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Moderne Zeiten   –  Trollinger Marathon Heilbronn 2012

Weniger als eine halbe Stunde trennt mich noch vom Start des Trollinger Marathons in Heilbronn. Die Szene im Umkleideraum des Stadions entbehrt nicht surrealer Elemente. Sieht so die Zukunft des Laufsports aus? Gemeint ist nicht der Spitzen- und Höchstleistungsbereich, vielmehr das Millionenheer der mehr oder weniger engagierten Freizeitläufer. In einer Ecke hockt Daniel, fixfertig umgezogen, hält in der linken und bedient mit der ruhigen rechten Hand seinen Tablet PC (nennt man das so?). Vermutlich ist er älter, als sein jungenhaftes Äußeres mich glauben machen will. Angehöriger einer Generation, die den Umgang mit den „Segnungen des IT-Zeitalters bereits mit der Muttermilch inkorporiert“. Daniel bemerkt die zwischen Verwunderung und Heiterkeit schwankenden Blicke seiner Umgebung. „Ich muss noch schnell eine „App“ installieren!“ entschuldigt er sich und fügt, das Bizarre seiner Erklärung erkennend, hinzu, er möchte damit einen ausländischen Freund lokalisieren, der, auf langer Radrundreise und derzeit irgendwo in Rheinland-Pfalz unterwegs, heute Abend bei ihm eintreffen wolle. Dann, ergänzt er, werde er ihm ein Fest ausrichten. „Du hast fast noch eine halbe Stunde. Da kann man vieles tun. Mit etwas Mühe sogar einen 5 km-Lauf finishen! Also lass dir ruhig Zeit!“ Das klingt belustigt und ironisch, drückt im Grunde aber nur meine Sprachlosigkeit aus – auch wenn sich das wie ein Widerspruch liest.

Bin ich ein Dinosaurier, eine dem Untergang geweihte Spezies, weil mir dergleichen oder auch nur ähnliche Handlungsweisen so fern sind, wie die Erde der nächsten Galaxis? Kurz vorm Start mit einem IT-Dingsbums rumfuhrwerken? Selbstverständlich vermag ich vorm 88. Marathon, der zudem lediglich Trainingscharakter hat, nicht mit großem „Herzklopfen“ zu kokettieren. Läuferischer Abgebrühtheit zum Trotz bin ich in den Minuten vor einem Marathonwettkampf jedoch voll konzentriert und zugleich „fahrig“ in Gedanken – auch ein Widerspruch und wieder lasse ich ihn unaufgelöst.

Einem Dritten fällt auf, was ich zwar sehe, aber – „fahrig in Gedanken“ – nicht wahrnehme: Daniel trägt den „Dernier Cri“ der Laufschuhtechnologie: Zehenschuhe! „Willst du damit wirklich den ganzen Marathon laufen?“ fragt ihn der Mann ungläubig. Daniel bestätigt und meint „ … und ich würde nie wieder auf diese Schuhe verzichten!“ Zehenschuhe bezeichnet er als die für ihn beste Lösung. Er gehöre jedoch nicht zu den Leuten, die andere in missionarischem Eifer von der avantgardistischen Fußbekleidung überzeugen wollen. Der Kerl gefällt mir, nicht zuletzt wegen seines letzten Satzes. Darüber hinaus, weil er mir die Einleitung zum fälligen Laufbericht quasi „on Tablet“ serviert, mich so vorm drohenden „Aus-den-Fingern-saugen“ einer möglichst fulminanten Einführung befreit.

„Keine Verbindung mit dem Netz! Immer wenn man es eilig hat streikt die Verbindung!“ Das Versagen von Netz und Servern … Was auch immer die Generationen früher verbunden haben mag: Heutzutage beklagen wir unisono den Ausfall von Internet-Verbindungen, jeweils exakt in Situationen knappen Zeitvorrats. Ich wünsche ihm einen guten Lauf, abends eine rauschende Fete und verlasse die Umkleide. Draußen überlege ich es mir anders und nestele mühsam eine Visitenkarte aus meiner prallvollen Lauftasche (unter anderem ausgebeult von der Flasche Trollinger, die jeder Teilnehmer bekommt). Mit den Worten „Falls dich der Laufbericht mit deiner Geschichte interessieren sollte …!“ drücke ich ihm das Kärtchen in die Hand und gemeinsam wenden wir uns zum Gehen. Auf dem Weg nach draußen berichtet er freudestrahlend vom Erfolg der eben installierten „App“. Dabei weist er auf ein Gewirr undeutlicher Linien in der Anzeige seines „Tablet PC“. Offensichtlich eine „Map“, die weitsichtige Dinosaurier ohne „Restlichtverstärker“ jedoch nicht von einer zersprungenen Fensterscheibe unterscheiden können. „Ich heiße übrigens Daniel“ meint er zum Abschied und überführt damit unsere kleine Episode in eine Art gemeinsame Vergangenheit. Offensichtlich ist ihm neben all dem Technikkrimskrams der Sinn fürs Zwischenmenschliche nicht abhanden gekommen. Ein sympathischer Kerl, ohne Zweifel.

Drei junge Damen nehmen vor Zelt A meine Klamotten zur Aufbewahrung entgegen. „Und wer von euch läuft jetzt mit Schirm neben mir her, damit ich trocken bleibe?“ Schmunzelnde Ablehnung bekomme ich zur Antwort, aber auch die vage Versprechung „es solle aufhören zu regnen“. Warum sich unnötig Hoffnungen zerstören, also frage ich vorsichtshalber nicht nach, wer den höchst spekulativen Wetterbericht in die Welt gesetzt hat … Zehn Minuten später, inmitten von ein paar hundert Marathonis wartend, regnet es munter weiter. Nicht stark, eher „rücksichtsvoll“, in einem Maß, wie es einen anfangs nicht stört und man es später kaum mehr wahrnimmt. Trotzdem nicht mein Wetter. Meine Psyche hungert nach Sonne. Doch ich will mich nicht beklagen, hatte bei den bisher vier Marathons des Jahres viel Glück mit dem Wetter. Meine gegenwärtige Stimmung würde ich als „unentschieden, jedoch optimistisch, mit Bedenken in der Sache“ beschreiben. Bedenken nähren sich aus dem steten Zweifel richtig zu trainieren, der Furcht meinem Ehrgeiz zu hohe Belastungen zuzugestehen. Wenn ich heute über die Ziellinie laufe, werden 120 Wochenkilometer zu Buche stehen. Marathon als Training? Ziemlich abgefahren meinst du? Krass? Das ist immer eine Frage des individuellen Ausdauerniveaus und damit relativ. Immerhin bereite ich mich auf einen 100 km-Lauf im Juli vor und laufe Ultras nicht erst seit gestern. Folgenden Rekord bezeichne ich als „krass“: Der Belgier Stefaan Engels beendete im Februar 2011 in Barcelona eine Serie von 365 Marathons in 365 aufeinander folgenden Tagen …

Der Sprecher schreit mit Emotionen gegen das feuchtkühle Wetter an, erntet um mich herum aber nur wenig Resonanz. Alle sind froh, als der Oberbürgermeister den Abzug der Starterpistole betätigt und der Zug der Lemminge sich in Bewegung setzt. Unterm Bombardement fetter, vom Laub einer Platanenallee gebündelter Wassertropfen absolviere ich den ersten Kilometer nassen Asphalt. Meine Erfahrung spricht: Schnell genug, wahrscheinlich sogar zu schnell! ... und hat Recht. 5:15 min für die ersten tausend Meter liegen unter Soll, das ich heute mit 5:30 min/km, ergo bei einer Zielzeit von etwa 3:50 h, veranschlage. Rechts hinter den Alleebäumen streift der Blick den Neckar, genauer gesagt einen stillen, dunkelgrünen Altwasserarm, der die Heilbronner Innenstadt durchschneidet. Über die Götzenturmbrücke geht’s zur anderen Seite. Vorm Brückengeländer wartet Daniel mit schussbereiter Kamera. Also scheint auch für ihn kein Rekordversuch anzustehen.

Drüben suchen wir wieder die Uferpromenade, allerdings in Gegenrichtung. Deshalb erreicht uns alsbald wieder die Stimme des Sprechers. Gerade erklärt er (Wem eigentlich?), dass sich manche auf diesen Lauf monatelang vorbereitet haben. Bezeichnet jene, die Marathons mehrfach im Jahr laufen als „Vögel“, die es wohl auch gäbe und versteigt sich letztlich in der Mutmaßung manche hätten vielleicht sogar im „wärmeren Ausland“ ein „Trainingslager“ für den Lauf absolviert. Der „Vogel“ hat keine Lust, das Gerede zu bewerten, hängt lieber eigenen Gedanken nach. 2008 war ich schon einmal hier, für Marathon Nummer 50 mit Startnummer „50“, die man mir zugestanden hatte. Nach samstäglichem Dämmermarathon in Mannheim und kurzer Nacht im Hotelbett maß ich mit ultraschweren Beinen die Auftaktkilometer am Neckarufer ab. 38 Marathons später mache ich mich wieder mit unausgeruhtem Körper auf denselben langen Weg.

Der wendet sich nach zwanzig Minuten vom Neckar ab, durchquert Randbezirke Heilbronns und steigt dabei sachte an. Haben sie die Strecke geändert? Der Abschnitt bis zum Stadtrand kommt mir fremd vor. Das ändert sich erst, als wir auf einen betonierten Feldweg abzweigen, der sich in stetem Auf und Ab durch die von Landwirtschaft und Bachgrund geprägte Landschaft schlängelt. Ein Mitläufer nimmt mein ständiges Fotografieren zum Anlass mich zu fragen: „Soll ich mal ein Bild von dir machen?“ „Warum nicht?“ murmele ich und reiche ihm kurz entschlossen die Kamera.

Den ersten Ort auf der Strecke – laut eines belauschten Läuferdialogs sollen es insgesamt 13 werden – verlassen wir einigermaßen steil bergauf und zuletzt über einen Kreisverkehr. Eben im Dorfkern war ich erstaunt, trotz des Regens an reichlich applaudierenden Zuschauern vorbei zu laufen. Das Denkmal des „unbekannten Weinbauern“ (so nenne ich es, weiß nicht, ob’s einen Namen hat) im Zentrum des Kreisverkehrs überrascht mich dagegen nicht. Bereits vor vier Jahren hatte ich die Skulptur abgelichtet. Auch die Landschaft der nächsten Minuten, vorwiegend Hänge mit Rebstöcken, hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Kein Grund nicht auch diesmal reichlich Fotos davon mitzunehmen. „Soll ich mal ein Bild von dir machen?“ Nein, nicht derselbe, ein weiterer Porträtist bietet seine Dienste an. Und wieder nehme ich gerne an, auch wenn ich fast gehen muss, damit die Aufnahme gelingt.

Wegen der steten Steigung habe ich seit dem Neckarufer keine Zwischenzeiten mehr genommen. Nun trabe ich am Fuß des in meiner Erinnerung steilsten Hügels. Rechts und links des asphaltierten Feldwegs reihen sich Rebstöcke: Trollingerland. Und der kurioseste Musikant des Marathongeschehens ist auch wieder auf dem Posten, wie damals auf der Hügelkuppe stationiert, noch nicht zu sehen, dafür zu hören. Noch dämpfen Gelände und Entfernung das melodiöse Trompeten von Bässen. Aber mit jedem erkämpften Höhenmeter wird es lauter bis das imposante Rohr des Alphorns in ganzer Länge sichtbar wird. Vorm Mundstück blähen sich die Backen eines vollbärtigen, kauzig wirkenden Bläsers. Seine Aufmachung – Krachlederne, weiße Wadlstrümpf’, rot-weiß kariertes Hemd und das unverzichtbare, mit Gamsbart geschmückte Hüterl – hat mich schon vor vier Jahren irritiert. Solcherlei Brauchtum erwartet man eigentlich im Allgäu, also ein paar hundert Kilometer weiter südlich. Dieser Alphornist lebt und bläst aber wohl am Fuße der Trollingerhänge, im vorhin durchquerten Flein (Flinataler Alphornbläser).

Noch fehlen ein paar Meter bis zum „Gipfel“, auch wenn es wieder flacher wird. Unter meinen Füßen ziehen Sprüche vorbei, schon etwas verwittert und auf grauen Asphalt gepinselt: „Keine Gnade für die Wade“ oder, noch bekannter aber nicht weniger doof, „Quäl dich du Sau“. Dann bin ich oben und nehme wieder Fahrt auf.

10 Kilometer und der Blick zur Uhr: Wie erwartet liege ich etwa eine halbe Minute hinter meinem Fahrplan, was Eingedenk der langen „Bergfahrt“ letztlich einem Vorsprung entspricht.

10 Kilometer und der Griff zur Verpflegung: Ich werde heute nur Wasser trinken, will meine Kohlenhydratspeicher so tief wie möglich entladen. ‚Was für Riesenbecher verwenden die hier?’ Trinken in der Bewegung ohne Besudeln ist damit praktisch ausgeschlossen. Mir kann’s egal sein, s’ist nur Wasser und nass bin ich ohnehin schon. Also rein damit. Oh Mann! Wasser mit Kohlensäure. Fast augenblicklich erhöht sich der Druck im Magen und ein flaues Gefühl setzt ein. Schon an der ersten Tränke habe ich Kohlensäurewasser erwischt. Innerlich schimpfe ich wie ein Rohrspatz (Nicht druckreif, steht drum hier auch nicht geschrieben). Dafür das: Wäre ich der Gott des Laufsports, ich schickte augenblicklich Blitze aus schwarzen Wolken und mein Donnergrollen führe den Verantwortlichen dieser Dummheit tief ins Mark. Dann stiege ich herab auf den Weinberg und übergäbe die Gebote zur Durchführung von Marathonläufen. Kernsatz: Der Cheforganisator muss den Marathon selbst laufen und an jedem Verpflegungsstand Wasser trinken … damit es ihm den Wanst blähe und er nie mehr saures Prickelwasser ausschenken ließe, bis in alle Ewigkeit. Scherz beiseite. Jeder interessierte Läufer kann es wissen, die Organisatoren eines Marathonlaufes haben es gefälligst zu wissen und sich danach zu richten: Mit Kohlensäure versetzte Getränke versetzen viele Läufermägen in Aufruhr. Am verträglichsten ist Wasser still, in Deutschland gerne auch aus der Leitung. Vermutlich steuert einer der Hauptsponsoren die Getränke bei oder liefert sie verbilligt. Ohne Sponsoren kein Marathon, das ist wahr. Aber wo es um Wohl und Wehe der Läufer geht, haben sich Sponsoren zu fügen und Organisatoren durchzusetzen. Ich zahle auch gern zwei Euro mehr für Leitungswasser …

Bergab, schneller, Zeit aufholen, mitten durch das Örtchen Talheim. Ich gedenke meiner „Knochen“, die vom bisherigen Trainingsaufbau kaum mit Rauf und Runter gefordert wurden. Schon möglich, dass sie mir morgen die Quittung präsentieren. Nach diesem Tag ist es ohnehin vorbei mit dem ausschließlichen Flachlandlaufen. Zum „Finale“ im Juli, dem 100 km-Lauf im Thüringer Wald, stehen mir über 2.000 Höhenmeter bevor. Also bleiben noch zwei Monate, um meine Berglauffähigkeit zu steigern. Runter durch Wohnstraßen, immer weiter runter, Spitzkehre und immer noch Gefälle; schließlich raus aus dem Dorf Talheim und quer durch den braun-grünen Flickenteppich aus Feldern und Wiesen einer weiten Senke. Die könnte dem Auge mehr gefallen, „zersägten“ nicht zwei Überlandleitungen auf gewaltigen Gitterstützen das Panorama. Zivilisatorische Hässlichkeit, sicher notwendig, deshalb aber nicht weniger abstoßend. Und vielen Regionen unseres Landes steht derlei Verschandelung demnächst bevor, unausweichlich, Folge der Energiewende und weil dem Götzen Wachstum weiter auf althergebrachte Art gehuldigt wird.

Wo sich das rot-weiße Trassenband spannt, bogen wir vor vier Jahren auf einen Feldweg ab. Diesmal halten wir die Richtung, um wenig später eine Bundesstraße zu überqueren und jenseits dem Wegweiser „Zementwerk“ zu folgen – auf betonierter Piste versteht sich, das passt auch viel besser zum Zementwerk. Ich verliere weitere Höhenmeter, gewinne dafür Sekunden zurück. Links zeigt sich eine gelbe, brüchig wirkende Felsformation. Natürlich entstanden oder durch Menschenhand? Rechts unterhalb erspähe ich einen Flusslauf durch den vom Frühling noch unvollendet gewebten Blattvorhang. Der Neckar? Wenig später öffnet sich der Blick auf ein gewaltiges Zementsilo und diverse Verladestationen. Anscheinend können hier sogar Flussschiffe anlegen!? Bildung bringt sich oft als Mangel in Erinnerung, beispielsweise dann, wenn ich gerade mal wieder etwas nicht weiß: Bis wohin wird der Neckar eigentlich als Wasserstraße genutzt?*

*) Der Neckar ist von der Mündung in Mannheim-Ludwigshafen bis Plochingen, insgesamt also auf gut 200 Flusskilometern, für Großmotorgüterschiffe befahrbar.

Jetzt heißt es Laufen in Lauffen am Neckar, jedem Rotweinfreund von Flaschenetiketten geläufig. Wir betreten den Ort durch den „Hinterhof“, über das Gelände des Zementwerks. Die Kette der Läufer hat sich weit auseinander gezogen. Nicht gut für mich. Will ich Sehenswertes mit Läufern davor ablichten, muss ich stehend warten, so wie jetzt auf der Neckarbrücke. Hübsch der Turm einer alten Burganlage, davor die gelbe Fachwerkfassade. Und weiter. Es folgen zwei wenig erbauliche Kilometer durch urbane Wucherungen. Kenn ich schon. Links der Bahndamm – Güterzug rumpelt gerade vorbei; rechts Parkplätze, Discounterläden, Gewerbeansiedlungen und noch mehr Parkplätze, leer, sonntäglich verwaist, Wüste inmitten eines fruchtbaren Landstrichs.

Im Talgrund, auf einem Fahrradweg geht’s weiter und das mit hübschen Ausblicken trotz befahrener Straße. An den Hängen zur Rechten gedeiht der nächste Jahrgang Trollinger und links gluckst ein Bach im Wiesengrund. Das Glucksen allerdings ergänzt mein romantisches Selbst, denn zu hören ist nichts und den Blick aufs Rinnsal verwehren meist Büsche und Stauden. Alle paar hundert Meter ein Wachposten: Feuerwehrmänner und -frauen verhindern, dass Läufer die Straße nutzen und sich in Gefahr bringen.

Ich trotte dahin, halte Tempo, fühle mich weder stark noch schwach, nicht besonders gut drauf, aber auch nicht schlecht oder übellaunig. Ein weiterer Ort liegt hinter mir, weiß nicht, wie er heißt, ist auch unwichtig. Die Zeitmessung des halben Marathons passiere ich nach ziemlich genau 1:55 h, also mit einer Minute Guthaben auf meine Sollzeit. Es tröpfelt immer noch ein wenig, verspricht aber bald aufzuhören. Hier auf freiem, ungeschütztem Feld zieht es ein bisschen. Der leichte Wind von der Seite hindert nicht am Laufen, lässt mich aber zu meiner Entscheidung im langen Hemd zu laufen zufrieden nicken. Noch’n Dorf. Rein, Beifall und Aufmunterung einsammeln, und wieder raus.

Kilometer 24, dann geschieht es ohne Vorwarnung, binnen weniger Schritte und versetzt mich in wachsende Panik: Aus der Region links unterhalb der Lendenwirbelsäule fährt mir jäh ein Schmerz in die Pobacke und bringt mich augenblicklich aus dem Takt, lässt mich bei jedem Schritt zusammenzucken. Ich kenne die Stelle, von der der Schmerz ausgeht. Die knöcherne Region kürzt man mit ISG ab: Iliosakralgelenk. Beinahe ausschließlich Sportler kennen dieses minimal bewegliche Gelenk. Sie erfahren von seiner Existenz, wenn es wegen Überlastung weh tut. Hölle, Hölle, Hölle! Es wird schlimmer und ich langsamer. Sie und er, vor Minutenfrist überholt, ziehen wieder an mir vorbei. Ist das jetzt das Ende? Werde ich gleich gehen müssen? Der ziehende Schmerz verstärkt sich. Schlimmer als körperliche Wahrnehmung ist die Angst. Bitte nicht! Ich habe noch so viel vor in diesem Jahr …

Es „verläuft“ sich. Die Beschwerden schwinden und die Panik kriecht zurück in die schwarzen, geheimen Katakomben der Seele. Entsetzen dehnt Sekunden zu Ewigkeiten. Wie lange hat das gedauert? Sicher kaum eine Minute und jetzt ist der Spuk vorbei. Was war das? Wurde da kurz „was“ eingeklemmt und hat sich wieder gelöst? Ursächlich der Wind im Kreuz und nasse Klamotten als Kältebrücke? Oder einfach Überlastung? Es dauert eine Weile bis ich mich wieder entspannt dem Erlebnis Laufen hingeben kann, bis das Vertrauen in die Robustheit des eigenen Körpers wiederhergestellt ist. Vertrauen auch in meine Fähigkeit Training richtig zu dosieren. Leitungsorientiertes Laufen ist immer eine Gratwanderung, keiner weiß das besser als ich. Also gut, ich nehme es als Warnung und werde mich noch intensiver beobachten.

Der Himmel zeigt erste blaue Flecken, etwa seit dem Halben hat es zu regnen aufgehört. Wieder einmal bremst ein langer sanfter Anstieg. Die Weinberge zu meiner Rechten kommen mir bekannt vor, die gerade belaufene Streckenvariante jedoch nicht. Wir halten auf das Dörfchen Neippberg zu, kommen diesmal aber aus einer anderen Richtung. Und das ist schade. Die über Neippberg auf einem Weinberg thronende, überaus malerische Burganlage erkennt man so erst spät. Auch Neippberg grüßt den Marathon mit einer stimmgewaltigen Zuschauerkulisse. Davor eine scharfe Rechtskehre und schon „wandern“ die Häuser wieder „Achtern aus“. Ich laufe langsamer, peile immer wieder über die linke Schulter nach hinten, suche nach der besten Perspektive, um die Burg im Foto festzuhalten. Der Schnappschuss gelingt.

In Höhe von Kilometer 29, kurz nach Burg Neippberg, gibt sich Sonne ein Stelldichein. Nicht von Dauer, wie ich glaube, dafür treiben da oben zu viele und zu große Wolkengestalten ihr Unwesen. Worauf ich mich nun freue sind die landschaftlich schönsten Kilometer des Kurses. Man läuft auf betoniertem Feldweg, stets am Fuß der Weinberge, stoppeligen Männergesicherten ähnlich, oben vom Waldsaum begrenzt, wie die Stirn von krausem Haar. In entgegen gesetzter Richtung reicht der Blick weit übers Land, jetzt von Sonne geflutet. Immer noch Sonne. Warme Sonne, schweißtreibende Sonne. Ich ziehe die Ärmel übers Ellbogengelenk zurück. Vermehrte Schweißtropfen vereinigen sich zu Rinnsalen. Im Wenige-Sekunden-Takt arbeitet jetzt die Intervallschaltung meines Schweißwischers. 30 Kilometer liegen hinter mir. Verpflegungsstelle: Ein paar Zuschauer feuern an – kennen meinen Namen von der Startnummer – Griff nach ziemlich vollem Becher – trinke in gierigen Schlucken – muss jetzt sein – pfui Teufel schon wieder das verdammte Prickelwasser … runter damit.

Kurz vor der Tränke habe ich mich an einen Läufer heran gepirscht, weil ich unbedingt ein „Model“ für das Motiv „Läufer am Fuß der Weinberge“ brauchte. Den Mann hatte ich seit einer Weile immer wieder einmal im Blick. Jetzt hängt er an meinen Fersen und atmet hörbar schwer. Offenbar macht ihm die plötzliche Hitze schwer zu schaffen. Und damit ist er nicht allein. Reihenweise überhole ich jetzt gehende Läufer. Ich fühle etwas anderes: Aufbruchstimmung. Erneut – wie zuletzt in Padua – weckt die Sonne meine Lebensgeister und treibt mich auf mysteriöse Weise vorwärts. Pure Lauflust. Nicht gefühlsduselig, nicht in der Form „Oh, wie ist das Leben schön!“. Jenseits der 30-km-Marke in einem Marathon ist Niemandes Leben mehr wirklich „schön“. Aber ich fühle mich pudelwohl und will laufen. Ein bisschen Gefälle hilft und schon produziere ich Zwischenzeiten unter 5 min/km. Mein Schatten bleibt dran, keucht zwar ein bisschen, hält aber mit. Den arbeite ich jetzt auf. Ich weiß das, aber was soll ich tun? Marathonis sollten genug Erfahrung haben, um sich nicht auf Gedeih und Verderb an fremde Fersen zu heften. Minuten später tut er das einzig richtige und bleibt zurück (vielleicht ist er aber auch just in dieser Phase elend eingebrochen).

Die herrliche Weingegend endet auf der Straße vor Nordhausen. Ein verschlafener Weiler mit hübscher Kirche, rein, durch und raus, Sache von Minuten. Straße, Pylone reservieren uns eine Spur, eine Tafel kündet von Kilometer 34. Nur noch acht Kilometer und das Laufen fällt mir erstaunlich leicht. Okay, es zwickt überall im Gebein, aber das ist nach fast 120 Wochenkilometern in der Endphase eines Marathons kein Wunder. In Nordheim, nach 35 Kilometern, trinke ich ein letztes Mal. Inzwischen habe ich die Hoffnung auf einen Schluck stinknormales Wasser aufgegeben und tatsächlich perlt es auch diesmal wieder im Mund. Die Dorfmitte von Nordheim müht sich zu gefallen: Dicker Kirchturm, Fachwerkhäuser, da und dort ein grüner Baum und alles fein heraus geputzt. Am Ende der Dorfstraße wird’s dann noch mal hart. Die Straße fordert mit dem wohl steilsten Stück des Kurses. Ein älterer, weißhaariger Herr hat sich just diese Stelle ausgesucht, um jedem einzeln mit Beifall und lautem Ansporn empor zu helfen. Wieder freie Strecke, kurz abwärts, dann noch einmal, wie ich mich zu erinnern glaube letztmalig, fordernd aufwärts …

Klingenberg fügt Schmerzen zu. Nach dem Ortsschild stürzt die Straße in die Tiefe, als führte sie geradewegs in den Hades. Meine Knie sind dort schon angekommen, leiden im Fegefeuer schneller Schritte. Soweit die physische Pein. Dann die mentale. Diesmal weiß ich was mich erwartet, darum hält sich der Frust in Grenzen: Gruppen, Scharen, Ballungen wehren dem Fortkommen. Ein endloser Zug von Läufern zuckelt von rechts in meinen Laufweg. Der Halbmarathon. Allesamt bewegen sie sich um einiges langsamer als ich. Konsequenz: Slalom. Es ist mir egal, weil es um nichts geht und ich supergut drauf bin. Fünf Kilometer Laufen in Schlangenlinien werde ich auch überstehen. Ich kann kaum fassen wie rasch die Kilometertafeln vorbei ziehen. 38, 39, dann schon 40. Und dass ich nicht wirklich erschöpft bin, erfüllt mich mit Genugtuung. Natürlich könnte ich jetzt einen langen Endspurt ziehen, um mich ein wenig an fließender Energie zu berauschen. Aber für wen oder was? Ohnehin steht mein Tempo seit mehr als einer halben Stunde bei etwa 5 min/km. Und übermorgen will ich im Training wieder Leistung bringen. Also kein endorphin-trunkenes Finale, sondern kontrolliert zu Ende laufen … Die Neckarbrücke kündet vom nahen Stadion, entlässt uns in den Startbereich, dahinter die Platanenallee und alsbald links ab ins Stadion. Auf die Tartanbahn, noch 150 Meter, viel Volk auf der Tribüne und beidseits der Absperrungen, Geschrei aus allen Richtungen und dieselbe Empfindung wie vor vier Jahren … aber die behalte ich für mich.

Ergebnis: 3:47:12 h, Platz 218 von 464 Männern, Platz 10 von 33 in M55

Veranstaltungsfazit

Heilbronn kann mit allem punkten: Eine interessante, abwechslungsreiche, landschaftlich schöne Strecke, erschlossen von reibungsloser Organisation. Ich wäre voll des Lobes, wenn es dem Veranstalter gelungen wäre die billigste und am einfachsten zu beschaffende Labsal des Marathonis bereit zu stellen: Wasser ohne Kohlensäure. Entweder gab es das nicht oder ich griff jeweils zum falschen Becher. Dann heißt das Organisationsverschulden „fehlende Kennzeichnung“. Mich – oder genauer: meinen revoltierenden Magen – hat dieser Mangel ziemlich verärgert. Schade eigentlich, da es doch sonst nichts zu schelten gibt.

 

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