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Heimatkunde  –  Saaletal Marathon 2012

Die Überraschung ist perfekt: Es regnet nicht. Zwar war das im März des Jahres 2012 in bayerischen Breiten kein Zustand mit Seltenheitswert. Zuletzt tummelten sich Draußensportler sogar häufig im Sonnenschein bei frühsommerlichen Temperaturen. Für diesen Samstag jedoch drohte der Wetterbericht mit nasskaltem Schmuddelwetter, zumindest hier in Nordbayern, im Tal der Fränkischen Saale. Und nun ist es trocken. Aber wird das auch halten? Zudem lassen mich lediglich 7°C und ein steifer Wind „vorausfühlend“ frösteln, das Lauferlebnis gewissermaßen mit Gänsehaut vorwegnehmen. Entschlossen und Dennis‘ irritierte Blicke ignorierend, packe ich mich warm ein: Drei Lagen langärmliger Shirts, lange Hose, Fleece-Mütze über die Ohren, zuletzt Handschuhe. Dennis – Vereinskamerad und heute Mitfahrer – lässt sich anstecken, streift mehr Klamotten über als er eigentlich im Sinn hatte. Bei unklaren Witterungsverhältnissen orientiert sich die eigene „textile Verunsicherung“ nur zu gern am fremden Kostüm. Das ging mir auch oft so.

Für mich hat Laufkomfort heute höchste Priorität. Der Saaletal Marathon im unterfränkischen Weindörfchen Ramsthal dient mir als langer Trainingslauf. Drei Wochen nach dem Bienwald Marathon, zwei Wochen vor einem 6-Stunden-Lauf und ohne Tapering geht es heute nur ums „Überleben“ – laufend selbstverständlich und nach Möglichkeit unter vier Stunden. Vom Anspruch der Strecke weiß ich vergleichsweise wenig: Ein fordernder Anstieg zu Beginn, einer etwa zur Streckenmitte, jeweils gut hundert Höhenmeter, mehr ist mir nicht geläufig. Auch für Dennis bildet der Saaletal Marathon nur eine Station auf seinem Weg zu anspruchsvollen, alpinen Ultraaufgaben. Seinem Trainingsstand entsprechend fordert er heute lediglich einen Sub4h-Trainingslauf von sich. Überraschend wissen wir zwei weitere Mitglieder der TG Viktoria Augsburg im Feld vor uns: Michael und Sonja – ich traf sie zuletzt beim Bienwald Marathon in Kandel – haben kurz entschlossen die Fahrt nach Ramsthal angetreten. Sie wollen sich hier auf den Supermarathon (72 km) am Rennsteig vorbereiten.

„Kampf und noch mal Kampf erwarten euch auf der anspruchsvollen Strecke!“ So klingt einer der weniger gestelzten Sätze aus der reichlich theatralischen Rede des Moderators. Unheilsschwanger sprühen seine Worte aus den Lautsprechern und senken sich auf etwa 500 für Halb- oder Marathon startbereite Köpfe. Wer sich mit mulmigen Einsteigergefühlen vorm größten Lauferlebnis seines Lebens wähnt, dem rutscht spätestens jetzt das Herz tief in die Hosen. 10 Uhr: Der mangels Pistole mit einfachem „Los!“ zelebrierte Start erspart uns weitere Tiraden. Nach der engen Startschleuse laufen wir abschüssig Richtung Hauptstraße, schlagen wenig später einen Haken nach rechts und streben in sanftem Aufstieg der Dorfmitte von Ramsthal zu. Kein Mensch hat je von Ramsthal gehört – außer er wohnt in der Umgebung, stolpert zufällig drüber, mag fränkischen Wein oder läuft Marathon. Bereits die dritte Auflage: Der Schoß einer nicht mal 1.200 Einwohner zählenden Gemeinde gebar einen Marathon!? Das hat was vom Geist des „Alsenborner Fußballwunders“. Jüngere wissen mit „Alsenborn“, ein Dorf bei Kaiserslautern, ca. 2.700 Einwohner, sicher nichts anzufangen, darum dies: Alsenborn kämpfte 1970 um den Aufstieg in die 1. Fußballbundesliga. Dabei spielte die Unterstützung von Fritz Walter, Kapitän der Weltmeistermannschaft von 1954 und in Alsenborn beheimatet, eine wichtige Rolle. Dennoch rieb sich die komplette Fußballwelt verwundert die Augen, als der Dorfverein SV Alsenborn mehrere Jahre nacheinander haarscharf den Aufstieg in die höchste Spielklasse verpasste …

Zurück zum Laufsport: In steter, aber moderater Steigung (anfangs bloß nicht zu schnell!) passieren wir die Häuser des zwischen bewaldeten Hügeln versteckten Ortes. An Süd- und Südwesthängen haben Rebstöcke die Bäume verdrängt. Spärliche, mit bloßem Auge kaum auszumachende Spuren von frischem Grün in Weinbergen und Forst unterstreichen den Anspruch des Frühlings. Verhaltenes Getrappel, gedämpfte Gespräche um mich her – ungewöhnlich zum Auftakt eines Marathons. Doch wohl eher nicht, wenn die Meute wie hier unablässig aufwärts strebt. Der Ort bleibt zurück und nach wenigen hundert Metern biegt die Läuferschlange auf einen rissigen, einst glatt betonierten Feldweg ab. Dennis trabt in Sichtweite vor mir, gleichwohl erwarte ich ihn bald aus den Augen zu verlieren. Zwar streben wir nach identischen Zielzeiten, haben uns dennoch nicht über einen Tandem-Lauf verständigt. Das ist mir ganz recht so. Ich will völlig zwanglos „mitschwimmen“, mich einzig nach inneren Echos richten. Bergan werde ich extrem langsam laufen, was sichtlich nicht Dennis‘ Marschzahl entspricht.

Der Höhenrücken ist erklommen. Entlang eines Waldsaums passieren wir Felder, überqueren wenig später eine großräumig von der Feuerwehr gesperrte Kreuzung und suchen jenseits des Gefahrenpunkts erneut Schutz am Waldrand; Schutz vorm Wind, von dem gottlob wenig zu spüren ist. Vor Jahrhunderten rodeten Bauern hier oben großflächig, erschlossen etliche, aneinander grenzende Äcker. Eine Agrarfläche, die in Gestalt eines ausgedehnten Rechtecks – na ja, ein bisschen Formfantasie ist hilfreich – tief in den Forst vorstößt. Die Ränder des Rechtecks geben uns für mehr als zwei Kilometer den Laufweg vor. Unterdessen, kurz nach Kilometer vier, passieren wir die erste Streckenteilung. Eine wahrhaft nicht zu übersehende Tafel schickt die 10 km -Läufer in einen Waldweg. Nur erspähe ich niemanden, der unsere Route verlässt. Wahrscheinlich waren die 10er alle schneller und sind schon durch.

Der Lauf ums landwirtschaftliche Viereck endet in Höhe mehrerer Motivationstafeln. Deren Ansporn ist aber personalisiert: „Stefan, du schaffst es!“ Bei solchem Aufwand bleibt „Stefan“ auch gar nichts anderes übrig, als bis ins Ziel durchzuhalten … Ein großer Findling markiert den Beginn eines Waldpfades, der sich schmal und kurzweilig durch Laubwald windet. Die Bäume präsentieren sich noch winterlich licht, bieten nur ein paar braune, vertrocknete Blätter auf, die allen Stürmen trotzten. Sanft senkt sich der Steig, mündet in einen Forstweg, der uns nach ein paar Minuten in eine weite Senke entlässt. Ich verfolge meine vielfach bewährte Taktik und mache auf rasant abschüssiger Strecke Zeit gut. Plötzlich habe ich Dennis wieder im Visier. Unser Abstand verkürzt sich rasch, schließlich hole ich ihn ein. Als ich für einen Schnappschuss entgegen der Laufrichtung kurz verweile ist er jedoch abermals auf und davon …

Was soll ich nun davon halten? Mit skeptischer Zurückhaltung begrüße ich die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Sie treffen mich durch ein blaues Loch, das die ausgefransten, rasch ziehenden Wolkenformationen für ein paar Sekunden aussparen. Jetzt bloß nicht träumen à la „Wann reißt der Himmel auf?“! Sonst fängt’s am Ende noch an zu regnen! Eine seltsame Form von Aberglauben ist das. Obschon tausendfach widerlegt, keimen doch immer wieder Bedenken, man könne mit allzu viel Sehnen – unverfrorenem zumal – das genaue Gegenteil erwirken. Als wären die Jahrhunderte der Aufklärung wirkungslos verpufft. Mehrfach, mit minutenlangem Abstand wiederholt sich das himmlische Intermezzo in der Folgezeit, bringt dabei Farbe in den bleichen Tag. Vielleicht … wer weiß …?

Sicher schwingt es in meinen Zeilen mit, muss dennoch klar ausgesprochen werden: Mir gefällt diese Landschaft. Zum Beispiel dieses abwechslungsreiche Tal. Zwar fehlt jegliches Schroffe und Spektakuläres gibt es nicht zu vermelden. Aber die sacht ansteigenden, mal von Wiesen, dann wieder mit Wald gekrönten Hügel und der sanft geschwungene Talgrund haben dennoch ihren Reiz. – „Von Augsburg ins fränkische Land gekommen!?“ spricht es aus lachendem Gesicht zu mir. Das Vereinstrikot verrät einmal mehr meine Herkunft, die „frängisch Schbroch“ den Mann als Kind hiesiger Breiten. „Wir sind sogar zu viert aus meinem Verein hergekommen!“ entgegne ich. Es bereitet ihm sichtlich Freude, dass der Saaletal Marathon Läufer aus weiter entfernten Regionen in seine Heimat lockt. Anscheinend will er sie mit mir teilen und betätigt sich kurz darauf als Fremdenführer: „Gleich kommt eine schöne Waldpassage!“

Der Weg verengt sich zum Pfad und verschwindet in einem Geländeeinschnitt zwischen Bäumen und Dickicht. Trotz fehlender Belaubung entsteht der Eindruck durch einen natürlichen Tunnel zu laufen. Sanft abwärts, dann wieder rauf, per Fußgängerbrücke über eine Bahnlinie, länger in lichtem Gehölz, dabei an Höhe verlierend. Durch einen Vorhang aus Baumstämmen reicht der Blick ein paar Meter tiefer und ein Stück hinaus in den Wiesengrund, wo einige Marathonis nach einem Schlenker der Strecke auf Gegenkurs unterwegs sind.

Kilometer 13: An einer Verpflegungsstelle kippe ich einen Viertelbecher Tee. Es schmeckt … ein bisschen süß und ein wenig nach … keine Ahnung wonach, anders als Wasser jedenfalls. Warum greife ich nach gesüßtem Tee? Eigentlich verschmähe ich Kalorien während eines Trainingslaufs. Wieder mal so eine Steuerung aus dem Unterbewussten: Tee klingt magenfreundlich „warm“, was er aber gar nicht ist; nicht sein kann, weil aus nicht isolierten Kunststoffkanistern eingegossen. Wenn ich schon das Unterbewusstsein bemühe, dann auch noch dies: Ein paar Meter weiter bringt mich eine spannende Perspektive – „Läuferschlange windet sich auf Weg durch Wiese Richtung Waldrand“ – zum Stehen. Ein Begleitradler beobachtet meine Schnappschüsse und fragt, ob er ein Bild von mir machen soll. Ich lehne dankend und ohne zu zögern ab. ‚Wieso tust du das?‘ frage ich mich kurz darauf. ‚Im Grunde gierst du doch nach Bildern von dir, um zum Beispiel den Laufbericht zu illustrieren!‘ Minutenlang beschäftigt mich mein vorschnelles, einfältiges Verhalten. War das Kopfschütteln über mich selbst nur ein gedanklicher Reflex oder konnten es auch andere sehen …?

Erneut schmiegt sich die Strecke an den Waldrand und erschließt ein Tal; ein neues oder das von eben? Aber das Flüsschen, einen Steinwurf weit entfernt, war vorhin nicht zu sehen. Ist das jetzt die Saale? Immerhin ist der „Saaletal Marathon“ bereits 14 Kilometer alt, also höchste Zeit mir den Namensgeber endlich vorzuführen. Beschluss: Bis zum Beweis des Gegenteils nehme ich meine Spekulation als Wahrheit. Kilometer 15 und 16: Flach und beschaulich am Waldrand dahin. Zuweilen trennen mich ausgedehnte Wiesen von der Saale, bis sie einen Bogen beschreibt und wieder meine Nähe sucht. Langsam nähere ich mich einer Ortschaft, kann schon Häuser und eine Kirchturmspitze unterscheiden, zuletzt die rotbraunen, aus Natursteinen gemauerten Bögen einer Brücke. Am Brückenkopf scheiden sich die Läufer: Halbmarathon nach links, Marathon über den Fluss nach rechts.

War es vor dieser Brücke oder später, da ich auf einer Hinweistafel las: „Fränkische Saale“. Fränkische Saale? Gibt es denn noch eine andere „Saale“? Erdkundliche Unwissenheit kann ich nur schwer ertragen und setze deshalb einen gedanklichen Merker. Daheim, im Internet beseitige ich meine Bildungslücke in Sachen Heimatkunde: Die „Fränkische Saale“ ist ein Nebenfluss des Mains und hat mit der durch Thüringen und Sachsen-Anhalt fließenden, letztlich in die Elbe mündenden Saale nur den Namen gemein (Zu allem Überfluss hat auch die Leine in Niedersachsen einen Nebenfluss gleichen Namens …).

Jenseits des Flusses, bereits innerhalb der Ortschaft Euerdorf, beginnt der zweite Hundert-Meter-Aufstieg des Marathonkurses. Das klingt weit dramatischer als es sich tatsächlich anfühlt. Beinahe unmerklich hebt sich anfangs das Gelände. Wahrscheinlich nehme ich es nur deshalb wahr, weil ich den Wettkampf ohne Erholung angetreten habe. Die Beine fühlen sich schon seit einer Weile müde an. Kein Grund zur Sorge. Vielleicht wird es zum Ende hin hart, aber ich werde durchhalten, wie bisher jedes Mal. Klare Gedanken, helle Gedanken. Die gerade wieder mit Macht und Wärme durch die Wolken brechende Sonne lässt innere Verfinsterung nicht zu. Um mich her bringt sie ein attraktives Bild zum Leuchten: Links mehrere Scheunen, dazwischen Unmengen akkurat gestapelter Holzscheite, eine weite landwirtschaftliche Fläche zur Rechten, getüncht von Erdbraun und Zartgrün, dekoriert mit ein paar dürren, abgestorben wirkenden Obstbäumen.

Zuletzt verliert sich die schon stark ausgedünnte Läuferkette im Wald. Die Steigung wird anspruchsvoller, aber an keiner Stelle wirklich hart. Keine zehn Minuten später weicht der Forst zurück und vor uns öffnet sich eine weite Hochfläche. Eine Herde weiß-brauner Kühe, alte, knorrige Obstbäume in Wiesen, ein einsam stehendes Anwesen, sogar eine alte Kirchenruine – solche Zutaten fügen sich gemeinhin zu einem idyllisch friedvollen Panorama. Dass ich es nicht so empfinde, liegt am kalten, böigen Wind, der uns hier oben erstmals voll und frontal erwischt. Augenblicklich bin ich wieder sicher goldrichtig bekleidet zu sein. Auch die aufregende Aussicht über das Tal der Fränkischen Saale lässt sich unter diesen Umständen nicht wirklich genießen.

Es geht abwärts. Zunächst auf festem, zum Teil auch asphaltiertem Geläuf. Doch mein fränkischer „Fremdenführer“, zufällig wieder einmal in meiner Nähe, bereitet mich auf einen „steilen Hang mit Kopfsteinpflaster“ vor. Voll konzentriert „stürze“ ich mich kurz darauf in den für Fußgänger eingerichteten, steilen Hohlweg, lasse mich weder vom Pflaster, noch einer engen Serpentine bremsen. Mehr als über die gewonnenen Sekunden freue ich mich über die Beschwerdefreiheit in Beinen und Rücken nach immerhin schon 20 Kilometern bei diesem tief ins Mark fahrenden Manöver. Leichtsinn meinst du? Für mich ist es eher eine Nagelprobe auf die Tendenz der letzten Wochen, in denen mir keiner der üblichen körperlichen Unruhestifter, trotz manchmal beinharter Trainingseinheiten, den Krieg erklärte.

Plötzlich habe ich Dennis wieder vor mir, der seit gut einen halben Stunde aus meinem Gesichtskreis entschwunden war. Abwärts geht er offensichtlich sehr vorsichtig zu Werke. Am Fuß des Abhangs trennen uns keine 30 Meter mehr. Auf den folgenden ruhigen und weitgehend flachen Kilometern entlang der Saale bin ich auf unergründliche Weise an ihn gekoppelt. Mal vergrößert sich die Distanz zwischen uns, dann wächst sie wieder, um darauf neuerlich auf ein paar Meter zu schrumpfen. Gefühlt laufe ich mit konstantem Tempo. Aber stimmt das auch? Versuche ich nicht unwillkürlich aufzuschließen? Das gemütliche Tapptapp auf feinem Asphalt zwischen Wald und Fluss endet in einem harschen, glücklicherweise kurzen Anstieg, dem sicher steilsten des gesamten Kurses. Dennis bleibt auf der linken, mich zieht es, die Ideallinie suchend, auf die rechte Straßenseite. Aus dem Augenwinkel nimmt er mich wahr und grüßt herüber. Ich grüße angestrengt zurück.

Wir finden uns nicht als eng verschweißtes Tandem, obwohl es auf den folgenden Kilometern, später von Dennis als langweiligste beschrieben, die er seit langem hinter sich brachte, häufiger danach aussieht. Woran liegt es, dass der Abstand innerhalb einer kurzen Spanne von „dicht dran“ bis auf 50 Meter wächst und wieder schwindet? Nur dann und wann kontrolliere ich, ob die Zwischenzeiten für ein Finish unter vier Stunden reichen werden. Ansonsten regeln meine Beine das Lauftempo selbst, auch wenn das vielleicht merkwürdig oder unverständlich klingt. Zwischen Beinen und Wahrnehmung im Kopf besteht eine direkte Verbindung, ohne mein bewusstes Eingreifen.

Auf einer der anscheinend für die Gegend typischen, rotbraunen Steinbrücken geht es über die Fränkische Saale und dann zwei, drei Kilometer entlang einer nicht allzu belebten Straße. Aus der Ferne dringt ein leises aber unüberhörbares Rauschen heran. Dies ist einer der wenigen Abschnitte, auf denen ich Roxi nicht hätte frei laufen lassen können. Ursprünglich sollte Roxi mich begleiten. Aber unser sprung- und laufverrückter Vierbeiner lahmt derzeit nach Sprints mit plötzlichen Richtungswechseln auf der rechten Vorderpfote und deshalb wollte ich nichts riskieren. Das Rauschen wird stärker. Nein, es stammt nicht von der Saale, die gäbe höchstens ein beruhigend träges Glucksen von sich. Wir unterqueren die Autobahn A7, machen einen Schlenker über Langendorf und hören kurz darauf ein weiteres Mal Fahrzeuge sechsspurig über uns hinweg donnern.

Die von Motorisierung beherrschte Zivilisation gehört bald wieder der Vergangenheit an. Zuletzt müssen wir noch unter einer Bundesstraße hindurch. Treppe runter, Fußgängertunnel, Treppe rauf und immer noch weitgehend beschwerdefrei. Stille Felder und Wiesen beherrschen die Aussicht auf dieser Uferseite der Saale. Noch 10 Kilometer. Es hat sich nichts verändert: Ich fühle mich nicht verbrauchter als etwa zur Halbmarathonmarke. Auch wenn ich weiß, wie rasch sich das im letzten Viertel eines Marathons ändern kann, nährt es die Zuversicht diese Geschwindigkeit ohne Gewaltakt bis ins Ziel zu konservieren. Dennis trabt hundert Meter vor mir und ich rechne eigentlich damit, dass er das Tempo auf dem letzten Abschnitt verschärft und bald nicht mehr zu sehen ist. An einem Verpflegungsstand im Dörfchen Aura trinkt er dann noch einmal in aller Seelenruhe, scheint sogar kurzzeitig unschlüssig zu verharren. Das ist der Moment, in dem er sich fragt, ob ich aufzuschließen versuche, um die letzten Kilometer gemeinsam zu laufen; eine Erklärung, von der Dennis jedoch erst im Ziel erzählt.

Wegen dieser „Zeitverschwendung“ steht er mir auf dem bald danach folgenden Abschnitt, unmittelbar am idyllischen Saaleufer, unfreiwillig Modell. Wir sind die einzigen Läufer weit und breit. Uferbüsche und Wolken spiegeln sich im träge dahin fließenden Wasser. Dann und wann bricht die Sonne durch die Wolken und zaubert blendende Reflexe auf die Oberfläche. Eine verträumte, besinnliche Stimmung als letzter Eindruck von der Saale. Als wir Euerdorf erreichen – dieses Mal aus entgegengesetzter Richtung – wenden wir uns alsbald Richtung Ramsthal.

Finale: Einen anstrengenden Schlussanstieg hatte ich befürchtet. Zwar geht es von nun an stetig aufwärts, allerdings mit meist unmerklicher Steigung. Da nur noch wenige Kilometer vor mir liegen, reduziere ich das Tempo nicht. Oder vielleicht doch, ohne es zu bemerken? Jedenfalls wird es gemäß mehrmaliger Hochrechnung reichen, um deutlich unter 3:55 h ins Ziel zu laufen. Ich habe heute noch in keiner Zeile gejammert, darum sei es mir jetzt gestattet: Fraglos tun die letzten Kilometer weh. Die tun immer weh, wobei es völlig gleichgültig ist, mit welchem Tempo und Einsatz ich zuvor unterwegs war. Außerdem ist dieses zurückhaltende Tempo heute fast grenzwertig, denn im Ziel werde ich über 90 Kilometer in fünf Tagen abgespult haben; unter anderem vor zwei Tagen noch ein hartes Intervalltraining.

Also überwinde und quäle ich mich – wie immer. Wo ist Dennis? Gut hundert Meter voraus setzt er noch immer leichtfüßig wirkende Schritte. Später wird er anmerken, dass er sich einen Knapp-vier-Stunden-Marathon weniger anstrengend vorstellte. Langsam werden die zu Ramsthal gehörenden Häuser im Talschluss größer. Ganz langsam. Einstweilen begrüße ich meine Lieblingsmarathontafel: „40 km“! Noch zwei läppische Kilometer zu laufen. Laufen im sicheren Bewusstsein, dass nun nichts mehr das Finish verhindern kann. Das macht die Beine weder schneller noch leichter. Aber die innere Not lässt sich besser ertragen. Gut ertragen. Noch ein Kilometer. Ich sehe schon die Autos auf dem Parkplatz und die Masten im Stadion. Durchhalten! Ein Läufer schlendert mir entgegen. Das Gesicht kenne ich! Es gehört Michael, der vor ein paar Minuten bereits durchs Ziel lief. Abklatschen und ein letzter verbaler Schubser bringen noch einmal Erleichterung. Die letzten 600 Meter, vorbei am Parkplatz, noch ein wenig steiler, um die Stadionecke, 50 Meter bergwärts und endlich ins Ziel.

Ergebnisse der TG Viktoria Augsburg-Läufer

Sonja: 3:39:18, Platz 3 (!) bei den Frauen, Platz 1 in der Ak
Michael: 3:39:18, Platz 25 gesamt, Platz 4 in M40
Dennis: 3:51:49, Platz 42 gesamt, Platz 7 in M30
Udo: 3:52:39, Platz 45 gesamt, Platz 5 in M55

 

Der Saaletal Marathon

Vieles an diesem Lauf ist erstaunlich. Vor allem natürlich, dass ein so kleiner Verein ein so riesiges Sportereignis auf die Beine stellt. Dann Menge und Potenz der Sponsoren und nicht zuletzt die hervorragende Organisation der Veranstaltung. Da auch die Strecke auf fast allen Abschnitten zu gefallen weiß, kann man den Lauf wirklich jedem Landschaftsläufer ans Herz legen. Publikum darf man nicht erwarten, wird aber von reizvollen Ausblicken und guter Stimmung mehr als nur entschädigt.

 

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