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Sachsens Glanz und Gloria – Dresden Marathon 2011

Was für eine Schnapsidee! Und zu spät dran bin ich außerdem. Erst acht Minuten vor dem Start geselle ich mich zu den anderen Teilnehmern des Dresden Marathons – ganz hinten, am linken Rand. Vor mir stehen ungefähr 8.000 Läufer und mit einem von ihnen bin ich verabredet. „Ich werde mich im Startblock links oder rechts an den Rand stellen“ mailte ich Nicolas. Nun tänzele, hüpfe, tippele ich unruhig und möglichst auffällig vor der Absperrung auf der Stelle, doch niemand signalisiert Erkennen. Ich weiß nicht mal, wie er aussieht. Was für ein Mist! Die Minuten verrinnen und ich finde mich mit dem Unausweichlichen ab: Als Hase werde ich heute arbeitslos bleiben.

So weit hinten bei einem wirklich großen Marathon stand ich zuletzt in Berlin 2002. Das war mein erster und ist 80 Marathons her. Irgendwie komme ich mir hier ganz verloren vor, nicht wirklich beteiligt und dazu gehörend. Ganz weit vorne spult man das Startritual ab. Von der sonst so fiebrig nervösen Atmosphäre kommt am Schwanz der Läuferschlange nur wenig an. Immerhin zählen alle gemeinsam die letzten Sekunden … und dann klatschen sie vor Freude, auch wenn kein Startschuss zu hören und an Loslaufen in der folgenden langen Minute nicht zu denken ist. Aber jetzt! Zehn Meter und … stopp. Ziehharmonikaeffekt. Noch ein paar Augenblicke warten. Losgehen, Trippelschritte, dann endlich laufen. Kurz vor der Startlinie stelle ich mich noch einmal an den Rand für zwei Aufnahmen, dann mache auch ich mich auf den Weg …

Grelles Sonnenlicht und vor allem die Kälte treiben mir Tränen in die Augen. Nur mühsam quälte sich das Quecksilber nach frostiger Nacht über den Gefrierpunkt. Obschon mir die Sonne wieder einen goldenen Marathonsonntag verspricht, will es einfach nicht wärmer werden. Der eiskalte, durch das Elbtal wehende Ostwind riecht schon verdammt nach Winter. Im langen Hemd, bemützt und behandschuht, werde ich Dresden hoffentlich ohne Frostbeulen wieder verlassen.

Wenn im Radio eine unbekannte, eingängige Melodie erklingt, frage ich mich manchmal, wie es sein kann, aus so wenig Zutaten – ein paar Noten, unterschiedliche Rhythmen und Tempovariationen – ständig neue Lieder zu komponieren. Laufe ich einen Marathon, stellt sich mir die Frage ähnlich und jedes Mal: Da gibt es nur die 42,195 zu überwindenden Kilometer, den Ort der Veranstaltung, das aktuelle Wetter und meine psycho-physische Befindlichkeit. Wie ist es möglich, mit so spärlichen Requisiten immer wieder einzigartige Schauspiele aufzuführen? Sie gleichen sich in vielem, doch erlebt man sie stets als Uraufführung. Mal im großen Haus mit viel Publikum, dann eher Kleinkunst, still, auf winziger Bühne. Heute dramatisch, morgen furios, gottlob selten als Trauerspiel und oft mit vielen komödiantischen Akzenten. Wie werde ich den Marathon heute empfinden?

Der Aufgalopp gestaltet sich schon mal interessant, verlangt aber ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit. Dicht an dicht und auf breiter Front strömt die Masse in Richtung „Moschee“. Ich bin auf der Hut vor Straßenbahngleisen, Bordsteinkanten, schwingenden Füßen, plötzlich unmotiviert quer schießenden Läufern und ärgerlichen Remplern, wenn es mal wieder einer supereilig hat. Na klar, ich verstehe diese Leute, ihnen bleiben schließlich nur noch gut 40 Kilometer um voran zu kommen … Langsamer, schneller, mal links, dann wieder rechts, vorsichtig vorbei an menschlichen Hindernissen. Aufpassen! Und ständig arbeitet meine Kamera, weil mir der orientalische Blickfang voraus keine Wahl lässt. Renne ich durch Dresden oder Teheran? Was ist das für ein Gebäude? Zwar gleicht es einer Moschee, doch der am Kuppelrand angebrachte, weithin lesbare Schriftzug „Yenidze“ klingt nicht arabisch. Schon auf dem Weg vom Parkplatz zum Start rätselten Ines und ich um die Wette. Vielleicht eine Synagoge? Aber „Yenidze“* steht in lateinischen Schriftzeichen geschrieben. Außerdem hätte ein markantes, weithin sichtbares Bauwerk jüdischen Ursprungs die Verbrechen des Dritten Reiches kaum überstanden.


*) Dank Wikipedia ist das Rätsel „Yenidze" rasch gelöst: Erbaut wurde die wie eine Moschee wirkende Fabrik 1909 vom Zigarettenfabrikanten Hugo Zietz, der mit der ungewöhnlichen Bauweise zugleich Werbung machen und Bauvorschriften umgehen wollte. „Yenidze“ heißt ein Anbaugebiet in Nordgriechenland (damals türkisch), aus dem Zietz Tabak importierte. Die Zigarettenfabrik diente auch der DDR-Wirtschaft als Tabakkontor.


Mir bleibt keine Zeit für tiefschürfendes Grübeln. Die Marienbrücke schiebt sich ins Sichtfeld und der mächtige Lindwurm aus Läufern schwenkt nach rechts zur Auffahrt. Einige hundert Meter sanft empor, im Bestreben Zusammenstößen vorzubeugen und doch langsam vom linken zum rechten Saum des Stroms zu schwimmen. Einfach, weil ich weiß, was mich auf dem Brückenscheitel erwartet: Ein atemberaubender Blick nach Osten über eine der schönsten Stadtsilhouetten dieser Welt. Man möchte in einer der seitlichen Brückenkanzeln verweilen, schauen, staunen, auf keinen Fall weiterlaufen. Und doch reiße ich mich nach dem obligatorischen Foto los und suche meinen Platz im Zug der Lemminge, stürme weiter voran.

Noch kein Kilometer gelaufen und in meinem Kopf drängen sich schon hundert Eindrücke. Säße mein Kopf auf einem Gewinde, er fiele nun bald herunter, so wild und unersättlich schwenkt der Blick umher. Dass ich zeitweise erbärmlich friere, verliert seine Bedeutung. Auch habe ich keinen Nerv auf so unwichtige Sachen wie Tempofindung zu achten. Schattenspiel und herbstliche Farben, Morgendunst und tiefblauer Himmel – ein unbeschreiblich schönes Gemälde von genialer Hand.

Im Schatten einiger Gebäudefluchten und eisigem Luftzug findet die Schwärmerei ein vorläufiges Ende. Was wird nun? Ich war darauf programmiert einen Schützling in knapp vier Stunden ins Ziel zu bringen. Über Plan B habe ich bis jetzt nicht nachgedacht. Wirklichem Ehrgeiz fehlt die Ausdauergrundlage. 3:45 h dürften in meiner momentanen Verfassung die ungefähre Grenze des Laufbaren markieren. Also diese 3:45 h anpeilen und anschließend völlig kaputt nach Hause gurken? Oder verhaltener laufen und die Sache mit Genuss zu Ende bringen?

Vielleicht sind meine Gehirnwindungen eingefroren, eine klare Entscheidung bringen sie jedenfalls nicht zu Wege. Weiter, wie gehabt, vorbei an der monumentalen Fassade des Völkerkundemuseums. Ich biege um eine Häuserecke und finde mich unvermittelt vor der Augustusbrücke wieder. Der Anblick haut mich um: Über die Brücke wimmelt ein Ameisenstaat auf Wanderschaft. Dahinter ragen die Türme von Hofkirche, Schloss und Frauenkirche in den Himmel – unwirklich, wie gemalte Theaterkulissen. Jeder Schritt auf holprigem Pflaster hebt mich ein paar Zentimeter höher, enthüllt mehr von den historischen Fassaden entlang der Brühlschen Terrasse. Dresden leuchtet und der Marathon ist vergessen. Unentwegt klickt die Kamera, fängt Sachsens Glanz und Gloria in allen Perspektiven ein. Sensationell! Gigantisch! Fantastisch!

Vor der Hofkirche schwenken wir nach rechts, passieren das Kirchenschiff und haben den wohl schönsten Musentempel Deutschlands, die Semperoper, fest im Blick. Einmal im Halbrund um den Theaterplatz mit seinem Reiterstandbild und von links grüßt der Dresdner Zwinger. Schließlich geht’s so dicht am Hauptportal der Oper vorbei, dass ich auf die Treppenstufen spucken könnte, stünden nicht dermaßen viele Zaungäste davor. Endlich zum Elbufer hinab und langsam legt sich meine Aufregung. Nach so viel großartiger Architektur hat der träge fließende Strom ein bisschen Mühe mein Interesse wach zu halten. Völlig zu Unrecht, denn für die hübschen An- und Aussichten zum Wasser, den Schiffsanlegern oder zum jenseitigen Ufer, wäre man bei vielen anderen Läufen dankbar.

Fünf Kilometer gelaufen und mangels kultureller Sensationen beherrscht das Marathongeschehen meinen Kopf. Ich checke mein Tempo: Wenn ich so weiterlaufe, bin ich etwa zwischen 3:45 h und 3:50 h im Ziel. Ach egal, passt schon, weiter so. Der Läufer mit Hund trabt schon geraume Zeit in meinem Sichtkreis, doch erst jetzt nehme ich ihn wirklich wahr. Leider, denn das versetzt mir einen wehmütigen Stich. Roxi, die Rennmaschine auf vier Pfoten und stets gut gelaunte, springlebendige Trainingsbegleiterin, fehlt bei Stadtmarathons – 40 Kilometer Leinenzwang ist nicht unser Ding.

Dann wendet sich die Strecke im rechten Winkel von der Elbe ab und ich besichtige das Dresden der Jetztzeit. So sehr ich mich mühe, Spuren von über 40 Jahren DDR sind kaum mehr zu entdecken. Die Erinnerung an meine erste Begegnung mit dieser Stadt, 1990, kurz nach Einführung der D-Mark, ist von ungläubigem Entsetzen geprägt: Graue, triste Fassaden, marode Straßen, massenhaft abbruchreife Gebäude, halbkaputte Fabriken, Verfall, wohin man auch blickte. Doch das war vor 20 Jahren und Phoenix erhob sich aus der Asche …

Inzwischen ist alles bestens in Schuss. Nichts Historisches, nüchterne Zweckbauten, wenig fürs Auge. Marathonroutine stellt sich ein: Laufen … Tempokontrolle … laufen … mal was trinken … laufen … in sich reinhorchen … laufen … Leute beobachten … laufen. Für ein paar Sekunden Aufregung und ein bewunderndes „Boaaah!“ sorgt die jenseits der Absperrung vorbeihuschende Spitze des Halbmarathons. Allesamt Kenianer, deren dürre Beine kaum den Boden zu berühren scheinen. Unwillkürlich denkt man an weite, schwerelose Sprünge von Gazellen und vergleicht die eigenen Bemühungen eher mit der Fortbewegung eines anderen, tonnenschweren Bewohners der Savanne … Dann wieder Routine: Laufen, laufen, laufen …

„Bist du Udo?“ Im ersten Augenblick glaube ich Nicolas in dem gelb gewandeten Läufer neben mir zu haben. Der Unbekannte stellt sich jedoch als häufiger Leser unserer Laufseite vor. Und auf den nächsten Metern singt Harald ein Loblied, das mich die Kälte des Oktobersonntags glatt vergessen lässt (das ist mir fast ein bisschen peinlich – aber nur fast). Nebeneinander und ins Fachsimpeln vertieft traben wir einige Minuten durch Dresden. Vielleicht wären aus den Minuten Stunden geworden, wenn mich nicht plötzlich, von schräg hinten, erneut die Frage ereilte: „Bist du Udo?“ Nun ist es wirklich Nic, der mich nach etwa neun Kilometern doch noch geortet hat!

Wir vergleichen die Uhren – Nic überlief die Startlinie fast zwei Minuten vor mir – und machen eine Bestandsaufnahme von Nics Befindlichkeit. Er erzählt von einer beginnenden Erkältung und wenig idealen Trainingsbedingungen im noch nicht lange zurück liegenden Urlaub. Dazu kommt seine Abneigung gegen lange Läufe im Training, die er lieber gleich durch gelegentliche Marathonläufe ersetzt. Zusammengefasst also keine guten Voraussetzungen endlich mal unter vier Stunden zu finishen. Aber Nic ist im besten Marathonalter und was er wirklich drauf hat, werden die nächsten Stunden zeigen.

Seite an Seite biegen wir in den Großen Garten ab, Dresdens weiträumigste Parkanlage. Wir queren die Miniaturgleise der Parkeisenbahn, halten genau auf das barocke Palais im Zentrum zu und umkurven das prachtvolle Gebäude auf bestens gepflegten Wegen. Am Ende des Hauptweges verlassen wir den Park und wenden uns Richtung Innenstadt. Hier steht die Kilometertafel 13 und eine Ansage für Nic ist fällig. Tempofindung und -berechnung gestalten sich wegen unserer Zeitdifferenz ein bisschen verwirrend. Zudem wechselt mein „Klient“ häufig das Tempo, muss bisweilen gebremst, seltener beschleunigt werden. Dennoch gelingt uns die Tempojustierung ganz passabel. Kurz hinter dem Park fällt mein Blick beiläufig auf einen futuristischen, rundum verglasten Neubau. Bank? Versicherung? Museum? Kongresshalle? – teuer war dieser Glaspalast allemal, was immer sich auch darin verbergen mag.

Es folgen zwei optisch langweilige Kilometer, gesäumt von lieblos hochgezogenen Nachkriegs-Wohnsilos. Neben DDR-Plattenbauten – vom Volksmund einst als „Arbeiterschließfächer“ verspottet – dominieren ältere „Mietskasernen“, deren Bau die Wohnungsnot im großflächig ausradierten Nachkriegs-Dresden lindern sollte. Da darf man keine baustilistischen Großtaten erwarten. Wer das herrlich restaurierte Herz der Stadt um Schloss und Semperoper gesehen hat, wird die architektonische Ödnis dieses Abschnitts umso schmerzlicher registrieren. Zumal, wenn er das Schicksal dieser Stadt kennt, die grauenvollen Bilder von Feuersturm und Verwüstung, vom Leiden und Sterben tausender Einwohner. Dresden erteilt Geschichtsunterricht, wo immer man geht und steht.

Weit voraus reckt Alt-Dresden seine Kuppeln und Türme über profane Betonburgen als gälte es die Ehre der Stadt zu verteidigen. Wir nähern uns wieder dem Bezirk „Glanz und Gloria“. Eine gleich lautende Bemerkung an die Adresse meines Mitläufers bleibt unbeantwortet. Verständlich. Liefe ich hart an meiner Leistungsgrenze, wären mir die steinernen Zeugen der Stadtgeschichte auch nicht so wichtig … Ein Schwenk nach rechts und alsbald finden wir uns auf der Carolabrücke hoch über der Elbe wieder. Mein stets lauernder, touristischer Instinkt ist sofort hellwach. Elbabwärts belohnt uns ein herrlicher Weitblick zur Dresdner Altstadt. Meinem Fingerzeig folgend meint Nic, er habe sich das gestern schon alles angesehen, weil er sich beim Laufen nicht mehr so recht daran erfreuen könne. Stromaufwärts genießen wir den reizvollen Anblick der am Elbufer entlang und unter der Brücke hindurch strömenden Marathonläufer. Dazu liefert der klotzige, aber keineswegs unschöne Bau des Königlich Sächsischen Innenministeriums (heute Sächsische Staatskanzlei) einen ehrwürdigen Hintergrund; ein weiteres Beispiel für Dresdens Reichtum an Baudenkmälern.

Eben dieses Innenministerium wird umrundet, bevor wir selbst den Uferweg und damit einen der hinreißendsten Abschnitte des Marathons unter die Laufschuhe nehmen. Pausenlos streicht mein Blick über Elbwiesen und Fluss hinüber zur Altstadt, fängt sich in den Konturen der Brühlschen Terrasse, verliert sich zwischen barock verspielten Vorsprüngen und Nischen. Eine der zahlreichen Rhythmusgruppen – waren es 6, 7 oder mehr entlang der Strecke? – hat sich vor dem Finanzministerium postiert und holt mich mit harten Beats von Wolke Sieben. Ein kurzer Fotostopp, dann jage ich Nic hinterher, um meinen Schrittmacherpflichten nachzukommen.

„Wie geht es dir?“ will ich von ihm wissen. Die Frage an sich ist überflüssig. Ein austrainierter Marathoni wird sie nach knapp 20 Kilometern immer mit einem irgendwie formulierten „Alles okay!“ beantworten. Dass ich sie dennoch stelle, verfolgt einen tieferen Sinn. Einerseits signalisiert die Frage „Es gibt jemanden, der sich um dich kümmert!“ Außerdem zwingt sie Nicolas auszusprechen, dass er sich wohl fühlt, was ihm vielleicht einen Schub Zuversicht mitgibt. Klingt nach tiefenpsychologischem Vorsatz, geschieht aber völlig spontan und intuitiv. Erst vor der heimischen Tastatur vermag ich Absicht und Sinn meines Spruchs zu entschlüsseln.

Es geht ihm gut. Schön! Also kann er die letzten zwei Kilometer von Runde eins hoffentlich auch genießen: In Höhe eines auf dünnen Säulen ruhenden Pavillons – oder vielleicht doch eine kürzlich gelandete, fliegende Untertasse? – verlassen wir die Uferpromenade und schlüpfen in den Schatten „kubischer“ Bäume. Der Gärtner ist nicht nur immer der Mörder, er hat in diesem Fall auch Mutter Natur übel ins Handwerk gepfuscht: Sämtliche Kronen einer geometrisch korrekt ausgerichteten Doppelreihe von Laubbäumen wurden quaderförmig beschnitten. 150 Meter Blätterdach, knapp über Kopfhöhe, dann rechtwinklig nach rechts, ums Japanische Palais (genutzt als Völkerkundemuseum) und schließlich zum zweiten Mal über die Augustusbrücke. Einmal mehr strahlt Dresdens Altstadt, einmal mehr bliebe mir der Mund offen stehen, wäre er zum Luftholen nicht ohnehin geöffnet. Ein aus zwei überwiegend identischen Runden bestehender Marathon, scheint in erster Näherung weder sonderlich originell, noch dem Rang einer Landeshauptstadt angemessen. Doch im Falle Dresdens kann man mir – und sicher auch vielen anderen – kaum einen größeren Gefallen tun, als diese wunderbaren Ansichten ein zweites Mal anzubieten.

Vor der Semperoper teilt sich der Läuferstrom: Halbmarathonis streben geradeaus dem Ziel entgegen. Nic und ich wenden uns nach rechts und nehmen zum zweiten Mal das Elbufer unterhalb der Brühlschen Terrasse unter die Sohlen. Als uns die Halbmarathon-Kontrollmessung „auspfeift“ haben sich die Reihen merklich gelichtet. Die Stoppuhr bestätigt Nic einen komfortablen Vorsprung von fast vier Minuten auf seine Zielzeit. Seit wir zusammen unterwegs sind schwitzt er ergiebig und atmet deutlich hörbar. Angesichts des Zeitguthabens und um das Projekt „Sub4h“ nicht zu gefährden, nehme ich deshalb unmerklich Tempo raus. Er hat mich zwar wissen lassen, auch von einer 4:05 h nicht enttäuscht zu sein; aber meine (Selbst-) Erfahrung nimmt ihm das nicht ab. Man schiebt immer Frust, wenn ein Ziel verfehlt wird … Außerdem summieren sich Zeitverluste rasch zu einer Viertelstunde, wenn der Hammermann erst einmal einen platzierten Schlag landen konnte …

Auf dieser Runde dürfen wir dicht am Elbufer ein Stück ostwärts laufen. Die Variante bietet mehr fürs Auge, setzt uns aber auch ungeschützt dem zuweilen auffrischenden Ostwind aus. Erneut beglückwünsche ich mich zur Entscheidung pro Mütze und Handschuhe. Die Temporeduzierung entpuppt sich schnell als unerlässliche Taktik, wenn sich Nic im Gegenwind nicht vorzeitig aufreiben soll. Zumal der Weg flussaufwärts gegenüber Runde eins um eine drei Kilometer lange Schleife verlängert wurde.

Wo wir zwei Stunden zuvor stadteinwärts abbogen, geht’s nun weiter geradeaus, vorbei an einer Großbaustelle. Aber das ist doch … Kein Zweifel! Das ist die berühmt berüchtigte Waldschlößchen-Brücke, die jahrelang bundesweit für Negativ-Schlagzeilen sorgte. Landschafts- und biotop-zerstörend waren zwei der ihr nachgesagten Eigenschaften. Ihretwegen verlor Dresden sogar seinen Eintrag in das UNESCO-Welterbe. Ob die schützenswerten Elbwiesen in ihrer Funktion tatsächlich relevant beeinträchtigt werden, wie viele Unken und Gräser letztlich weichen müssen, kann ich nicht beurteilen. Doch in der kontrovers geführten Diskussion rund um das Prädikat „Weltkulturerbe Dresden“ ging es vornehmlich um die Zerstörung des Landschaftsbildes. In dieser Hinsicht bilde sich jeder selbst eine Meinung. Was mich angeht, so sah ich selten ein unauffälligeres, zumal flussüberspannendes Großbauwerk als diese Waldschlößchenbrücke.

Weiter nach Osten, weiter gegen den Wind, weiter frieren, aber auch weiter herrliche Bilder sammeln. Am jenseitigen Steilufer der Elbe reiht sich Schloss an Schloss. Und nahezu jedes gebietet über einen eigenen Weinberg, der in Terrassen zum Flussufer hin abfällt. Eine fantastische Ansicht! Trotzdem bin ich dankbar, als wir in eine Seitenstraße abbiegen und uns von diesem Moment an mit dem Wind verbünden. Schritt um Schritt westwärts taue ich wieder auf. „Mit Mütze könnte ich überhaupt nicht laufen!“ höre ich von links hinten und wende mich in Richtung des hochsommerlich „bedressten“ Provokateurs. Der meint allerdings seinen direkten Laufnachbarn und nicht mich. „Ohne Mütze würde ich erfrieren!“ kriegt er dennoch von mir zu hören. „Das Empfinden ist halt sehr verschieden!“ vermittelt schließlich der eigentlich Angesprochene und trifft damit den Kern. Ich kenne keinen Aspekt des Langstreckenlaufs – mit Ausnahme der Ernährung während eines Wettkampfs vielleicht –, der so unterschiedlich gehandhabt wird, aber auch gehandhabt werden muss. Wie zur Bestätigung überholen wir ein paar Überlegungen später eine Bekleidungsvariante, die mir unterm Kuschel-Langarmshirt kalte Schauer über den Rücken jagt: Die Dame trabt in eng anliegendem, hauchdünnem Singlet-Top und ebensolchem Höschen vor mir her. Sehnig, muskulös – mit einem Wort: gertenschlank – hat sie nicht mal isolierende Fettpolster aufzuweisen. Sicher wird es ihr gelingen ohne Frostbeulen zu finishen, nur weiß ich nicht wie …

Die Extraschleife auf Runde zwei geht zu Ende, langsam schiebt sich wieder der Rohbau der Waldschlößchenbrücke ins Blickfeld. Man merkt ihr an, dass sich die Planer einer flachen, unaufdringlichen Bauweise verpflichtet fühlten. Selbstredend verändert die Brücke das Landschaftsbild. Dass sie der Naturschönheit Elbtal einen irreversiblen, optischen Schaden zufügt, vermag ich indes nicht nachzuvollziehen. Innerlich gespalten, da ich sonst Belangen des Naturschutzes Vorfahrt einräume und mich hier eher auf die Seite des so genannten Fortschritts schlage, biege ich mit Nic in Richtung fades Nachkriegs-Dresden ab.

Schon zu Beginn der Extraschleife hörte ich hinter uns Getrappel von etlichen Füßen. Es drang von der Gruppe um den 4h-Zugläufer heran, die die Distanz bis auf etwa 30 Meter verkürzt hatte. Das schien mir logisch, schließlich hatten wir zur Schonung einen Gang zurückgeschaltet. Dass uns besagter Pacemaker jetzt, etwa vier Kilometer später, mit langen Schritten überholt, ist dagegen völlig unverständlich. Wir sind wieder schneller unterwegs und haben netto noch immer einigen Vorsprung auf eine Vier-Stunden-Laufzeit. Ich meine Nics Erschrecken beinahe körperlich wahrzunehmen und beeile mich den Vorgang zu kommentieren: „Der richtet sich nach der Bruttozeit!“ wende ich mich an Nic und füge hinzu „Außerdem ist er viel zu schnell, denn wir halten genau 4h-Tempo!“ „Na hoffentlich!?“ meint Nic verunsichert, signalisiert im Übrigen, dass er sich völlig auf meine Schrittmacherdienste verlässt.

Nics Trinkpausen dauern nun schon länger – ein unmissverständliches, an mir selbst oft beobachtetes Indiz für wachsende Ermüdung. Es fehlt dann einfach die Konzentration Laufen, Atmen und Trinken sicher zu koordinieren. Um sich nicht wie ein Kleinkind zu bekleckern oder die feuchte Labsal aus falschem Körperkanal wieder aushusten zu müssen, bleibt man eben kurz stehen. Nic sorgt sich, mich mit dieser Taktik zu nerven. Mein salopp hingeworfenes „Das passt schon so!“ sollte ihn beruhigen. Ein weiteres Mal messen wir die Wege im Großen Garten ab und zumindest ich genieße den wunderschönen Park auch im zweiten Durchlauf. Unterdessen habe ich Nic wiederholt gefragt, wie es ihm geht. Zuletzt vor ein paar Minuten, da wir die Grenze zum Reich des Hammermanns überschritten. Er klagte lediglich über eine Blase am Fuß, sprach ansonsten von Reserven, die er noch habe. Werden sie reichen?

Kurz vorm Verlassen des Parks holen wir den 4h-Pacer wieder ein. Der trabt mittlerweile mutterseelenallein seinen Stiefel runter. Anscheinend hat er seine Klienten durch überzogenes Tempo verschlissen. Hinterm Park erwartet uns wieder der „Glaspalast“ und diesmal fällt mir sofort ein Firmenlogo ins Auge. Ich schaue genauer hin und erkenne hinter den spiegelnden Scheiben einer Art Turm oder Silo Neuwagen auf zig Etagen. Ab jetzt kann ich mit dem Begriff der „Gläsernen Manufaktur“ des Automobilherstellers VW in Dresden etwas anfangen. Außerdem ärgere ich mich ein bisschen. Nach Banken, Versicherungen und maßlosen Regierungsbehörden lassen sich nun auch schon Autoschmieden piekfeine, somit notgedrungen teure Denkmäler für die Ewigkeit errichten. Weiß noch jemand was das Kürzel „VW“ bedeutet? Mittlerweile wächst im Volk die Fraktion jener, die sich die rollenden Produkte nicht mehr leisten kann. Und wer einen der Gründe dafür kennen lernen will, der laufe in Dresden (Halb-) Marathon.

Nach dem nächsten Abzweig bläst uns wieder der Wind ins Gesicht. Mein Schützling kämpft sichtlich, weswegen ich ihn kurz entschlossen in meinen Windschatten bugsiere. Physisch hilft das sicher weniger, als mental. In Tandemformation trabend entsteht ein Foto von uns. Tati hat es gemacht, eine liebe (Ultra-) Bekannte, die mir schon auf Runde eins aus Zuschauerposition kurz zuwinkte. Nun begleitet sie uns für die Dauer eines kurzen Wortwechsels, bevor sie nach gegenseitigen guten Wünschen zurück bleibt.

Ich freue mich wie ein Schneekönig auf die letzten vier Kilometer. Noch einmal die tolle Aussicht beidseits der Carolabrücke erleben. Noch einmal das Elbufer abmessen, dabei ständig die Elbe und die dahinter aufragende Altstadtansicht vor Augen. Kilometer 39. Nic ist erschöpft. Obwohl unübersehbar, lasse ich ihn seine Schwierigkeiten aussprechen. Das hilft. Nur ein paar Schritte weit Erleichterung, aber immerhin. Ich habe meine Ansagetaktik schon vorzeiten geändert. Nach jeder Kilometertafel rechne ich ihm vor, wie langsam er laufen darf, um es noch unter vier Stunden zu schaffen. Erst waren es knapp unter sechs, dann genau sechs und schließlich ein paar Sekunden über sechs Minuten pro Kilometer. Ich rede lediglich vom Lauftempo; zwischen den Zeilen aber steht: „Halt jetzt bloß durch!“

Keine physische oder mentale Peitsche kann verhindern, dass du langsamer wirst, wenn die Kraft zu Ende geht. Und genau das passiert Nic zwischen Kilometer 39 und 40. Immer wieder reißt das unsichtbare Band zwischen uns, klafft rasch eine Lücke von zwei, drei Metern. Ich mindere zwar mein Tempo, bleibe aber „gnadenlos“: Aufschließen darf er nur mit schnelleren Schritten aus eigener Kraft. Damit zwinge ich ihn über seine Grenzen zu gehen, sich zu überwinden. Meine Spannung wächst, habe ich doch seinen Wunsch zu meiner Sache erkoren. Schafft er es nicht, werde ich dem Laufgott höchstpersönlich zürnen!

Wir traben an der fliegenden Untertasse vorbei und schlüpfen in den Schatten von des Gärtners kubischer Missetat. Noch zwei Kilometer. Wieder lässt Nic den Konakt abreißen und ich fürchte nun ernstlich um den Erfolg unserer Mission. Ich lasse ihn aufholen, schenke ihm ein paar aufmunternde Sätze. Noch läuft er. Noch. Weg von der Elbe, zum dritten Mal rund ums Völkerkundemuseum. Wieder pfeift der Wind von vorn und wieder dirigiere ich den müden Nic in meinen Windschatten. Ums Eck und ein letztes, herrliches Mal über die Augustusbrücke. Ich leide und genieße zugleich. Ich leide mit Nic, der nun sprichtwörtlich auf dem Zahnfleisch geht, und ich genieße diese letzten Meter einer bombastischen Aussicht in vollen Zügen. „Lauf aufwärts langsamer!“ Dankbar schaltet er zwei Gänge zurück und tippelt in Richtung Brückenscheitel. Unmerklich nur steigt das Pflaster an, aber wenn einer am Ende ist, erlebt er das wie die letzten Meter zum Gipfel des Nanga Parbat. „Geschafft! Wir sind oben!“ Ein in der Sache überflüssiger Beitrag. Einfach aufrütteln, mental in den Hintern treten, was Aufmunterndes sagen, schubsen mit Worten.

Dann bleibt die Brücke zurück und wir traben Richtung Semperoper. „Du hast jetzt fast noch zehn Minuten für den letzten Kilometer!“ feuere ich ihn an und füge mit Triumph in der Stimme hinzu: „Den Sieg kann dir keiner mehr nehmen!“ Die Antwort bleibt aus, aber ich weiß dass mein Spruch ihm hilft letzte und danach allerletzte Reserven freizusetzen. „Ich laufe voraus, um ein Zielfoto von dir zu schießen!“ sprech’s und ziehe ein paar Schritte davon. Nach lauthalsem „Hey Udo!“ ziehe ich noch mal kurz die Bremse an und winke Harald zu, der sich ebenfalls über die letzten Meter quält, aber schon mit einem glücklichen Strahlen im Gesicht …

Ich erwarte die zwei Finisher hinter der Ziellinie – beide bleiben sogar brutto noch unter vier Stunden – und halte den Augenblick im Bild fest. Dann gibt es den verdienten Lohn. Erst Schulterklopfen und Glückwünsche von mir, dann die Medaille vom Veranstalter, schließlich Ströme von alkoholfreiem Weizenbier eines Sponsors für alle. Beide hocken k.o. aber zufrieden am Boden. Ein schöneres Finish in Dresden hätte ich mir weder wünschen, noch ausdenken können: Operation gelungen, beide Patienten schwach, aber am Leben und glücklich …

Ergebnisse netto:

Harald: 3:58:12 h
Nicolas: 3:58:33 h
Udo: 3:56:47 h

 

Veranstaltungsfazit

Über 1.300 Marathonfinisher erlebten in Dresden eine der sicher weltweit schönsten Strecken. Natürlich sind solche Wertungen subjektiv und immer auch vom Wetter mitbestimmt. Dennoch sehe ich Dresden auch objektiv in einer Reihe mit den schönsten meiner City-Marathons, etwa mit Rom, Wien, Madrid oder Florenz. Nicht umsonst schmückt der Volksmund Dresden mit der Bezeichung „Elbflorenz“. In Deutschland kenne ich keinen Stadtmarathon, dessen Strecke mit dem Charme der Dresdner Doppelrunde konkurrieren könnte.

Organisatorisch gibt es keine Mängel zu beklagen, wohl aber Ausrufezeichen zu setzen. Da sind zunächst die langen Wege zwischen Parkplatz, Abholung der Startnummer, Start-Ziel-Bereich und Duschen zu nennen. 45 Euro Startgebühr klingt zunächst niedrig. Bedenkt man die kostensenkende Doppelrunde und Extrazahlungen für Chipausleihe sowie Finisher-Shirt (20 Euro!), dann findet sich der Lauf im oberen Preissegment deutscher Marathons wieder.

 

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