Einige Bilder im Bericht können durch Anklicken vergrößert werden. Oder hier klicken, um aufs komplette Album zuzugreifen.

Forza Ragazzi!  –  „Maratona S’Antonio” Padua 2012

In einer Seitenstraße von Campodarsego laufe ich mich ein bisschen warm, auch wenn ich nicht zu den kenianischen Spitzenläufern gehöre, die ich eben bei ihrem Aufwärmprogramm beobachten durfte. Nicht sportliche Notwendigkeit treibt mich dazu, sondern Gänsehaut an nackten Armen. Der Himmel über Italien ist bedeckt und ein leichter Wind weht durch die Gassen; 11, 12 °C vielleicht, morgens um halb neun. Eine Viertelstunde fehlt noch bis zum Start. Campodarsego war mir unbekannt und ich werde es in ein paar Wochen auch wieder vergessen haben. Eines von 1.001 Städtchen der Provinz Venetien, das lediglich das unverdiente Glück genießt 42,195 km von der Ziellinie in Padua entfernt zu liegen. Aus diesem Grund rückt der Ort einmal im Jahr in den Fokus von ein paar tausend laufverrückten Italienern. Dem Start folgt – in grober Näherung – ein viereckiger, etwa 29 Kilometer langer Rundkurs, der die Marathonis wieder nach Campodarsego zurückbringt. Die verbleibenden Kilometer sind in Richtung Süden bis nach Padua abzuspulen – überwiegend geradeaus. Im Grunde erwarte ich von der Streckenführung wenig Abwechslung. Erst in Padua, auf den letzten vier Kilometern im „Centro Storico“ (Altstadt), das ich überdies nicht kenne, hoffe ich auf optische Höhepunkte.

Um in einen der vergitterten Startblocks zu gelangen, muss ich auf die andere Straßenseite, also hinten um den Schwanz der Startaufstellung herum. Schwarze Startnummer auf rosafarbenem Grund bedeutet Zutrittsberechtigung für einen der vorderen Blöcke. Davor stehen nur noch die wahrhaft Schnellen und vor diesen die Preisgeldabräumer. Dieser Startplatz wurde mir für mein schnellstes, letztjähriges, bei der Anmeldung abgefragtes Ergebnis zugeteilt: 3:25 h. Ein häufig angewandter Automatismus, der sich immer wieder als blanker Unfug entpuppt. Für mich steht neuerlich ein Trainingslauf auf dem Programm, den ich deutlich langsamer absolvieren möchte. Sinnvoller wäre die Abfrage der angestrebten Zielzeit, um vermeintlich Langsame im Streben nach einer besseren Zeit zu unterstützen und umgekehrt. Mein Versuch mich im grünen Startblock, eins weiter hinten, „einzuschmuggeln“ scheitert am entschiedenen „No!“ der Gralshüterin vorm Einlass. Per Handzeichen samt „Anschiss“ in wortgewaltigem Italienisch, von dem ich nur die Wörter „colore rosa“ verstehe, werde ich von der grausigen Walküre des Feldes verwiesen. Brüskiert und mit übertriebenem Kopfschütteln (Ersatzhandlung in Ermangelung wehrhaft frecher Vokabeln) schleiche ich davon. Die Signora versteht nicht, warum sie tut, was sie tut; andernfalls wäre ihr klar, dass ich einfach nur fair sein wollte. Mit dem Signore am Eingang des „gabbia di colore rosa“ (rosa Startblock)* verhält es sich anders: Auch er hält zunächst einen Athleten in „Fehlfarbe“ auf. Dessen um Verständnis bittender Satz, begleitet von gewohnt großzügiger italienischer Gestik, verschafft ihm dann aber doch den gewünschten Startplatz.

*) gabbia / deutsch: Käfig, Gefängnis, Kittchen, Knast, Loch, Korb, Lattenkiste …

Im Startblock schieße ich die nächsten von heute über 200 Fotos – eine neue persönliche Bestleistung der besonderen Art. Ich sammle Impressionen von wartenden Pacemakern und natürlich Atmosphärisches rund um die Startvorbereitungen – als Betreiber einer Laufseite weiß man nie, welche Texte dereinst illustriert werden müssen. Und dann hat „mein“ Indianer seinen Auftritt! Nach dem Maratona di Custoza und dem Maratona d’Italia begegnet er mir nun in Campodarsego zum dritten Mal. Er läuft mit indianischem Kopfschmuck und Lendenschurz, jedenfalls so, wie er sich nordamerikanische Rothäute vergangener Jahrhunderte vorstellt. Seine Kostümierung alleine wäre nicht sonderlich bemerkenswert. Da habe ich schon deutlich schweißtreibendere Aufmachungen gesehen (und bemitleidet). Mehrere Ausrufezeichen verdient allerdings der Umstand, dass er seinen Sprössling im Babyjogger vor sich her schiebt und trotz dieses Handicaps (auch heute wieder) vor mir das Ziel erreicht!!! Aber halt! Noch gibt sich der Fahrgast im Sulky mit der „Gesamtsituation“ unzufrieden, so dass sich flugs eine Traube italienischer „Kinderschützer“ um das Gefährt gruppiert. Der da unterm Klarsichtregenschutz weint ist eindeutig jünger als der Passagier vorletztes Jahr in Maranello. Das Kind ist etwa im selben Alter wie jenes, dass er 2008 durch die Weinberge rund um Custoza chauffierte. „Naturalmente“ unterstelle ich ihm eine zweite, jüngere Vaterschaft. Indes, wie löst er das Problem, wenn auch dieser Knirps dem Babyjogger entwachsen sein wird? Weitere „bambini“ zeugen? Oder eine Marathon-Indianer-Laufpause einlegen und warten bis ihn die „figli“ zum Großvater machen?

Nun kommt Bewegung in die Sache. Nach und nach werden die Sperrbänder vor den Startblocks eingerollt. Block um Block geht auf den nächsten auf, bis wir als kompakte Masse unweit der Startlinie zum Stehen kommen. „Solamente un minuto!“. Die Stimme des Kommentators überschlägt sich fast. Als einer, dessen Italienisch gerade zum Bestellen einer Pizza reicht, kommt es mir vor, als formte seine Zunge das nächste Wort bereits, bevor das aktuelle den Mund „completamente“ verlassen hat. Ein einziger dramatischer Worttsunami, der noch dem Allerletzten verdeutlicht, dass er heute Teil eines bedeutenden Geschehens sein darf. „Il commendatore“ verlangt jubelnd erhobene Hände zu sehen und man zeigt sie ihm. Meine sind nicht dabei. Erstens habe ich seine „intenzione“ nicht kapiert und zweitens verweigere ich mich regelmäßig massenpsychotischen Gesten dieser Art. Weit voraus werden Schwärme von Luftballons – „naturalmente“ in den italienischen Nationalfarben gehalten – in den grauen Himmel entlassen. Dann fällt ein Schuss, lauter Jubel brandet auf und Sekunden später spült mich die Welle von knapp 2.000 Läufern über die Startlinie.

Bereits zwei Minuten nach dem Start verlassen wir Campodarsego Richtung Norden, schnurgeradeaus, woran sich auf den folgenden acht Kilometern, mit nur geringer Missweisung von ein paar Grad dann und wann, nichts ändern wird. Lautes Rufen lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf den Indianer, den ich im Vorstartgewimmel aus den Augen verlor. Zügig schließt er zu mir auf, um sich mit kraftvollen Schritten einen Vorsprung zu erarbeiten. Immer wieder erhebt er die Stimme. Was ruft er? Oder wen? Einmal hört es sich so an, als antwortete ihm jemand weiter hinten im Feld. Aber das kann täuschen, kommt vielleicht von einem Spaßvogel, der sich als Echo betätigt. Will er seinen Passagier beruhigen oder unterhalten, der ihn „naturalmente“ jetzt und womöglich für weitere drei Stunden nicht sehen kann?

Selbst mit Augenbinde und hermetisch verstopften Ohren hätte ich keinen Zweifel in einem Feld italienischer Läufer unterwegs zu sein. Ich rieche das. Kein Witz. Landesübliche Wässerchen und Sälbchen, mit denen meine südländischen Mitläufer vorsorglich ihre Laufwerkzeuge balsamieren, hinterlassen eine charakteristische Duftmischung, die ich nun über ein Jahr nicht mehr in der Nase hatte.

Ich schwimme im Kielwasser der Gruppe um einen 3:45h-Zugläufer. Nach ebendieser Zielzeit soll man mir heute die Finishermedaille umhängen. Frage mich niemand, warum gerade 3:45 h. „Müsste möglich sein, hab ich sicher drauf!“ fiele mir als Antwort dazu ein. Ergänzen könnte ich noch: Weil Marathonwettkämpfe in Italien besser besetzt sind als bei uns und man es mit knapp vier Stunden vielleicht nicht mal in die schnellere Hälfte der Ergebnisliste schafft. Also 3:45 h!? Könnte passieren, ich breche zum Ende hin ein. Immerhin liegen die 61 km von Salzburg erst acht Tage zurück und im Ziel summiert sich mein Wochenpensum auf über 110 Kilometer. Mal sehen was geht …

Mit ein paar schnelleren Kilometern habe ich die Meute um den Zugläufer hinter mir gelassen und auf Abstand gebracht. Ich brauche Platz zum Laufen, Schauen und Fotografieren. Wie erwartet hat der Kurs wenig Aufsehenerregendes zu bieten. Okay, dieser Kanal zu meiner Linken ist ganz nett. In der Hoffnung wenigstens ein verwacklungsfreies Bild zu schießen, nehme ich eine ganze Serie davon mit. Überhaupt feiert meine Fotografierwut auf den nächsten Kilometern fröhliche Urständ. Erlegt wird alles, was mir vor die Flinte kommt. Auch ein ziemlich betagter Rückwärtsläufer gehört dazu. Das letzte Exemplar dieser ungemein seltenen Spezies rannte mir gleichfalls in Italien vor die Linse, 2008 am Ufer des Tibers. Ein paar Stunden später, in Padua, fixfertig geduscht, entlang der Strecke auf der Suche nach Cappuccino und Kuchen, wird Ines und mir der Verkehrt-herum-Läufer wieder begegnen …

Vier Kilometer liegen hinter mir und das Gefühl nicht richtig auf Touren zu kommen will einfach nicht weichen. Irgendwie ist alles normal, nicht zu anstrengend, irgendwie aber auch wieder nicht. Kann’s nicht greifen, erst recht nicht beschreiben. Am ehesten so, als steckte jemand anders in meinen Schuhen, dem ich beim Laufen zuschaue. Der Puls dümpelt noch unter 70% Prozent meiner maximalen Herzfrequenz, wo er sich nach dem Einlaufen und bei dieser Geschwindigkeit eigentlich gar nicht mehr aufhalten dürfte. Merkwürdiges Körpergefühl. Aber ich bin ausgeschlafen, meine Sinne nehmen alles wahr und der Kopf produziert reichlich Gedanken. Eine Idee sogar blitzartig, beim Anblick des bereits zweiten oder dritten ähnlichen Spiegels, mit dem Anwohner sich die Ausfahrt aus ihrem Grundstück erleichtern. Bei der nächsten Gelegenheit knipse ich in die konvex gekrümmte Fläche, in der Hoffnung später darin Läufer zu erblicken. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönste im ganzen Land? Man kann sich mein Entzücken unschwer vorstellen, als das Bild später nicht irgendeinen Läufer zeigt, sondern den Fotografen selbst, hübsch verzerrt und auch noch gestochen scharf.

Solcherlei Selbstbespaßung brauche ich, weil die Strecke nun kilometerweit gar nichts hergibt. Haus an Haus, Gewerbe an Gewerbe, Zaun um Zaun, Tankstellen und Straßenschilder bilden schon die größten Aufreger. Zu allem Überfluss spritzen ein paar Regentropfen aus dem sich zunehmend verfinsternden Himmel. An sich nicht der Rede wert. Was mich daran stört ist die Drohung von mehr Wasser … Obwohl Fabrizio – der Wirt unserer Unterkunft – behauptete, Regen bräuchte ich heute nicht zu fürchten. Allerdings lernte ich Fabrizio als begnadeten Schwallredner kennen. Er hat uns so umfangreich mit Daten, Tipps, Hinweisen, Rat- und Vorschlägen zugelabert, dass davon, rein statistisch betrachtet, unmöglich alles stimmen kann.

Camposampiero (nicht zu verwechseln mit Campodarsego) hat sich für den Maratona S‘Antonio rausgeputzt. Im Zentrum spannen sich massenhaft Girlanden mit italienischen Wimpeln über die Straßen und ungemein viel Volk jubelt am Straßenrand. Im Spalier hat auch eine Abordnung in historischen Gewändern Aufstellung genommen, sichtbarer Ausdruck stolzen Bürgertums und patriotischer Gesinnung. Ganz und gar italienisch eben. Wie von einem Stroboskop blitzlichtartig erhellt, rauschen die Szenen an mir vorbei. Zuweilen fürchte ich, die ständige Knipserei lenkt mich zu sehr ab, könnte Details vor mir verbergen oder Eindrücke verwischen. Unterlassen werde ich es dennoch nicht. Die Kleinstadt Camposampiero bildet nicht nur eine Station des Marathons, hier werden später auch die Läufer des Halbmarathons auf die Strecke entlassen und zwar entgegen unserer Laufrichtung … aber davon nachher mehr.

Am Ortsausgang von Camposampiero, nach knapp neun Kilometern, vollführt die Strecke einen abrupten Knick um 90° nach rechts, ostwärts. Marathonläufe bestehen aus einer schier endlosen Kette gegensätzlicher Empfindungen. Eben noch Freude über ein hübsches Fotomotiv; kurz die Sorge, da der Wind nun von vorne weht, könne er mich auskühlen, umso mehr, weil es immer wieder von oben tröpfelt; dann die Entspannung in der Lendenregion, als ich endlich die ersehnte Deckung finde, um mich zu erleichtern. Selbstverständlich kenne ich Regeln, die dergleichen vermeiden helfen. Anlässlich eines Trainingslaufs nehme ich es damit aber nicht so genau. Zur Strafe muss ich nun ausgerechnet zwei Schritte hinter dem 3:45h-Pacemaker in den Wettkampf zurück. Seine orangefarbenen Ballons flattern neben meinem Ohr – „Bomm, bommel, bomm, bommel und bomm“. Höchst irritierend, weswegen ich mit kurzem Zwischenspurt, teils unsicher neben dem Asphaltband tappend, nach Abstand trachte. Wieder in Lauffreiheit überwinde ich eine der wenigen, „gigantischen“ Steigungen der Strecke. Zwei, höchstens drei Meter rauf, dann blicke ich vom Brücklein ins trübgrüne Wasser eines (Entwässerungs-?) Kanals.

Trotz eingeschränkter Zuschauertauglichkeit des Wetters säumen immer wieder Menschen die Strecke – übrigens auch viele weibliche. Wettkampfsport wird in Italien – wie überall in der Welt – überwiegend von Männern betrieben, das Erleben als Zaungast ist aber durchaus eine Sache der ganzen Familie. Wie zum Beispiel jener fünf (ich unterstelle einfach mal, dass sie miteinander verwandt sind), die sich an Händen fassen und eine „La Ola“ nach der anderen produzieren. Der Kamera recken sie stolz die Brust entgegen und jede trägt einen Buchstaben zur Anfeuerung bei: F – O – R – Z – A!

Auch das Dorf Rustega versucht sein Bestes, um die Läufer zu unterhalten. Eine Blaskappelle schmettert just in diesem Augenblick die ersten Töne. So hätte ich fast das Spalier der Cheerleader-Girls übersehen, die hinter der Absperrung auf ihren Einsatz warten. Unübersehbar beherrscht dagegen der „Campanile“ (Kirchturm) die Szenerie. Wie häufiger in Italien steht er solo, ohne Verbindung zum Kirchenschiff. In diesem Fall trennt Turm und Gotteshaus sogar die Straße.

Italien ist herrlich grün im April. Saftige Wiesen und frisches Blattwerk „erquicken“ das noch von winterlichem Graubraun ermüdete germanische Auge. Ein bisschen hilft mir das über die augenblicklich „unerquickliche“ innere Verfassung hinweg. Vielleicht hat sie damit zu tun, dass das Tröpfeln mittlerweile in Nieselregen übergegangen ist. Viel zu zäh geht mir nach nur 13, 14, 15 Kilometern die Sache vom Fuß. Das linke Knie meckert ab und zu und vom Rücken zieht es „seltsam“ in die linke Pobacke. Nicht, dass ich mich ernstlich sorge, aber mein Trainingsprogramm der letzten Zeit war offenbar ziemlich hart. Sollte ich langsamer laufen, um ein Finale unter Qualen zu vermeiden?

Langweilig wäre ein zu hartes Prädikat für den Kursverlauf, unspektakulär trifft es da schon eher. Zwar wechseln wir nun häufiger die Richtung, so häufig sogar, dass mir letztlich die Orientierung abhanden kommt. Wirklich Berichtenswertes hat die Gegend aber nicht im Angebot. Von einem blinden Helden kann ich erzählen, einer, der Marathon im ewigen Dunkel läuft, von einem Begleiter am kurzen Strick geführt. Auch von einem Ausdauergenie soll die Rede sein, der einen erwachsenen Mann im stinknormalen Rollstuhl dem Ziel entgegen schiebt. Dazu muss er den Oberkörper ständig nach vorne neigen. Seine Kreuzschmerzen möchte ich morgen nicht aushalten müssen …

Halbzeit. Für mich nach ziemlich genau 1:51 h. Welche Zeit wird am Ende stehen? Stimmen aus der „bewegten Abteilung“ tönen mittlerweile optimistischer. Dennoch wage ich kaum zu hoffen, den Rest im selben Tempo zu absolvieren. Egal. Nicht nur am Himmel wird es heller, auch in meinem Kopf. Die mental härtesten Kilometer sind abgehakt. Am Anfang meiner Marathonkarriere waren das meist die letzten zehn vorm Ziel, dann für einige Jahre jene ab Halbmarathondistanz bis endlich die „30“ das nicht mehr unendlich ferne Finish signalisierte. Inzwischen, nun schon bei etlichen Marathons, empfinde ich die Kilometer 13, 14 bis zum Halbmarathon als psychisch härteste Prüfung. Vielleicht, weil ich Marathons meist zur Vorbereitung von Ultras laufe und somit nie wirklich frisch an der Startlinie stehe; weil ich nach einem Viertel der Strecke bereits den Substanzverlust spüre und noch sooo viele Kilometer vor mir habe.

Auch heute steigt mein Stimmungsbarometer nach der halben Distanz: 22, 23, 24, … in rascher Folge hake ich die Kilometertafeln ab. Neben der Strecke gibt es nichts Bemerkenswertes zu sehen, also auch nichts wovon zu erzählen sich lohnte. Laufen genügt sich selbst. 25, 26, 27 … meinen Zwischenzeiten fehlt heute Konstanz. Sie tanzen einen wilden Boogie-Woogie um den Mittelwert von etwa 5:12 min/km. Je nachdem, ob ich trinke, wie oft ich fotografiere (wo es eigentlich nichts abzulichten gibt) und wie lax ich die Tempokontrolle handhabe. Mein Schweißverlust war bisher höher, als das kühle Wetter vermuten ließe. Angebotene Schwämme heiße ich willkommen, reibe mir Gesicht und Nacken damit ab. Kilometer 29: Der eckige Rundkurs ist vollendet, wir kehren nach Campodarsego zurück. Dem Zentrum zu stehen die Zuschauer dichter. Von links dröhnen die Bässe einer Rockband. Ein Mitläufer ballt die Hand zur Faust, nimmt gut gelaunt den Rhythmus auf. Ausgetreckte Kinderhände wollen abklatschen. Beifall und Jubel nehmen zu. „Bravo! Brava! Forza Ragazzi!“

Das hätte ich mir ja denken können! Wir stoßen auf die Hauptstraße von Campodarsego und schwenken nach links Richtung Padua. Von rechts windet sich ein gewaltiger Lindwurm heran und frisst uns auf mit Haut und Haaren. Kurz überwiegt der Eindruck als wären die Halbmarathonläufer im selben Tempo unterwegs wie die paar versprengten Marathonis. Slalom laufend muss ich meinen Irrtum recht schnell einsehen. Glücklicherweise ist die Straße breit genug, so dass wirkliche Behinderungen ausbleiben. Eine Handvoll läuferisch Unbedarfter verlangt allerdings erhöhte Aufmerksamkeit. Da tänzelt man schon mal unmotiviert zur Seite, um sich dem Hintermann zuzuwenden und ein Schwätzchen zu beginnen. Oder eine Amazone erstarrt mitten auf der Straße und zupft ihre derangierte Garderobe zurecht (fehlen nur noch Schminkspiegel und Lippenstift). Ein anderer steht wie ein Fels in anbrandender Flut, um mit einem Bekannten am Straßenrand „parlare“ zu machen. Für alle anderen gilt: „Attenzione! Attenzione!“

Seit geraumer Zeit fiel kein Tropfen mehr vom Himmel. Inzwischen drückt die Sonne durch die Wolken und zwingt mich den Schweiß häufiger von der Stirn zu wischen. Schlussendlich, nach gut 30 Kilometern, teilen sich die Wolken und die warme Aprilsonne darf mir den Schlussabschnitt versüßen. „Benvenuto sole mio!“. Ich grüße dich von Herzen, auch wenn du mich nun im eigenen Saft schmoren lässt. Immerhin fahre ich auch wegen dir so weit, um Marathon zu laufen.

Geradeaus, Minute um Minute; links Wohnbebauung, rechts die grüne Flanke eines Damms. Vermutlich verbirgt sich ein begradigter Fluss oder Kanal dahinter. Immer wieder brandet Applaus auf, wenn eines der zahlreichen Zuschauernester passiert wird. Unverhofft von hinten ein bekanntes, jetzt und hier freilich völlig deplatziertes Geräusch. Es hört sich an wie … Hufgetrappel auf weichem Untergrund. Sekunden später galoppieren vier Reiter auf der Dammkrone vorbei, von den Marathon-Tifosi beklatscht und mit scherzhaften Bemerkungen begleitet.

Kilometer 32, 33, … Wider Erwarten werde ich nicht langsamer, noch muss ich, wie eigentlich befürchtet, kämpfen. Als ob die Sonne meine tief entleerten Akkus wieder aufladen würde. Kilometer 34, 35, … am besten drückt man es so aus: Die „Verstädterung“ nimmt zu, Padua ist nicht mehr weit. In mir drin verselbständigt sich etwas ... schleichend, denn einen Zeitpunkt, ab dem es begann, kann ich nicht nennen. Ebenso wenig vermag ich zu erklären, warum es geschieht: Ich werde schneller! Ich werde schneller, weil ich schneller laufen will! Der Wille zeugt einen Gedanken: ‚Wäre doch schön mal wieder einen Marathon zu finishen, bei dem ich auf der zweiten Hälfte nicht langsamer werde!’ Mit tendenziell steigender Frequenz setze ich Schritte auf dem Asphalt. ‚Schaffe ich es vielleicht doch unter 3:40 h?’ Lust auf schnelles Laufen, Lust auf mehr Leistung, Spaß daran sich zu fordern. Nun zieht es nirgendwo mehr im Gebein und das zähe „Geschlurfe“ zwischen Kilometer 13 und 20 habe ich sicher nur geträumt. Ich spüre Reserven und setze sie ein …

Padua!? Wir müssen längst in Padua sein, auch wenn ich die Ortstafel offensichtlich verschlafen habe. Ich arbeite mich durch Außenbezirke, eher gesichtslos und ohne Flair. In schier endloser Folge wechseln Wohn- und Geschäftshäuser jeglicher Art und Größe. Immer wieder auch Zuschauer auf dem Bürgersteig, in Einfahrten, auf Balkonen oder in Fenstern. Hier an der Peripherie der Stadt vermutlich viele, die zwangsweise Zeuge unseres Treibens werden. Mit aufmunterndem Beifall und Anfeuerung sparen sie dennoch nicht.

Ich überhole wie besessen. Niemand überholt mich. Meine Pace liegt längst bei etwa fünf Minuten pro Kilometer. Im langen, sanften Anstieg einer breiten Brücke geht es über das Gleisgewirr vorm Hauptbahnhof. Selbst diese Steigung vermag mich nicht zu bremsen. Im Gegenteil: Ich verspüre Lust auf Fotoexperimente; knipse in vollem Lauf rückwärts, um Läufer von vorne, vielleicht mit Gleisen im Hintergrund, abzulichten. – Wie bitte? Wieso ich mir den Lauf auf diese Weise zusätzlich erschwere? – Keine Ahnung. Es macht mir einfach Spaß und es geht doch um nichts anderes als anzukommen und möglichst jede Phase des Laufs zu dokumentieren.

Geht es wirklich um „nichts anderes“? Du hast doch längst ein Ziel, stürmst doch nicht aufs Geratewohl drauflos. Zugegeben: Der Gedanke an eine Zeit unter 3:40 h lässt mich nicht mehr los. Es ist als hätte mein Ehrgeiz die ersten dreißig Kilometer verpennt, um nun – geweckt von Sonne und Wärme – alles nachzuholen. Schon reichlich beschwipst von der Droge Marathon renne ich auf das Stadttor „Porta Molino“ zu, davor über eine mit groben Kieseln gepflasterte Brücke. Wohin zuerst blicken, was mehr genießen? Die steinernen Zeugen der Geschichte vor mir oder die herrliche, ein bisschen an Venedig erinnernde Ansicht von der Brücke? Kurzer Halt: Foto von der Brücke. Und weiter, jetzt rein in die Altstadt. Schauen, dem historischen Padua huldigen, zugleich Tempo machen. Geht das? Bestimmt nicht jedes Mal, aber heute hab’ ich die Kraft dazu. Herrliche Stadt! Zur Droge Marathon setze ich mir jetzt noch den Schuss „Padova, Centro Storico“. Wahnsinn! Schattige Arkadengänge, hohe, herrlich restaurierte Wohnhäuser und dann … die erste Piazza. Vor lauter Entzücken stelle ich mich an den Straßenrand und warte ein paar Sekunden, bis einer fotogen durch die Szene rennt.

Und weiter! Ich habe keine Kilometertafel mehr gesehen. 39 nicht und 40 auch nicht. Muss längst dran vorbei sein – behauptet jedenfalls der GPS-Knecht am Arm. Ich will mich in der Schlussphase aber nicht auf ihn verlassen. Bin ich schnell genug? ‚Wenn ich nicht unter 3:40 h bleibe, dann war die Rennerei der letzten halben Stunde umsonst!’ Der Gedanke ist ziemlich idiotisch, was mich „naturalmente“ nicht daran hindert ihm zu folgen. Konsequenz: Noch schneller, deutlich unter 5 min/km. Der Sinnestaumel setzt sich fort. Rechts abbiegen, wieder links und entlang der prachtvollen „Piazza delle Erbe“. Von innen berausche ich mich mit reichlich fließender Energie, nicht wissend, woher ich sie nehme. ‚Egal, leg’ noch ’ne Schaufel drauf!’ Meine Euphorie erreicht den Siedepunkt. So vom Marathonerlebnis besoffen bin ich selten … Was für eine Stadt! Halt! Stehenbleiben! Ein Foto! Weiter! Und noch eins, wieder eins, unablässig. Enge, romantische Gassen, Passanten von Absperrungen an den Rand gedrückt, sogar ein Fußgängerstau hat sich gebildet. Weiter, bleib dran jetzt. Noch’n Bild, muss dafür auch mal kurz stehen bleiben, kann nicht anders. Und weiter, aufholen, unter 3:40 h bleiben …

Ständig Kopfsteinpflaster. Merke ich kaum heute. Was denn sonst als Kopfsteinpflaster? Diese Herrlichkeit darf man nicht mit Asphalt zukleistern … Wieder zwei, drei, vier Läufer überholt. Aus enger Gasse auf einen weiten Platz, links die bedeutendste Kirche der Stadt, Größe und Gestaltung des Vorplatzes lassen es ahnen. Später lese ich nach: Es ist die „Basilica S’Antonio“ mit dem Grab des heiligen Antonius, heute auch Schutzpatron und Namensgeber unseres Marathons. Vorbei. Nicht gelaufen. Gerannt! Ich biege in die nächste Straße und erspähe am Ende einen Zipfel des ovalen Platzes „Prato della Valle“, wo sich das Ziel befindet. Höchstens noch ein Kilometer. Blick zur Uhr. Es wird klappen! Ich mobilisiere Reserven, als ginge es um eine Bestzeit. Zugleich arbeitet meine Kamera. Eine solche Kombination aus Tempobolzen und Fotosucht habe ich noch nicht erlebt. Marathon Nummer 87 beschenkt mich mit einer neuen Variante läuferischer Selbsterfahrung. – Da steht Ines! Erst spät erkenne ich sie hinter der Kamera im Spalier der Zuschauer. Wunderbar! Jetzt knallt auch noch die letzte Sicherung durch. Winken und vorbei. Ich schwenke auf den Rundkurs um den nördlichen Teil des prachtvollen Platzes „Prato della Valle“ ein. Noch 300 Meter und kein Halten mehr. Aber Fotos! Hinterher wundere ich mich, dass alle gelingen – so wie heute alles gelingt. Die Zielgerade. Frenetisch kreischendes Publikum grüßt die Gladiatoren. Durch einen, zwei, drei, vier Triumphbögen von Sponsoren (Foto! Foto! Foto! Foto!) nehme ich Anlauf auf den einen, den wahren, den finalen … rausche noch am unendlich schönen Palazzo „Loggia Amuela“ vorbei (Foto! Selbstverständlich!) und darf nach 3:38:18 h nicht mehr weiterlaufen …

Ergebnis
Zeit: 3:38:18 h,
Platz 659 von 1.705 Finishern, Platz 27 von 95 in M55
1. HM: 1:51:00 h, 2. HM: 1:47:18 h

 

Veranstaltungsfazit

Man sollte Italien, Land und Leute lieben, um sich auf die anfänglich eintönige Strecke des Maratona S’Antonio einzulassen. Allerdings entschädigen die letzten vier Kilometer für jede noch so ereignisarme Passage. Das Flair rund um die Veranstaltung entspricht dem meiner vormaligen Marathonerlebnisse in Italien. Unter anderem deswegen nehme ich die weiten Anfahrten in Kauf …

Die Organisation vor Ort klappte ausgezeichnet und ließ wirklich keine Wünsche offen. Für vergleichsweise lächerliche 35 Euro war alles inklusive: Finisher Shirt, ein Paar Laufstrümpfe, Medaille, Pasta Party, Chip für die Zeitmessung, Transport von Padua zum Start, reichlich Verpflegung, Duschen in Zielnähe, usw.

Kritikpunkte: Ungewohnt träge reagierte die Organisation bei Rückfragen. Drei E-Mails blieben ohne Antwort, was ich von italienischen Veranstaltern gar nicht kenne. Normalerweise reagieren die auf Anfragen jeder Art sehr rasch. Die Homepage gibt nur in ihrer italienischen Version Auskunft über alle Belange. Die englische Übersetzung weist große Lücken auf, eine deutsche gibt es gar nicht.

Achtung: Mit Teilen des Reglements nimmt man es in Padua offensichtlich genau: Noch nie musste ich beim Abholen meiner Startnummer meinen Personalausweis vorzeigen! Und das Erlebnis beim Versuch einen anderen als den mir zugewiesenen Startblock zu betreten, weist in die dieselbe Richtung.

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang