mit einem Wort zusammenfassen: Glück.

Ich habe keine negativen Empfindungen mehr. Genauer: Was ich spüre ist richtig und deshalb positiv. Zum Beispiel bin ich hundemüde. Sei’s drum, das muss so sein. Meine Laufwerkzeuge fühlen sich gestresst und zerschlagen an. Ja und? Wäre es nach 200 Wochenkilometern anders, dann müsste ich mir vorwerfen nicht genug trainiert zu haben. Alles ist gut. Noch einmal runter ins Rednitztal, Wiesen, Eisenbahnbrücke, Promenade. Schön! Zum dritten Mal Altstadt, jetzt auf zentnerschweren Beinen. Egal. Noch mal durch’s Rathaus. In Formation tanzende, kostümierte Menschen am Eingang der Fußgängerzone. Toll! Meter um Meter vorwärts im Gefühl des sicheren Sieges, dann nach links in Richtung Ziel, noch ein paar hundert Meter. Da steht Ines, fotografiert, winkt … Herrlich! Dann die letzten Meter, applaudierendes Publikum, Cheerleader, Musik … das Ziel. Fantastisch!

Ergebnis: 3:51:22 h, Platz 139 von 397, Platz 13 von 29 in M55

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Organisation der Großveranstaltung funktionierte reibungslos. Auch der Kleinbus-Service zum Duschen klappte ohne Verzögerung. Einziger, doch recht gravierender Minuspunkt in diesem Zusammenhang: Eiskalte Duschen! An einem kalten, regnerischen Tag, hätte das nicht passieren dürfen.

Auf der Strecke wechseln Licht und Schatten. Bei mir überwogen die lichten Momente, weil es um nichts als Training ging. Aus diesem Grund machten mir die beschriebenen engen Kilometer auch wenig aus. Wer um eine persönliche Bestzeit im mittleren Drittel des Feldes kämpft, wird dagegen schimpfen. Dass ein Großteil der Strecke dreimal zu durchlaufen war, empfand ich gleichfalls als positiv, weil es sich hauptsächlich um attraktive Abschnitte handelte, die auch im dritten Umlauf nicht langweilig werden.

Mit geringen Abstrichen kann man den Fürth Marathon empfehlen, mit ein paar mehr, wegen der vielen Anstiege, auch Marathoneinsteigern.

 

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