Zwangsläufig

oder:

Irgendwie hofft man immer auf ein Wunder

– Königsschlösser Romantik Marathon Füssen 2011


Hinweis: Die beiden sonnigen Bilder, das erste und das letzte auf dieser Seite, entstanden zu einem anderen Zeitpunkt.


Sonntagabend, acht Stunden nach dem Zieleinlauf beim Füssen Marathon 2011: Das Telefon klingelt; ein Freund und leidenschaftlicher Nichtläufer meldet sich am anderen Ende der Leitung.

Ich: „Hallo, grüß dich. Du willst sicher wissen, ob ich überlebt habe!?“

Freund: „Hallo Udo! Wie ist es denn gelaufen in Füssen?“

Ich: „Ja, ja … ich bin gelaufen in Füssen …“

Freund: „Das klingt nicht besonders enthusiastisch!?“

Ich: „Hattest du heute irgendwann mal Zeit aus dem Fenster zu sehen?“

Freund: „Weltuntergang in Füssen oder wie?“

Ich: „Kurz davor: Es war saukalt, der Himmel dunkelgrau, die Wolken hingen auf den Bergen, nur geregnet hat’s gottlob nicht.“

Freund: „Na also, dann war’s doch o.k.!?“

Ich (mit düsterem Unterton): „Überhaupt nix war o.k.!“

Freund: „Wieso?“

Ich: „Warum läuft einer Marathon im Sommer?“

Freund (selbstgefällig): „Keine Ahnung. Ich finde nicht mal einen sinnvollen Grund überhaupt so weit zu laufen.“

Ich (zähneknirschend): Eigentlich ist der Sommer mit seinen Hitzegraden der natürliche Feind des Marathonis. Aber wenn schon im Sommer, dann bitte leicht geschürzt in warmer Luft und unter bayrisch weiß-blauem Himmel. Natürlich habe ich kein Recht drauf und eine Garantie gibt’s schon gar nicht, aber diese Bedingungen erhofft man sich eben im Juli. Füssen sollte ein Genuss-Marathon werden. Nur deshalb war ich in Füssen gemeldet. Ich wollte mich für die Viecherei des ersten Halbjahres belohnen. Aber in langer Hose, langem Hemd, mit Mütze und Handschuhen kann man am 24. Juli, mitten in einer Zeit, in der sonst ein Stück namens „Hochsommer“ aufgeführt wird, nicht mehr von Genuss reden. Wir hatten 8°C beim Start um 7:30 Uhr! Ich könnte jetzt noch ausrasten ...“

Freund (mit Unverständnis in der Stimme): „Ach komm, wenn’s doch nicht geregnet hat …“

Ich: „Wenn’s das alleine gewesen wäre … Immerhin traf ich am Start Achim, einen Fori und wir liefen bis Kilometer 31 die Strecke gemeinsam.“

Freund: „Na also, geteiltes Leid ist …“

Ich (leicht angesäuert): „Lass die Sprüche. Ich ging ziemlich angeschlagen in den Lauf“

Freund: „Wie jetzt?“

Ich: „Gestern früh nach dem Aufstehen fing’s an: Kopfweh, Gliederschmerzen, Schlappheit und null Appetit. Hab Samstag so gut wie nix gegessen. Und heute Nacht wachte ich ungefähr 5.000 mal auf: Wenn ich mich zudeckte, floss der Schweiß, wenn ich mich aufdeckte, fror ich barbarisch.“

Freund (ziemlich irritiert): „Aber so kann man doch nicht laufen!??“

Ich: „Nein, so kann man nicht laufen und darf es auch nicht. Aber ich war angemeldet und fühlte mich beim Aufstehen nicht mehr schlapp, hatte nur noch Kopfschmerzen.“

Freund (mit Verwunderung in der Stimme): „Und das heißt?“

Ich: „Es war ein Versuchsballon: Hinfahren und schauen, wie es mir geht, wenn ich richtig wach bin. Es fühlte sich an, wie … wie … Mann, wie beschreibe ich das, du hast keinen blassen Schimmer vom Laufen … nicht normal eben, aber immer noch so, dass ich dachte in langsamem Tempo ein Finish hinzukriegen. Und Fieber hatte ich ja keins, auch Samstag nicht.“

Freund (abschätzig): „Euch Läufer werde ich nie kapieren …“

Ich, die Bemerkung ignorierend: „Im Auto, auf dem Parkplatz und dann auf dem Weg zum Start keimten immer wieder Zweifel, ob die Entscheidung zu laufen richtig ist.“

Freund: „Wie auch nicht bei deiner Vorgeschichte.“

Ich: „Die Bedenken kreisten weniger um den gesundheitlichen Aspekt. Ich war sicher, dass ich laufen kann, aber mit derselben Gewissheit wusste ich, dass ich nicht laufen will.“

Freund (leicht ungehalten): „Jetzt verstehe ich gar nix mehr. Ich dachte du hattest dich entschlossen zu laufen!?“

Ich: „Du musst das so sehen: Das Startgeld war bezahlt, ich war vor Ort in Füssen und fixfertig umgezogen, die Körperampel leuchtete in blassem Grün, nur Lust zum Laufen hatte ich absolut keine.“

Freund (wieder abschätzig): „Ich kann mich nur wiederholen: Euch Läufer werde ich nie verstehen …“

Ich: „Als mich dann am Start Achim in ein Gespräch verwickelte, war ich ein bisschen von meinem inneren Konflikt abgelenkt. Von dem üblichen Vorstart-Ritual habe ich wenig mitbekommen. Der Sprecher erzählte irgendwas von Wigald Boning, der angeblich auch mitlaufen sollte. Aber das hätte ich völlig vergessen – ins eine Ohr rein, zum anderen wieder raus –, wenn ich später nicht ein Foto von ihm in Füssen und in Laufmontur gesehen hätte.“

Freund: „Wer um alles in der Welt ist Wigald Boning? Bestimmt wieder irgend so eine Läufergröße, wie dein „Heiler Lassie!“ (Der Versprecher mit dem Fernsehhund Lassie geschah in verunglimpfender Absicht. Sogar mein Freund weiß, wer Haile Gebrselassie ist.)

Ich: „Wigald Boning, der Komiker, oder Comedian, wie man heute sagen muss, wenn man verschleiern will schon über 50 zu sein. Den kennst du doch. Ich hab dir doch mal erzählt, in den Neunziger Jahren, dass ich im Flieger von Augsburg nach Berlin neben ihm saß. Ich in Luftwaffenuniform und er im tuntigen, rosa Anzug mit Blumenornamenten, sozusagen zwei Männer in Arbeitskleidung. Einen krasseren Kontrast in Sachen Zwirn kann man sich kaum nebeneinander vorstellen …“

Freund: „Ach der. Von dem hat man in letzter Zeit wenig gehört. Aber offensichtlich lebt er noch, das heißt: Falls er lebend ins Ziel gekommen ist … aber nun erzähl vom Lauf!“

Ich: Schon kurz nach dem Start – man verlässt Füssen über die Hauptstraße in nördlicher Richtung – habe ich gespürt, dass ich nicht über die volle Puste verfüge. Außerdem fühlte sich mein Bauch komisch an. Achim und ich wechselten dann und wann ein paar Sätze; eigentlich kamen die mehr von ihm, von knappen Antworten meinerseits unterbrochen. Ich war einfach zu sehr auf mein Innenleben fixiert, wieder mal. Wie oft denn noch? Dann, bei Kilometer vier, gab’s die erste Ration Iso und schon ging das Drama wieder los.“

Freund: „Welches Drama?“

Ich: „Bauchweh, von oben nach unten in Wellen, wie beim 100 km-Lauf, nur nicht so stark. Auf dem Weg um den Hopfensee fragte ich mich ständig, warum ich mir das antue. Nicht die mindeste Lust zu laufen, nicht im Vollbesitz meiner Kraft und nun auch noch die Malaise im Unterleib. Und das bei der Umrundung des wunderschönen Hopfensees, durch Wäldchen, vorbei an Wiesen und Weiden, ständig in der Nähe der Schilfgürtel und oft mit Blick auf das herrliche Panorama der Berge. Na ja, das wäre eine herrliche Runde und der See wäre ein Kleinod der Natur, wenn … Ich kenne den Hopfensee von einem Spaziergang rund um den See, bei Sonne und angenehmer Temperatur. Verzeih mir mein Genörgel, aber vielleicht habe ich einfach zuviel Kälte und Regen bei den letzten Wettkämpfen ertragen müssen. Wenn du hart gegen dich selbst, gegen wachsende Erschöpfung, anrennst, dann empfindest du Mistwetter dreifach hässlich.“

Freund: „Aber dazu zwingt dich doch niemand!“

Ich: „Doch! Den unerbittlichen Sklaventreiber mache ich mir selbst.“

Freund: „Du bist mindestens so bekloppt, wie Wigald Boning in seinen Auftritten vorgibt zu sein … Aber laufen konntest du ja anscheinend?“

Ich: „Beim Pfützenspringen rund um den Hopfensee und der anschließenden kurzen Schleife durch die Wiesen vor Füssen, also bis etwa Kilometer 15, konnte ich bei unserem Tempo 5:30 min/km ganz gut mithalten.“

Freund: „Deine verqueren Tempoangaben sagen mir nix. Ich kenne nur, was auf meinem Autotacho steht. Aber was meinst du mit „Pfützenspringen“?“

Ich: „Es hatte in den Tagen vorher lange und intensiv gekübelt im Allgäu. Manche der nicht asphaltierten Wegstücke – die machen etwa die Hälfte der Strecke aus – waren mit Pfützen übersäht. Ach was rede ich von Pfützen, eher kleine Weiher über die komplette Wegbreite. Nach dem Hopfensee hatte ich nasse Füße.“

Freund: „Und dann?“

Ich: „Bei Kilometer 17 waren wir zurück in Füssen und bogen in Richung Festspielhaus ab. Zu diesem Zeitpunkt war mir zweierlei so klar, wie Kloßbrühe: Erstens werde ich den Lauf zu Ende bringen und zweitens keinesfalls in diesem Tempo.“

Freund: „Klingt für mich unlogisch. Wenn du schon weißt, dass die Sache in die Hose geht, warum hörst du dann nicht auf oder rennst wenigstens langsamer?“

Ich: „Ich glaube, das verstehen nur Läufer und von denen garantiert auch nicht alle. Erklären kann man das nicht. Wenn ich laufe, dann laufe ich so lange mich die Füße tragen. Und mein Wunschtempo halte ich so lange es geht. Irgendwie hofft man immer auf ein Wunder …“

Freund: Murmelt etwas nahezu Unverständliches, das ich als „Die spinnen die Römer!“ deute.

Ich: „Am Festspielhaus hatten wir schon 18 Kilometer runter. Traurige Sache, das mit dem Festspielhaus …“

Freund: „Wieso?“

Ich: „Na gebaut wurde der Schuppen exklusiv für das Musical „Ludwig II.“, doch mangels Interesse meldete man 2003 Insolvenz an. Dem Neustart des Musicals als „Ludwig2“ war dasselbe Schicksal beschieden. Seitdem finden dort nur noch sporadisch Aufführungen verschiedener Art statt und das Ludwig-Musikstück hat man als dritten Versuch nach Kempten verbannt. Ich möchte nicht wissen – kann es mir aber leider denken – wer auf den Schulden für die Edelruine in Füssen sitzen geblieben ist.“

Freund: „Sieht man das dem Gebäude an?“

Ich: „Nein, im Vorbeilaufen wirkt alles gut erhalten und der Park ist sehr gepflegt. Ab Höhe Schauspielhaus läuft man praktisch ständig in Sichtweite des Forggensees. Zuerst nach Süden, immer wieder mit Blick auf Neuschwanstein und die Berge. Aber heute hatte ich für beides keinen Blick. Auch sonst gab’s entlang der Strecke einiges zu sehen, worauf ich sonst „abfahre“ …“

Freund: „Was denn?“

Ich: „Zum Beispiel die drei Alphornbläser auf der Hopfenseerunde oder die – bedenkt man Witterung und frühe Stunde – verhältnismäßig zahlreichen, meist applaudierenden Zuschauer. Manche waren wahrscheinlich zufällig spazierend unterwegs, aber immerhin. Oder die Lechüberquerung am Kraftwerk, wo der milchig-grüne Lech wenig später in den Forggensee mündet. Und natürlich immer wieder freie Fernsichten über den See aus den vielen Buchten, die wir umlaufen haben. Man vergisst völlig, dass es sich um einen Stausee handelt, der überdies im Winter trocken daliegt. Alles gesehen, registriert, aber allem mit Gleichgültigkeit begegnet!“

Freund: „So schlimm?“

Ich: „Ich war einfach nur genervt. Genervt vom Grau über mir und am meisten von den Empfindungen in mir. Ich konnte mich selbst nicht leiden.“

Freund (schmunzelt): Zum Glück kann ich dich leiden und ein paar andere auch noch … das heißt, wenn ich’s recht bedenke … wer eigentlich?“

Ich: „Wenn zwischendrin der Wind über den Forggensee pfiff, war ich überaus dankbar für meine winterliche Montur: Mütze, Handschuhe, lange Hose beim Laufen und das am 24. Juli – unglaublich. Mir tat vor allem Achim leid, der einen nicht ganz so wortkargen Begleiter verdient gehabt hätte. Ich reagierte auf seine Bemerkungen nur noch nickend, kopfschüttelnd oder mit passend gefärbten Brummtönen.“

Freund: „Konntest du denn am Forggensee noch mithalten?“

Ich: „Da hatte ich schon mächtig zu kämpfen, hielt jedoch eisern den Schnitt. Aber jeder noch so mickrige Absatz oder Buckel fuhr mir mächtig in die Beine. Als wir bei Kilometer 27 das Seeufer in Richtung Berge verließen, hätte ich hohe Wetten darauf abgeschlossen in dem Tempo das Ziel nicht zu erreichen, aber …“

Freund: „ … die Hoffnung stirbt zuletzt!“

Ich: „Genau! Einstweilen war ich froh wieder asphaltierte Wege unter den Füßen zu haben. Die Uferpromenade am Forggensee ist mit recht grobem Splitt angelegt, der einiges an Körnern frisst.“

Freund: „Und dein Körnersäckchen hatte heute ein großes Loch.“ (Lacht, findet seinen Scherz gelungen.)

Ich: „Von hier an ständig Richtung Berge oder häufig auch großräumige Haken davor schlagend, das hätte der schönste Streckenteil werden können. Du kennst die Gegend: Wie eine gigantische Wand ragen sie hinter Füssen aus dem vergleichsweise flachen Vorland auf, die Gruppe der Tannheimer Berge, der Tegelberg, der Säuling und wie sie sonst alle heißen. Davor die prächtigen Königsschlösser, das einladend gemütliche Hohenschwangau und das märchenhaft verspielte Neuschwanstein, des verrückten Ludwigs Lust- und Traumschloss. Oder auch die hinreißende Kirche St. Coloman bei Schwangau.“

Freund: „Du findest eine Kirche hinreißend?“

Ich: „In dem Fall schon. Sie ist vor allem hinreißend platziert, mit nichts drum herum als großflächige Wiesen und vor dem Hintergrund der Berge. Ich habe meine Pflicht erfüllt, blieb sogar für ein Foto stehen, aber …“

Freund: „ … ansonsten war sie dir egal.“

Ich: „Mann, wenn du so drauf wärst wie ich es war, wäre dir so ziemlich alles egal!“

Freund: „Wenn ich so drauf wäre wie du es offensichtlich warst, würde ich vor allem keine Laufschuhe anziehen …“

Ich: „Erstens hast du keine Laufschuhe für deine krummen Füße und zweitens bist du kein Läufer!“

Freund: „Stimmt! In diesen Dingen bringe ich rein von Vernunft getragene Entscheidungen zu Wege! Zu Wege passt doch gut. Findest du nicht?“ (Lacht erneut, findet seinen Einwurf extrem lustig.)

Ich (seinen Scherz ignorierend): „Kurz hinter der Kirche läuft man fast zwei Kilometer an einem Bach entlang. Er fließt aus der Pöllatschlucht hinter Schloss Neuschwanstein. Am Bachufer wurde das Geläuf wieder ziemlich uneben und dort – etwa bei Kilometer 31 – hab ich dann die Fühlung zu Achim verloren. Ganz langsam. Erst nur ein paar Schritte, dann zehn Meter und irgendwann verlor ich ihn ganz aus den Augen.“

Freund: „Und welche Meinung hatte dein Bauch zum weiteren Geschehen?“

Ich: „Nach der Trinkpause habe ich es mit Cola versucht. Obzwar die Kohlensäure enthält, fühlte sich das besser an als Iso-Brühe. Die Bauchschmerzen waren zu dem Zeitpunkt kein Problem mehr. Vielleicht waren sie auch noch gleich stark, im vielstimmigen Kanon der übrigen Beschwerden aber nicht mehr richtig auszumachen.“

Freund: „Was denn für Beschwerden?“

Ich: „Na du weißt doch, dass man hinter Kilometer 30 alle Knochen im Leib einzeln spürt. Vor allem, wenn man so schwach ist, wie ich es in dem Moment war. Und meine linke Achillessehne zickte ein wenig. Das fing zur Halbzeit etwa an.“

Freund: „Du bist kein Läufer, du bist ein menschliches Wrack! Zumindest warst du das heute …“

Ich: „Wer solche Freunde hat, braucht keine … egal.“

Freund: „Und wie ging’s mit dir zu Ende?“ (Wieder dieses gemeine, kehlige Lachen eines nichtlaufenden Zeitgenossen!)

Ich: „Natürlich wollte ich trotz allem unter vier Stunden ins Ziel reiten und stellte bei jeder Kilometertafel Hochrechnungen an. Ohne natürlich einkalkulieren zu können, wie sich mein Tempo entwickeln würde. Zudem hatte der Streckenplaner ein paar der schlechteren Untergründe fürs Finale aufgehoben. Ein ziemliches Stück ging’s zum Beispiel über eine Wiese und anschließend wieder auf unebenem Waldweg dahin. Mehrere leichte Steigungen weist das letzte Viertel auch auf. Darauf war ich zwar mental vorbereitet, das hilft dir aber nichts, wenn du keine Kraftreserven mehr hast.“

Freund (süffisant): „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not!“

Ich (von seiner Klugscheißerei genervt): „Dein schlauer Spruch stimmt schon im richtigen Leben nur grundsätzlich. Hier passt er gar nicht. Zum richtigen Einteilen und Sparen muss man wissen, wie viel auf der Habenseite steht. Ich wusste heute früh nicht, wie viele Körner im Säckchen sind, um deine Metapher zu verwenden. Außerdem spielt beim Marathon auch die Psyche eine große Rolle. Mein mentaler Knockout kam in Raten: Erst Achim, der davon zog, dann, etwa bei Kilometer 36, überholte mich der Vier-Stunden-Zugläufer. Ziemlich deprimierend kann ich dir sagen.“

Freund: „Ich weiß, du willst ja nicht nur laufend ankommen, wie die meisten anderen Laufjunkies, sondern immer auch unter vier Stunden.“

Ich: „Ja und nein. Grundsätzlich gebe ich dir Recht; diese an mich selbst gerichtete Forderung ist bei meinem Trainingszustand unter normalen Umständen auch keine unüberwindliche Hürde. Aber heute war ich froh überhaupt laufen zu können und setzte mich nicht unter Vier-Stunden-Kuratel. Hätte es wider Erwarten geklappt – umso schöner. Wenn nicht, wusste ich immerhin warum nicht.“

Freund: „Und warum demoralisiert dich dann das Überholen des Zugläufers, mein unlogischer Freund?“

Ich: „Weil es mir noch nie passiert ist, weil ich schwach war, weil das Ziel immer noch sechs Kilometer weit weg war, weil ich sowieso keine Lust hatte und … willst du noch mehr Gründe?“

Freund: „Reicht schon. Aber geschafft hast du es schließlich doch!“

Ich: „Erst kam noch die Schleife um den versteckt und idyllisch gelegenen, kleinen Schwansee, von dem ich bis dahin gar nicht wusste, dass es ihn überhaupt gibt. Wie ich überhaupt einiges Neue in einer Landschaft entdecken durfte, in der ich schon bald hundert Mal war. Kurz vor Ende der Schwanseerunde hat’s mich dann erwischt. Am Streckenrand entsorgte ich den letzten Becher Cola.“

Freund (eine Spur angewidert): „Du hast dich übergeben?“

Ich: „Ja. Mir wurde spontan und ohne Vorankündigung schlecht. So wie das nur passiert, wenn ich meinem Körper mit zu hohem Tempo mehr Energie abfordere, als er geben kann. Dieser Akt stahl mir zwei Minuten und schenkte mir die Sicherheit es nun wirklich nicht mehr unter vier Stunden zu schaffen.“

Freund: „Du willst mir doch nicht sagen, dass du in deinem Zustand, mit ramponiertem Gestell und völlig erschöpft, noch Überlegungen zur Laufzeit angestellt hast!?“

Ich: „Wie hast du so schön gesagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Dabei ist das nur meine halbe Wahrheit, die volle lautet so: Die Hoffnung stirbt zuletzt und mein Ehrgeiz erst Sekundenbruchteile davor. Immerhin war Füssen bereits in Sichtweite. Noch über den Lech und dann konnte es nicht mehr weit sein. Weit war’s auch nicht mehr, aber zwei üble Anstiege waren noch zu packen. Einer vom Lechufer Richtung Stadt und später über jenen Felsrücken auf dem auch das Füssener Schloss liegt. Es mag abgedroschen klingen, aber ich schleppte mich wirklich mit letzter Kraft rauf und vorwärts. So nahe am Nicht-mehr-laufen-Können fühlte ich mich noch nie. Nicht mal nach den 24 Stunden im Berliner Hamsterrad. Vielleicht war es damals in Marburg 2007 ähnlich, beim missglückten Versuch mit dem Biel-Nachbrenner durch einen Sub3h-Lauf zu düsen. Das ist zu lange her und an besch … Empfindungen beim Laufen kann man sich ohnehin nur eingeschränkt erinnern. Jedenfalls packte ich auch die letzten Meter noch laufend und kurz vorm Ziel beklatschten Sybille und Dennis, beides Vereinskameraden, mein Finish.“

Freund: „Ende gut, alles gut!“

Ich: „Du und deine Sprüche. Wenn du das ein gutes Ende nennst …? Ich war im Ziel, endlich nach 4:05:11, aber völlig ausgepumpt.“

Freund: „Und wie geht’s dir jetzt?“

Ich: „Die Beine fühlen sich natürlich müde an. Ansonsten ist von der gestrigen Hinfälligkeit nicht mehr das Mindeste zu spüren.“

Freund: „Also war es in Ordnung, dass du gelaufen bist?“

Ich: „In körperlicher Hinsicht war es kein Frevel. An dem, was Laufen mir bedeutet, beging ich jedoch einen schlimmen Verrat.“

Freund: „Hilfe! Jetzt wird er philosophisch …“

Ich: „Nein keine Bange, das verstehst sogar du: Es ist einfach so, dass ich laufe, um Freude dabei zu haben, um schöne Bilder und Erlebnisse zu sammeln. Das ist meine eigentliche Motivation. Davon war heute keine Spur und das darf sich nicht oft wiederholen. Mit Sünden dieser Art zerstöre ich mir die Faszination Laufen …“

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Anmerkung: Freund und Gespräch sind Fiktion, das Geschehen und Erleben beim Füssen Marathon 2011 leider nicht. Irgendwann wiederhole ich den Lauf. Dann aber im Vollbesitz meiner Ausdauer und ohne Voranmeldung, an einem Tag, wenn die Sonne Löcher ins Füssener Land brennt …

 

Bedeutung von „Zwang“:
„innerer oder äußerer Druck, etwas zu tun“; (Quelle: Wiktionary)

Bedeutung von „laufen“:
„von Lebewesen allgemein: sich schnell auf den Beinen (selten: andere Gliedmaßen) fortbewegen“; (Quelle: Wiktionary)

 


Veranstaltungsfazit

Wieder gibt es an Planung und Durchführung nur eines auszusetzen: Das Wetter. Und wieder lässt sich die Schuld dafür nicht dem Veranstalter in die Schuhe schieben. Also Note eins für die Organisation.

Als Landschaftsläufer kann man sich kaum eine schönere Strecke denken, als die Route zwischen Hopfen- und Forggensee, vorbei an den Königsschlössern, am Fuß der Füssener Berge. Dazu kommt, dass man die Ansichten entlang einer vergleichsweise flachen Strecke einsammeln kann. Einen Wermutstropfen bildet lediglich der frühe Start um 7:30 Uhr, der jedoch notwendig ist, denn üblicherweise findet im Juli der Sommer statt. Zur Erinnerung: Das ist die Jahreszeit, in der das Quecksilber oft über 20°C ansteigt und man beim Laufen schwitzt.

 

Ergebnis: 4:05:11 h, Platz 367 von 611, Platz 23 von 41 in M55

 

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