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Wie lang ist ein langer Lauf?  –  Ein Trainingsexperiment in zwei Teilen

Erste Etappe:

„Wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leisten.“  –  Hollenlauf 67 km, 2012

(Titelzitat aus „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller)

Wann war eine Nacht eine „miese Nacht“? Wenn man unruhig schläft, mehrmals aufwacht? Sich erhitzt mit schweißfeuchtem T-Shirt erhebt? Um vier Uhr früh – also zur Unzeit – aus der Koje muss? Bei mir kommt alles zusammen. Binnen zwanzig Minuten hüpfe ich ins bereitliegende Laufkostüm, erledige eine Andeutung von Morgentoilette, raffe meine Siebensachen zusammen und schleiche wie ein Dieb aus der Pension. Die liegt in Bödefeld. Du kennst das Naturdorf Bödefeld mit seinen 1.200 Einwohnern nicht? Liegt in Nordrhein-Westfalen, im Hochsauerlandkreis, etwa mittig im Geodreieck, das die Touristenstädtchen Winterberg, Meschede und Schmallenberg aufspannen. Selbst schuld, wenn du noch nie hier warst. In Bödefeld kann man Schritte auf geweihter Erde tun, immerhin war Mutter Theresa schon mal hier, 1985, woran ein Denkmal im Hof der Grundschule erinnert.

Am Samstagmorgen, kurz vor halb sieben, in ebendiesem Schulhof, inmitten von 180 laufwilligen (?) Ultras, spüre ich nichts vom „heiligen Hauch der Geschichte“. Es sind keine spirituellen Schauer, die mich durcheilen, sie rühren von frühmorgendlicher Kühle (10°C) an nackten Armen und Beinen. Der weitgehend wolkenfreie Himmel und die Aussicht auf reichlich Höhenmeter haben mich auf das zunächst geplante Langarm-Shirt verzichten lassen. Mir wird schon warm werden. Ohne Fleece-Handschuhe mag ich die „Reise“ allerdings nicht antreten, kann sie später in den Hosenbund klemmen.

Wie unbeteiligt warte ich dem „Unvermeidlichen“ entgegen, lausche den Einweisungen des Veranstalters zur Streckenmarkierung. Pfeile auf dem Boden, gelb-weiß lackierte Pfähle, Flatterband schwarz-gelb etwa alle 500 Meter; Verlaufen scheint ausgeschlossen. ‚So was ist einfach nicht mein Ding’ denkt es unwach-lauffaul in mir drin. „So was“ meint zu nachtschlafener Zeit aufstehen, im Status des Untoten mit zig anderen gemeinschaftlich frühstücken, jetzt hier rum stehen und gleich laufen. „Wir achten auf umweltverträgliche Durchführung der Veranstaltung“ meint der Cheforganisator gerade, „Die Sprühfarbe für die Pfeile ist biologisch abbaubar!“ Anders als meine Befürchtungen, die sind nur physisch, mittels Erleben und Erfolg „abbaubar“, der am Ende meines Trainingsexperiments stehen soll.

Zwei Marathons an zwei aufeinander folgenden Tagen habe ich mir schon ein paar Mal zugemutet. Aber bislang nie den Kraftakt eines 67-Kilometer-Ultra, gespickt mit 1.533 Höhenmetern, dem tags drauf ein Marathon folgt – manche meinten scherzhaft: Zum Auslaufen. Vor ein paar Wochen, bei der Planung am Schreibtisch, schien mir das machbar. Doch je näher der Startschuss rückt, umso vermessener scheint mir die Idee. Das hat was von Selbstüberhebung, vom Turmbau zu Babel und von Ikarus. Laufe ich Gefahr den Legenden menschlichen Scheiterns mein reales, sportliches folgen zu lassen? – Dennoch: Ich brauche die vielen Höhen- und noch mehr Kilometer beider Läufe. Zum Fixpunkt dieses Sommers, dem Thüringen Ultra am 7. Juli (100 Kilometer und über 2.100 Höhenmeter) will ich in bestmöglicher Form antreten. Bislang läuft es gut, bei wachsender Ausdauer und keinerlei gesundheitlichen Zäsuren im Trainingsgeschehen. Es läuft sogar sehr gut und vielleicht habe ich gerade deswegen die Hose voll …

Seit kurzem trabt das aufgelockerte Läuferfeld sanft bergwärts, zunächst durch den malerischen, von Fachwerkhäusern geprägten Bödefelder Ortskern, danach auf der Straße Richtung Talschluss. Um mich her Männer und Frauen dreier Wettbewerbe: 101 Kilometer, 67 Kilometer-Volkslauf* und die Teilnehmer an der Deutschen Meisterschaft im Ultratrail, gleichfalls auf dem 67 Kilometer-Kurs ausgetragen. Mit einiger Überwindung und aus purer Vernunft habe ich keine Meldung für die von der DUV (Deutsche Ultramarathon Vereinigung) ausgerichtete Meisterschaft abgegeben, um jeden Tempodruck von mir zu nehmen. Ich werde heute jede Laufzeit akzeptieren! Mindestens sieben Stunden scheinen realistisch, zumal die Streckenbeschreibung mit heftigen Prüfungen droht: Steile An- und Abstiege, Baumwurzeln, unbefestigte Wege und anderes mehr. Ergiebige Regengüsse, heute Nacht und an den Tagen zuvor, werden den Boden zudem aufgeweicht haben – ein Grund mehr in Trail-Schuhen zu laufen.

*) Wie leicht man sich doch in der Wahl eines Wortes vergreifen kann: 67 km-Volkslauf, als wenn das „Volk“ im Allgemeinen in der Lage wäre 67 km weit zu laufen …

Nach anderthalb Kilometern verzweigen wir auf einen befestigten Waldweg, werden vom Laubwald regelrecht verschluckt. Frisches, helles Frühlingsgrün macht Laune auf Laufen (Ärgerliche Randnotiz meines morgenmuffeligen Selbst: „So früh schon gute Laune!?“). Jetzt gilt es, sich die ersten 200 Höhenmeter am Stück zu erarbeiten, stetig, sanft, mit noch unverbrauchten Beinen. Ein beträchtlicher Teil der Läufer begnügt sich bereits jetzt mit zügigem Gehen. Gehen? So lange Kraft und Gelände Laufen zulassen? Für einen Sturkopf wie mich undenkbar, im Übrigen ein Verstoß gegen private, nur für mich geltende Wettkampfregeln. Zwanzig Minuten Einlaufen im Wald, fortwährend hinan, gelegentlich etwas anspruchsvoller, jedoch nie wirklich steil. Der Pulsmesser meldet recht beruhigende Werte, tickert meist bei etwa 75 %.

Dann endet die Steigung und mit einem Mal bleibt der Wald zurück, öffnet sich ein Rundblick über die bewaldeten Höhen des Sauerlandes. Doch die ergreifend schöne Aussicht wird jäh von einem nahen, ziemlich hässlichen Bildelement sabotiert. Was für ein krasser Gegensatz! Gerade so, als hätte ein Maler Himmel und Hölle, Gut und Böse, in einem Werk zweifarbig-flächig, hart kontrastierend nebeneinander geklatscht. Meine Füße tappen auf blanker Erde, die hangauf- und abwärts die ganze Talseite bedeckt. Blitzartig ist mir klar wer diese Wüstenei angerichtet hat: Im Ursprung ein Werk von Kyrill, Emma oder einer anderen wilden Furie**, verheerende Megastürme, die hier hektarweise Stämme knickten. Die betroffenen Flächen wurden geräumt, bearbeitet und werden nun mühevoll wieder aufgeforstet.

**) Mir ist durchaus bewusst, dass die Kausalkette höchst wahrscheinlich vor Kyrill und Konsorten beginnt …

Ich verliere Meter um Meter auf durchwegs brauchbarem Geläuf, hole dabei Sekunde für Sekunde auf. In rascher Folge wechseln die Bilder, zu schnell, um sich die vielen Gemälde in Grün, massenhaft Naturschönheiten, einzuprägen. Die Sonne hat sich endlich gegen zähe, tief hängende Wolken durchgesetzt. Binnen weniger Minuten schwimme ich im eigenen Saft und bald gibt es auf der Welt nichts Überflüssigeres als die Fleece-Pelle an meinen Händen. Kein Problem. Zwischen Kilometer 13 und 14 endet die Auftaktschleife in Bödefeld. Dann deponiere ich die Handschuhe an markanter Stelle. Von einem Läuferfeld kann man schon lange nicht mehr sprechen. Nach nur 8, 9 Kilometern klaffen riesige Lücken zwischen den Teilnehmern. Ich bin mit meinen Gedanken allein – wie so oft und wie ich es mag. Vielleicht quäle ich mich deshalb über elend lange Ultrastrecken, weil man da so schön lange und so schön ungestört seinen Gedanken nachhängen kann. Die drehen heute allerdings die immer gleiche Leier: Kann das gut gehen? Pack ich den Hollenlauf? Und was wird morgen?

Auf dem Weg durch die Wiesen vor Bödefeld, immer noch in Abwärtsbewegung begriffen, regiert Ratlosigkeit. Wo sich längst ein Gefühl für die Tagesform eingestellt haben sollte, herrscht gähnende Leere. „Gähnend“ kannst du wörtlich nehmen. Nach mehr als einer Stunde und einem kapitalen Buckel „schläft“ ein Teil von mir – nicht greif- und nicht bestimmbar – immer noch. Dabei ist meine Stimmung ganz okay. Nach vielen langen und längsten Wettkämpfen scheint gewiss: Gute Lauflaune und mieses Wetter gehen bei mir kaum zusammen. Dagegen verleit Sonne selbst heftigen Bedenken noch einen optimistischen Nachhall. In Sonne und Wärme kann ich zwar körperlich schlecht drauf sein, mich aber nicht schlecht fühlen …

Bödefeld: Kaum rein gerannt, trabe ich schon wieder raus, halte Ausschau nach einem geeigneten Platz für meine Handschuhe. Straßenbrücke, darunter drei landwirtschaftliche Anhänger; auf dem Rad des mittleren – den Bauer Bolle hoffentlich heute nicht bewegen wird – dürfen meine Handschuhe tun, was mir nicht vergönnt war: Ausschlafen. Während die letzten Häuser und Höfe von Bödefeld zurückbleiben, begrüße ich die Morgensonne. In ein paar Stunden wird mein Jubel verstummen – ich weiß. Doch jetzt scheint sie mir frontal ins Gesicht und wärmt mich durch. Ein wohliges Empfinden, das so gar nicht zu meiner sonstigen körperlichen Verfassung passen will. Egal. Den Fotografen in mir beschenkt das Sonnenlicht mit herrlichen Gegenlichtimpressionen, die er – steter Wermutstropfen – mit schlichter Digicam nur unzulänglich einfangen kann. Eine Weile genieße ich das beinahe unangestrengte Traben inmitten sattgrüner Wiesen.

Ich kämpfe im längsten Anstieg des Kurses, insgesamt 350 Höhenmeter, verteilt auf sechs Kilometer. Nach den Wiesen umfängt mich Wald, Wald, Wald und dann wieder … Wald. Hart wird es nicht, nicht mal ansatzweise. Dauerhaft moderate Steigung und fester Untergrund. Ich justiere ein Tempo, das ich stundenlang durchhalten könnte. Fast lasse ich mich von ausbleibenden Schwierigkeiten und bestem Laufwetter einlullen. Aber nur fast: ‚Wer weiß, was noch kommt!? Lass dir nicht einfallen aufs Tempo zu drücken!’ – Kurzer Halt am Verpflegungspunkt „Nasse Wiese“, Kilometer 19,5. Mein Chip wird eingescannt und eine Zwischenzeit zugeordnet: Laufzeit: 1:57:39 / Tempo: 6:02 min/km. Gleichzeitig fülle ich meinen Magen zum wiederholten Mal mit reichlich Flüssigkeit. Genau genommen mit drei Flüssigkeiten: Je ein Becher Malzbier, Cola und Iso. Ich muss verrückt sein! Hat je ein Chemiker diese drei Substanzen im Labor zusammen geschüttet? Und wichtiger: Hat er das überlebt oder wurden seine Atome infolge unvermeidlicher Explosion fein an den Laborwänden verteilt? Aber was soll ich machen: Ich brauche Flüssigkeit, ein Quantum Kohlenhydrate und will mir nicht literweise Iso-Chemie einverleiben. Experiment im Experiment: Mal sehen, ob ich die Papiertaschentücher in der Handgelenkstasche brauchen werde …

Kaum oben, bewege ich mich schon wieder runter. Entgegen sonstiger Gepflogenheiten blase ich nun nicht zum Halali der Zeitenjagd. Sch… auf ein paar gewonnene Sekunden, lieber abwärts regenerieren. Kein Zweifel: So „beschaulich“ kann’s nicht ewig weiter gehen, das wäre zu einfach. Wo bleiben die steilen Stücke, wo die Wurzeln und sonstigen Gemeinheiten? Ein paar Minuten später bekomme ich einen Vorgeschmack: Der vom Regen aufgeweichte Weg wird schmierig, glitschig und an manchen Stellen zwingen mich breite Pfützen zu Ausweichmanövern im angrenzenden Wald. Unangenehm aber nicht weiter dramatisch. Wieder rauf, neuerlich runter, unentwegt, typisch für Bergland …

… und ich bin müde. Wodurch? Bisherige Distanz und defensive Tempowahl rechtfertigen das nicht. Wie konnte ich mich ohne Anpassung nach wenigstens zwei, drei Trainings-Bergläufen in diese Gegend wagen? Mea culpa, mea maxima culpa. Einsicht und Reue. Notwendige Grundlage künftiger Entscheidungen, hier aber nicht „zielführend“. Kampfgeist ist jetzt gefragt. ‚Ich bringe das hier mit Anstand zu Ende, so viel ist sicher!!’ – ‚Und was machst du morgen früh in Kassel? Da kriegst du kein Bein mehr hoch! Wetten?’ Vorm Start nicht mehr als ein düsteres Raunen meldet sich der Mahner nun deutlich vernehmbar zu Wort. Um Argumente ist er nicht verlegen, schließlich wohnt der Kerl im selben Körper. Mit der Versicherung weiterhin „defensiv“ zu laufen bringe ich den Typ einstweilen zum Schweigen.

Eine Begleitradlerin kämpft gegen die Tücken der Strecke. Keine Ahnung zu wem sie gehört. Wenn ich sie sichte – bergauf habe ich die Nase vorn, bergab rattert sie jedes Mal vorbei – ist sie ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Interessiert beobachte ich ihr Ringen mit Mountainbike und Gelände. Irgendwie erinnert sie mich an eine Labormaus im Experiment, an deren wachsende Verzweiflung und nutzlosen Versuch zu entkommen. Blonder Zopf hinterm Fahrradhelm, hochrotes Gesicht, die Hose voller Dreckspritzer. Das unübersehbar dicke Polster im Hosenboden soll wohl schlimmere Blessuren verhindern ... Wohl eine Stunde währt unsere seltsame Tandemfahrt, bis ich sie irgendwann aus den Augen verliere.

Wie soll man sich hier verlaufen? Wenn für ein paar hundert Meter weder Pfeil noch Band wegweisen, orientiere ich mich an Begleitradlern, Mitläufern oder entgegen kommenden Wanderern. Wanderer mit Startnummer auf der Brust? Hollenlauf und Hollenmarsch. Wie üblich blieb meine Vorbereitung zu diesem Laufabenteuer minimalistisch. Ausreichend Wissen, um zur richtigen Zeit am richtigen Ort in angemessener Bekleidung aufzubrechen … Lange bleibt mir verborgen, was die schlapphütigen, langhosigen, bergschuh-bedressten, rucksackbeschwerten Gesellen hier unternehmen. Dem nach langer Waldeseinsamkeit explodierenden Redebedürfnis eines Mitläufers verdanke ich Aufklärung: Weniger mitleidend als amüsiert, lenkt er meine Aufmerksamkeit auf ein paar zusammengesunken daher schlurfende Gestalten. Ich erfahre, dass sie seit gestern Abend 19 Uhr auf der 101-km-Strecke unterwegs sind …

Fett düstere Wolkenformationen haben zwischenzeitlich das Regiment am Himmel übernommen. Immer wieder fröstele ich an Armen und Händen. Hoffentlich war es kein Fehler die Handschuhe zurückzulassen. Auf Forstpassagen folgen nun immer häufiger freie, von Wiesen bedeckte Flächen. Ich quere eine Straße, danach den riesigen Parkplatz eines … tatsächlich … eines Skilifts und frevele in Form überheblicher Gedanken zum flachen, für gute Skifahrer sicher langweiligen Hang. Hochmut ist nie angebracht, wird aber selten so prompt bestraft wie hier: Neben und parallel zu den Seilen des Lifts verläuft der Wanderweg. Nach kurzem Anlauf zwingt er mich in einen brachial steilen Hangabschnitt, nicht weit, vielleicht 100 Meter. Das trifft mich mit müden Beinen und mental unvorbereitet.

Augenblicklich motzt der Miesmacher rum, redet von Gehen. Sollte ich es vielleicht mal ausprobieren? Auch viel stärkere Läufer als ich überwinden solche Passagen gehend, weil Laufen kaum einen Zeitvorteil bringt, wohl aber Kraft verschlingt. Körperliche Schwäche plus die Aussicht morgen noch mal Marathon laufen zu „müssen“ erodiert meine Gegenwehr. In winzigen Stepps, auf Zehen und Fußballen federnd, arbeite ich mich nach oben. Ausgerechnet hier haben Regengüsse Rinnen gezogen, Steine freigelegt, Löcher ausgewaschen. ‚Geh doch endlich!’ schreit es in mir und tatsächlich stehe ich kurz davor aufzugeben. Aber da ist noch eine Instanz, eine letzte Sicherung. Frag nicht was und frag nicht wie. Sie lässt Kapitulation nicht zu, zwingt mich selbst gesetzte Regeln einzuhalten. So steppe ich weiter und höher. Dann wird der Hang flacher und leichter. Aber nur kurz. Eine zweite genauso gemeine Steilstufe türmt sich vor mir auf. Der innere Kampf bleibt diesmal aus, ist entschieden. Auch dieses Hindernis überwinde ich mit mikroskopisch kleinen Schrittchen, ziehe Kraft aus der Tatsache einen gehenden Kontrahenten auf diese Weise hinter mir zu lassen.

Ich brauche eine Weile, um mich von den Steilstellen am Kahlen Asten zu erholen. Dass ich durch die Flanke des höchsten Berges von Nordrhein-Westfalen „turnte“, verrät mir erst das Internet, daheim, beim Verfolgen der Route auf Satellitenbildern. Welchen Umständen der Buckel seinen Namen verdankt, weiß ich nicht. Inzwischen existieren tatsächlich eine Menge kahler Stellen am „Kahlen Asten“; einerseits landwirtschaftlich genutzte Wiesen, zum anderen erinnern erschreckend oft riesige, wiederaufgeforstete Areale an die Windkatastrophen des letzten Jahrzehnts. Interessiert mich im Moment aber eher wenig. Tendenziell abwärts laufend, warte ich auf die Rückkehr der Kraft.

Ein Stück Straße ist mir vergönnt und nahezu ebenes Terrain. Beides kommt zur rechten Zeit, spart Körner und stärkt die Zuversicht. Ein Ortschild: „Lenneplätze, Stadt Winterberg, Hochsauerlandkreis“. Vorbei. Eine Wohltat dieser Asphalt! Links ab, noch immer Straße, ein Verpflegungspunkt. Der trägt auch den Namen „Lenneplätze“ und steht in Höhe Streckenkilometer 29. Vor jeder Tränke steht so ein Schild mit Namen und Kilometerangabe. Die sonst übliche Markierung auf Ultrastrecken – Tafeln alle fünf Kilometer – fehlt. Malz, Cola, Iso und hinein. Obschon mehrfach „genossen“ hat sich die Mischung noch nicht durch meinen Bauchraum geätzt. Aber vielleicht passiert das noch … Kurze Waldpassage und wieder Asphalt. Ein schmales Asphaltband so weit das Auge reicht und an dieser Stelle reicht es sehr weit. Ein Rad- und Spazierweg. Auf dem wird geradelt und spaziert, gelaufen und marschiert, schnurgeradeaus, minimal abwärts, später – schon zu sehen – wieder sachte aufwärts. Links in Wurfweite eine Straße, mündet in ein Dorf. Ortsschild: „Langewiese“. Selten war ein Ortsname so treffend. Der Weg zieht über einen ausgedehnten Höhenrücken, mit nichts bedeckt als Wiese und Dorf. Ach ja: 30 Kilometer liegen hinter mir. Jetzt fehlen etwa noch 10 bis zum Wendepunkt (krampfhaft versuche ich nicht dran zu denken, dass noch mehr als die Hälfte vor mir liegt. Wie? Ja, hast Recht, es gelingt mir nicht …).

Ende der langen Wiese, durch Wald sanft abwärts. Genau genommen durch Waldreste, da und dort. Weite Flächen präsentieren sich verödet, von Gestrüpp und Büschen überwuchert. Vermutlich ebenfalls eine noch nicht aufgearbeitete Folge der Orkane. Ein Stück voraus verschwindet der Weg vor einem harmlos aussehenden Hügel in dichtem Nadelwald. Meine böse Vorahnung wird durch den ersten Blick in den dunklen, steil aufwärts strebenden Tunnel zur lächerlichen Untertreibung. Ich möchte stöhnen und Verwünschungen ausstoßen, am liebsten aber einfach hier schon wenden … Noch steiler als vorhin, noch übler der Untergrund. Wurzeln, Steine, Knoten, Vertiefungen. Fersen in der Luft. Nicht nur steiler als vorhin auch dreimal so lang … oder länger? – Warum? – Irgendwann verlasse ich diesen Planeten. Werde ich mich dann fragen, warum ich mir das alles zugemutet habe? Was, wenn ich nur stumm und hilflos mit den Schultern zucke? Es tut weh, was mich eher wenig kümmert. Ein bisschen Verzweiflung keimt auf – morgen! Kassel! Marathon! Wie, nach alledem? –, was mir Furcht einflößt. Noch immer keine Ende, nicht mal abzusehen. ‚Es geht doch um nichts, nur um einen Sch…trainingslauf! Also warum so unbeugsam? Weshalb gebe ich nicht endlich kleinbei?’ Fünfzig Schrittchen, hundert, tausend, …. eine Million. Läufer müssen nicht mehr durchs Fegefeuer, die dürfen sofort in den Himmel. Gott ist gerecht. Endlich. Licht am Ende des Tunnels. Beinahe im wahrsten Sinne des Wortes. Flacher, Herzschlag verebbt, Atem auch, Beine wie leer gelutscht.

Längst flach, dann sogar abwärts, noch immer kein solider Trab. Erholen. „Endlich wird das Wetter besser“. Ein langer, in Schwarz gehüllter Mensch trabt munter an mir vorbei. Sei’s drum, Hauptsache er hat Recht. Die Wolken reißen wieder auf und kräftige Farben ergießen sich über die Landschaft. Linker Hand eine Wiese, grasende Pferde, hellbraun, mittelgroß, gedrungen, Haflinger. Kurzer Halt für ein Foto. Kaum zurück im Wettkampf stürmen sie mir entgegen, die beiden Führenden im 67 km-Ultratrail; zuvorderst Achim Zimmermann (SV Mindelzell), dahinter der spätere Deutsche Meister, René Strosny (Bautzener LV). Es reicht für ein Foto und ein anfeuerndes „Super!!!“, dann sind sie vorbei. Bis ich dem Dritten der Konkurrenz begegne verstreichen einige Minuten. Fast habe ich schon wieder vergessen, dass hier um die Deutsche Meisterschaft gerungen wird, da flitzt mir ein hoch gewachsener, kräftiger Kerl aus dunklem Tann entgegen. „Hallo Udo!“ ruft er und hält mir die Hand zum Abklatschen entgegen. Das ist doch … Florian!!! Erkennen, Abklatschen und Anfeuern sind eins. Florian Böhme – vor ein paar Jahren, als Newcomer, hat er sich noch per E-Mail Tipps von mir geholt. Inzwischen kann ich mich von ihm beraten lassen. Mit einer Pace von 4:40 min/km fegt er über diesen harten Kurs und belegt im Ziel den 5. Platz.

Allmählich entwickele ich gewaltige Sehnsucht nach der Wende, die bei Kilometer 40 kommen muss. Immer wieder checke ich die zurückgelegte Distanz in der Anzeige meines dienstbaren GPS-Geistes. Quälend langsam vergrößert sich der Wert … 37 … 37,5 … 38 … Und wieder mal klebriger Matsch unter den Füßen und Pfützen in Wegesbreite, die zum Umweg zwingen. Platsch, quatsch, platsch … Dreck spritzt auf die Waden, fällt größtenteils wieder ab, pappt klümpchenweise fest. Links ab, über einen holprigen, schmierig-sumpfigen Waldweg. Läufer im Gegenverkehr, Ausweichen schwierig. Mehr als einmal fürchte ich ab- oder auszurutschen. Nichts passiert. Plötzlich eine Art Lichtung im Wald, Ende einer Forststraße, ein Mitläufer stoppt verunsichert vor einem Wegweiser. Mir wäre es gar nicht aufgefallen, aber wo bisher immer „67 + 101 km“ aufgedruckt war, fehlt jetzt die „67“. Wende verfehlt? Zu weit gelaufen? Unwahrscheinlich, dennoch bleibe ich auch stehen. Zwei Zaungäste, soeben noch begeistert applaudierende Zuschauer, wissen Rat: „Die Richtung stimmt! Noch ein Stück weiter, dann kommt die Wende“.

Drei Minuten später ist es soweit. Ein Pfeil schickt mich nach links auf eine Lichtung und vor einen Verpflegungspunkt. Mein Chip wird einmal mehr gescannt, eine Zwischenzeit genommen. Trinken und fragen: „Ist das hier die Wende?“ Sicher ist sicher. Nicht auszudenken, wenn … Noch zwei Fotos und ab. Was ist das für eine merkwürdige Skulptur? Mächtige Balken aus Baumstämmen formen ein tempelartiges, einen tonnenschweren Felsen umschließendes Gerüst***!? Hier und jetzt nicht fass- oder erklärbar.

***) Es handelt sich um die Arbeit „Stein-Zeit-Mensch“ des bayrischen Künstlers Nils-Udo (Laas). Wikipedia schreibt dazu: „Für seine Arbeit Stein - Zeit - Mensch (2001) auf dem Waldskulpturenweg Wittgenstein-Sauerland brachte Nils-Udo einen etwa 150 t schweren Quarzit-Monolithen an die Erdoberfläche und umstellte ihn mit monumentalen Fichtenstämmen, die der Sturm gefällt hatte. Auf den Betrachter wirkt der Monolith dadurch, als ob er Schutz benötigte, oder auch wie ein Tempelschrein.“

Also wieder zurück, ab jetzt den Pfeilen entgegen. Noch 27 Kilometer … Sofort fühle ich mich besser. Reine Kopfsache, denn der kleine Verpflegungsstopp war kaum geeignet Reserven zu mobilisieren. Endlich zurück in Richtung Ziel! Zuversicht pur. Alles wird gut! Morgen auch! Vorhin rannte ich beinahe achtlos dran vorbei. Jetzt sind mir die violetten Veilchen am Wegrand einen kurzen Fotostopp wert. Reine Kopfsache. Klick und weiter. Etliche LäuferInnen kommen mir auf diesem Abschnitt entgegen. Bisher wähnte ich mich weit hinten im Feld, wider besseres Wissen. Reine Kopfsache. Jede Begegnung reicht mir ein paar Körner zurück, vor allem von jenen fairen Sportlern, die mich, eigener Ermüdung zum Trotz, auch noch anfeuern. Reine Kopfsache. Die Sonne scheint jetzt heller und unterbricht ihre Arbeit kaum noch. Das ist ein Zeichen! Kann sein, vor allem aber ist es eine Sache des Kopfes, ohne dessen Stärke niemand Ultrastrecken übersteht …

Die „Umkehr-Euphorie“ ist abgeklungen, die Wahrnehmung ausgeprägter Ermüdung dringt wieder durch. Gut so! Auf diese Weise werde ich vor Torheiten bewahrt. Beinahe übergangslos renne ich vom Hellen ins Dunkel, in ein Fichtenwäldchen und stehe vorm gähnenden Schlund eines düsteren Abgrunds. So jedenfalls kommt es mir vor, denn so vieles ist reine ... Um nicht zu stürzen reduziere ich mein Tempo gegen Null. Habe ich diesen Steilhang vorhin wirklich laufend bewältigt? Unfassbar. Heil von oben nach unten gelange ich nur unwesentlich schneller, als vorhin von unten nach oben. Natürlich auch, weil ich müde bin und jedes Gelenk, jede Sehne, jeder Muskel, wie ein getretener Hund aufjault. Raus aus dem Dunkel, endlich zurück ins Sonnenlicht und die Beine lockern.

Nach und nach hake ich die mir schon bekannten Punkte und Abschnitte ab, bleibe zuweilen für ein Foto kurz stehen. Attraktive Nah- und Fernsichten gilt es einzufangen, jetzt in Sonne gebadet und in kräftigen Farben erstrahlend. Die Koppel mit den Haflingern, die vielen Buckel des Hochsauerlandes, dann die Lange Wiese, die ich jetzt als gelben Teppich erlebe. Von Licht und mittäglicher Wärme verführt haben unzählige Pusteblumen ihre Kelche geöffnet und der Sonne zugewandt.

Wieder begrüße ich die lange asphaltierte Passage entlang der Langen Wiese und des Weilers Lenneplätze. Ich bin hundemüde und versuche so kraftsparend wie möglich zu laufen. Zweifel, diesen Trail bis zum Schluss laufend zu überstehen, hatte ich seit der Wende keine mehr. Dafür immer und immer wieder in die Zukunft reichende Bedenken. Morgen in Kassel. Wie wird sich das anfühlen? Schmerzen auf den ersten Kilometern? Werde ich das überhaupt Durchstehen? Die Crux experimentellen Trainings. Unbeschwertes, dem unmittelbar angestrebten Ziel verpflichtetes Laufen sieht anders aus. Seit dem ersten Schritt – nein, eigentlich schon lange davor – schmälert das furchtsam-skeptische Was-wird-morgen-sein? Freude und Genuss.

Alles Schwierige, Harte und Schmerzvolle liegt hinter mir. Da waren noch die beiden ekelhaften „Abstürze“ am Skihang, der schmatzend schlüpfrige Abschnitt im nassen Wald, ein kurzes, steiniges und brutal steiles Stück Aufstieg und zuletzt ein sich endlos aufwärts windender Waldweg. ‚Kein Buckel ist hier endlos!’ überzeugte ich mich mehrmals selbst, „angewandte Psychologie“, um mir das Durchhalten zu erleichtern. Einmal, sicher nicht länger als fünf Minuten, suchte mich totale Schwäche heim, darin die Ahnung nahenden Schwindelgefühls. Mit Temporeduzierung überstand ich auch diese Phase. Jetzt trabe ich in leichtem Gefälle, etwa bei Kilometer 60, ausgelutscht und ziemlich fertig zwar, jedoch in der beruhigenden Gewissheit, dass es fortan ständig talwärts geht. Ich erreiche die Nasse Wiese, ein Hochmoor, Lebensraum seltener Flora und Fauna, was man einer verwitterten, schwer zu entziffernden Infotafel entnehmen kann. Foto und weiter. Nur ein paar hundert Meter, dann erreiche ich den Verpflegungspunkt Nasse Wiese, trinke und werde gescannt … Distanz seit der Wende: 20,5 Km; Tempo auf diesem Teilstück: 6:37 min/km.

Im langen Schlussstück mache ich noch einmal ziemlich Fahrt. Das Gefälle ist ideal. Nicht zu steil, gerade so, dass man es auch mit ramponierten Haxen laufen lassen kann. Von der Uhr habe ich kaum geredet, dir weismachen wollen, die Laufzeit interessiere mich nicht. Im Grundsatz stimmt das. Hochrechnungen seit der Wende deuteten jedoch hartnäckig darauf hin, den Kurs sogar unter sieben Stunden bewältigen zu können. Die recht mäßige Pace auf dem Rückweg zur Nassen Wiese beweist, dass ich dafür nichts unternommen habe. Ganz im Gegenteil sogar. Mit Blick auf Kassel, habe ich mir jeden Ehrgeiz untersagt. Bis jetzt. Und jetzt habe ich die Chance sogar recht eindeutig die Sieben-Stunden-Marke zu unterschreiten. Laubwald zieht vorbei, den einen oder anderen Kontrahenten überhole ich sogar. Einer muss abwärts gehen, hat anscheinend ein Fuß- oder Beinproblem. Armes Schwein. Dann bleibt der Wald zurück und ich durchquere die wunderschöne, von der Mittagssonne aufgeheizte Wiesenmulde oberhalb von Bödefeld.

Wiesen, Zäune, aphaltierte Feldwege, ein Bauernhof, rasch nähere ich mich den ersten Häusern. Entsprechend der späteren Auswertung, bin ich auf diesem Abschnitt ziemlich flott mit 5:33 min/km unterwegs. Bödefeld: Häuser, erster Applaus, Schild: „Zum Ziel ca. 1.300 m“. Ein bisschen Zickzack, noch immer abwärts, schließlich kann ich sogar meine „ausgeschlafenen“ Handschuhe wieder aufnehmen. Entlang der Hauptstraße noch ein Stück aufwärts, im Gefühl des sicheren Gelingens sogar leichtfüßig, zuletzt in den Schulhof und ins herbei gesehnte Ziel. 6:53:03 Stunden sind seit dem Start vergangen.

Trinken, trinken, duschen, noch mehr trinken, essen – in dieser Reihenfolge befriedige ich meine unmittelbaren Bedürfnisse. Sitze inmitten volksfestartiger Stimmung, lausche Gesprächen, verfolge Siegerehrungen und denke an morgen. Bei jedem Schritt im Schulhof spüre ich die 67 km in den Beinen. Nein falsch! Nicht die Distanz hat mich aufgearbeitet, sondern die ungewohnten Höhenmeter rauf, wahrscheinlich noch mehr runter. Wird mein Körper diese Belastung bis morgen früh wegstecken? Alle „Systeme“ so weit wieder regenerieren, dass ich einen weiteren Marathon überstehe?

Fazit zum Hollenlauf

Auf sage und schreibe 250 Helfer (!!!) stützt sich die Organisation des Hollenlaufs, der insgesamt etwa 900 Läufer und Marschierer anlockte. Dieses Heer von ehrenamtlich Tätigen stellt eine Veranstaltung auf die Beine an der es nicht das Mindeste auszusetzen gibt. Für 30 Euro Startgeld erkaufst du dir einen völlig reibungslosen Ablauf, allerorten bestens gelaunte, hilfsbereite Geister, gute Verpflegung auf der Strecke, ein reichhaltiges Frühstück vor dem Lauf und vieles mehr.

Die attraktive mit Naturschönheiten gespickte Strecke braucht Vergleiche mit ähnlichen Trails, insbesondere dem Rennsteig, nicht zu scheuen. Schade, dass das tolle Engagement der Bödefelder „nur“ mit 180 Läufern belohnt wurde. Liebhaber des Ultratraillaufens sollten den Hollenlauf demnächst auf ihre Agenda setzen!

Bildnachweis: Die beiden Bilder, auf denen der Autor zu sehen ist, stammen von der Homepage des Hollenlaufs.

 

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