Relativitätstheorie und Laufpraxis  –  Mannheim Marathon 2011

Auf der Suche nach ein paar Quadratzentimeter Sitzfläche verlasse ich das Kongresszentrum. In der Garderobe, im Untergeschoss, habe ich meinen Kleiderbeutel abgegeben. Von hier zur Startbox fehlen Luftlinie ungefähr 50 Meter und bis zum Start bleibt fast noch eine halbe Stunde. Leider sind alle in Frage kommenden Stufen und Absätze schon mit Läufern belegt, die ihren Beinen gleichfalls noch ein bisschen Ruhe gönnen wollen. Um die Ecke werde ich schon irgendwo eine Sitzgelegenheit finden, denke ich mir, und mache mich auf den Weg. Zunächst muss ich eine provisorische Brücke und den Zielkanal überwinden. Als „groben Unfug“ bezeichnete ich dieses Hindernis anlässlich meines ersten Mannheim-Marathons im damaligen Laufbericht, weil sich die Menschen dort gefährlich stauten und nur zentimeterweise vorwärts kamen. Heute schreite ich zügig drüber weg – warum auch immer – aber dann geht nichts mehr: Zwischen den mannshohen Gittern der Startboxen links und Gebäudefassaden zu meiner Rechten stauen sich Läufer und Zuschauer. Die Mehrheit strebt in meine Richtung, ein paar Verzweifelte kämpfen sich durch uns durch in Gegenrichtung. Unglaublich, wie bombenfest menschliche, zumal organisierte Ignoranz verkrusten kann: In all den Jahren, seit es den Mannheim Marathon gibt, hat der Veranstalter keinen zufriedenstellenden Start-Ziel-Aufbau zu Wege gebracht. „Grober Unfug“ ist ein viel zu lascher Ausdruck für diese Dreistigkeit.

Nach einer guten Viertelstunde (!) habe ich endlich einen Startplatz im Käfig eingenommen. Nicht so weit hinten, wie es meiner heutigen Zielzeitabsicht entspräche, aber ich bin froh endlich „irgendwo“ angekommen zu sein. Die Absicht, mich noch ein paar Minütchen sitzend zu sammeln, fiel dem Tohuwabohu zum Opfer. „Du könntest aber viel weiter vorne stehen“ meint mein Boxnachbar und deutet auf den Vermerk „A1“ auf meiner Startnummer. Die gute Startposition verdanke ich meiner Bestzeit. Dem Mitkämpfer mache ich klar, dass heute lediglich ein Trainingslauf knapp unter vier Stunden geplant ist. Auf der Rückenansicht seines Laufshirts lese ich „67. Marathon“. Also spreche ich mit einem Viel-Finisher und erspare ihm deshalb keine meiner Absichten (morgen früh wieder Marathon – 100 km im Juli) und Meriten (Biel – 24 Stunden-Lauf).

Ständig streifen mich andere Läufer auf ihrem Weg nach vorne. Nach heftigem Schubser eines unachtsamen Grobians frage ich meinen Nebenmann, ob es denn keinen anderen Zugang zu den vorderen Startboxen gibt, als von hinten und durch die Wartenden hindurch. Seinem resignierten Schulterzucken füge ich ein ebenso enttäuschtes „Die lernen’s nicht mehr!“ hinzu. Noch fünf Minuten. Ich schaue hinüber zum Staubereich, etwa zehn Meter entfernt. Noch immer verkeilen sich dort die Menschen, stecken fest, kommen nicht vorwärts. Dergleichen kommt dabei heraus, wenn eine Organisation die Organisation in den Mittelpunkt ihres Planens rückt und nicht den Menschen. Wäre es anders, hätte man nach etlichen Jahren eine Lösung gefunden, um diese quälende Enge zu entzerren.

Relativ weit vorne, kann relativ sinnlos sein …

Ich stehe und schwitze. Das macht die Schwüle in Mannheim bei weit über 20°C. Dabei scheint im Moment nicht mal die Sonne. Also werde ich trinken müssen, was mit aller Gewalt rein geht. Startschuss – endlich. Der Auftakt führt uns im Viertelrund um den wunderschönen Wasserturm und anschließend geradewegs durch ein Viertel mit Bürohäusern. Ich kenne die Strecke und erwarte nichts Sehenswertes. Seit geraumer Zeit verfolge ich drei Ballons. Ohne Zweifel jene Pacemaker, die sich schon am Start unweit der Startlinie aufhielten. Pacemaker – aber für welche Zeit? Der Abstand verkürzt sich, schließlich bin ich beinahe gleich auf und lese die Zahl auf den Ballons: „4:00“. Vier-Stunden-Pacemaker??? Und die stellen sich in Block A1, wo eigentlich keiner der 4 Stunden-Läufer hingehört? Schon wieder so eine organisatorische Narretei, bei der einem die Worte fehlen.

In Höhe des kleinen lokalen Flughafens passiere ich die Dreikilometermarke. Mein Tempo passt soweit, mein Laufgefühl überhaupt nicht. Die Beine sind müde. Natürlich verdächtige ich mich, nach dem Salzburg-Marathon vor 6 Tagen zu hart trainiert zu haben. Hätte ich das Fahrtspiel am Mittwoch besser sein lassen? Oder macht mir einfach der Klimawechsel zu schaffen. Immerhin fror ich mir vor weniger als einer Woche in Salzburg bei 10°C und Regen noch fast die Hände ab. Und jetzt, nach grad mal vier Kilometern, rinnt der Schweiß bereits in Strömen.

Weiter nach Westen, immer an der Peripherie des Stadtteils Seckenheim entlang. Viele Zuschauer säumen die Strecke und sparen nicht mit Beifall. Heute ist deutlich mehr Volk auf den Beinen als vor drei Jahren, bei kühlem Wetter und wolkenverhangenem Himmel. Voraus bietet sich das bekannte Bild – ein Wald von Hochspannungsmasten, in allen Perspektiven zu bewundern. Moment mal: So weit nach Westen liefen wir vor drei Jahren nicht. Ich weiß, dass die Schlusspassage der Strecke geändert wurde. Anscheinend werden die dadurch „verlorenen“ Kilometer schon hier wettgemacht. Als wir uns nach Kilometer neun auf einem Fahrradweg und zwischen Feldern wieder finden, bin ich sicher auf neuem Kurs unterwegs zu sein. An diesen hübschen „grünen Tupfer“ und die paar Minuten freien Ausblicks hinüber zu den Höhen des Odenwaldes würde ich mich sonst erinnern. Nach Kehrtwendung und guten fünf Minuten Ausflug ins Grüne werden wir dem Mannheimer Vorort wieder übergeben. Jetzt geht es direkt durch Wohngebiete, entsprechend steigt die Zuschauerdichte. Regelrechte Spaliere haben sich da und dort gebildet. Auch wer gerne Kinder abklatscht, kommt hier auf seine Kosten. Alle paar Meter ragt der Arm eines Dreikäsehochs in den Laufweg.

Kälte und Wärme sind relativ

Inzwischen steht die Sonne tief überm städtischen Horizont, was sie aber nicht daran hindert, mir immer noch mächtig einzuheizen. Wo möglich nutze ich den Schatten von Bäumen und Gebäuden. Ich sinne ein wenig über die menschliche … nein, das wäre zu hoch gegriffen … ich sinne also über meine Unzulänglichkeit nach. Vor ein paar Tagen klagte ich über Kälte und Regen, nun steht das Quecksilber ein paar Striche höher und schon wieder bin ich am Stöhnen. In Salzburg war’s relativ kalt, hier in Mannheim ist’s relativ warm. Dabei laufe ich gerne in schwülwarmer, gewitterschwangerer Abendluft. Doch heute setzt sie mir heftig zu. Eine andere Erklärung für die Müdigkeit in allen Fasern fällt mir nicht ein, denn das Training war so hart auch wieder nicht.

Alle 2,5 Kilometer steht eine Tränke mit Iso, Wasser, später auch Cola. Wenigstens die Versorgung ist vorbildlich geregelt. Von Mal zu Mal trinke ich mehr, um den enormen Schweißverlust auszugleichen. Bei Kilometer 17 zieht etwas „Fernöstliches“ vorbei. Durch zwei, drei Öffnungen in der massiven Mauer vermag ich ein Stück des Dachs einer asiatischen Pagode zu erkennen, mehr leider nicht. Schade, das wäre endlich mal ein interessanter Akzent an dieser bisher so faden Strecke gewesen.

Vielleicht beschert mir die untergehende Sonne ein paar aufregende Schnappschüsse. Inzwischen ziehen die Läufer extrem lange Schatten hinter sich her und immer wieder blitzt und blendet das Gestirn durch die Äste von Bäumen. Rechts rauscht eine schnell fahrende Straßenbahn vorbei, ein paar abendliche Spaziergänger beäugen applaudierend unser Treiben, mehr gibt’s nicht zu sehen.

Die Innenstadt von Mannheim hat mich wieder. Am Nationaltheater vorbei – einfach ein schmuckloser, viereckiger Kasten – geht’s auf den Friedrichsring. Mit jedem Meter wächst jetzt die Zuschauerdichte, denn der Start-Ziel-Bereich ist nur noch einen Steinwurf entfernt. Ein Seitenblick bleibt an der Leuchtanzeige eines Thermometers hängen. Für die Statistik: Um 20:20 Uhr werden im Zentrum Mannheims noch 25°C gemessen. Am Fuß des Wasserturms empfängt uns ohrenbetäubender Lärm. Applaus und Jubelgeschrei der Zuschauer mischen sich mit dröhnender Moderation aus Lautsprechern. Ich erwarte sie zwar nicht, kenne aber die Verblüffung der Zuschauer, angesichts eines plötzlich zum Rand hin ausscherenden und fotografierenden Läufers. Dass einer sich die vielen Kilometer zumutet mag ja noch angehen, aber dann auch noch Zeit für Fotos herschenken?

Vielleicht birgt die Mannheimer Innenstadt für Besucher mancherlei Sehenswertes. Da wird es schon Kirchen, Plätze, Denkmäler und anderes geben, eine oder mehrere Querstraßen entfernt. Oder etwa nicht? Wer – wie ich – nur Marathon läuft und anschließend wieder abreist, bekommt davon nichts zu sehen. Absperrungen, Menschen, Geschäfte, Restaurants, einer von mehreren „Dönern“ entlang der Strecke, das war’s. Wer das Laufen mit Publikum braucht oder sucht wird sich hier getragen fühlen. Stimmung und Unterstützung erreichen nicht unbedingt „Marathon-Berlin-Niveau“, aber immerhin.

Jetzt kommt wieder eher was für mich: Auf sanftem Anstieg und direkt gegen die Sonne traben wir auf die Kurt-Schuhmacher-Brücke. Das Bauwerk überspannt auf mehr als zwei Kilometern den Mannheimer Hafen, den Rhein und einen Teil der Ludwigshafener Innenstadt. Mein Tempo habe ich zumindest dramaturgisch geschickt gewählt. Erstens erlebe ich während der knappen Viertelstunde Brückenlauf den Sonnenuntergang*. Und zweitens fliegen hier oben, wo man sie schon von weitem studieren und bewundern kann, die führenden Kenianer vorbei. Ich finde in meinem Wortschatz weder Ausdruck für ihren phänomenalen Laufstil an sich, noch vermag ich den turmhohen Abstand zu meinem in Worte zu fassen. Möglicherweise gelänge es mir nach mühsamem Sätzedrechseln und Jonglieren mit Superlativen. Aber welcher leidenschaftliche Freizeitläufer will sich schon selbst beweisen, zu den Geringsten des Laufsports zu zählen …

*) Das Bild von Brückenauffahrt und Sonnenuntergang wurde nachbearbeitet und verfremdet.

Zur Brückenhalbzeit eine nette Überraschung: Ein DJ mit Gehilfe produziert heiße Rhythmen und streut auch ein wenig Anfeuerung auf die inzwischen reichlich dünne Läuferkette. Seine Beats sind Spitze und lockern mir die Beine. Seiner holprigen Wortwahl merkt man dagegen an, dass Läufer nicht zu seiner gewohnten Klientel gehören.

Die Geschäfte sind seit knapp einer Stunde geschlossen, entsprechend ausgestorben präsentiert sich die Ludwigshafener Innenstadt. Leben hauchen dann für ein paar Sekunden die prächtigen Farben einer gefliesten Hausfassade herüber. Dass es sich dabei um einen echten Joan Miró (55 x 10 m) an der Wand eines Museums handelt, erfahre ich erst zu Hause – dem Internet sei Dank. Auf dem Berliner Platz wird die samstagabendliche Stille kurz unterbrochen. Rund um eine Wechselzone für die Mannschaftsbewerbe und dröhnende Musik aus Lautsprechern haben sich ein paar Dutzend Schaulustige versammelt. Erneut fährt mir der Rhythmus in die Beine und trägt mich ein Stück.

Mannheim ist eine relativ schöne Stadt

Mannheim war für mein Empfinden schon ziemlich gesichtslos. Aber diese nächsten Kilometer durch Ludwigshafener Gewerbe, Wohnen und Amüsieren hallen noch einmal eine ganze Oktave öder in mir nach. Nicht nur die fortgeschrittene Dämmerung erklärt folglich die langen Ruhepausen meiner Kamera. Ich erinnere mich an wenig zwischen Kilometer 25,5 – dem Berliner Platz – und Kilometer 37 – da entern wir die Kurt-Schuhmacher-Brücke zum zweiten Mal. Immer wieder mal Ansammlungen von Menschen, applaudierend, grillend, essend, trinkend, lachend, feiernd. Mindestens so viele Kinderhände zum Abklatschen, wie Läufer auf der Strecke. Zuweilen nimmt das Remmidemmi schon Volksfestcharakter an. Und wie bei Volksfesten, besaufen sich ein paar. Das wäre mir egal, wenn nicht einige dieser zweifelhaften „Fans“ als grölende Slalomstangen auf der Straße herum tanzten. Alkohol macht glücklich! Blöderweise ist am nächsten Morgen alles wieder, wie es war, vom bohrenden Schmerz in der eigenen Birne einmal abgesehen.

Was war noch in Ludwigshafen? Ein Wahnsinnsaufgebot von Ordnungskräften, um die Sicherheit der Läufer zu gewährleisten. In beinahe jeder Seitenstraße warten ein paar Autofahrer, um zwischen Läufern passieren zu dürfen. Dann war da noch der Mitläufer im roten Dress, bald vor, dann wieder hinter mir. Er fällt mir auf, weil seine rechte Hand merkwürdig schlenkernde Bewegungen vollführt, währenddessen die linke eher wie eingefroren wirkt. Außerdem variiert er minütlich sein Lauftempo. Als er wieder einmal überholt, meint er anerkennend: „Du bist ein gutes Metronom!“ Für einige Kilometer heftet er sich an meine Fersen. Er atmet immer geräuschvoller, versucht krampfhaft Anschluss zu halten. Irgendwann, schon ein Stück vor der Brücke, verliert er den aussichtlosen Kampf gegen seine Schwäche. Schade, ich hätte ihn gerne ins Ziel gezogen.

Distanzen sind relativ

Den meisten Menschen, auch einer Mehrheit der laufenden, gelten 42,195 Kilometer als unüberwindliche Distanz. Ein Marathon wird jedoch immer kürzer, wenn man ihn deutlich langsamer als möglich und alle paar Wochen zum Training läuft. Daraus folgt: Die Marathondistanz ist relativ. Auf der Kurt-Schuhmacher-Brücke trabe ich meinen Stiefel runter. Das Licht der Straßenbeleuchtung verscheucht die Dunkelheit. Bereits mein sechster Marathon seit März. Trotzdem scheint die Relativität der Entfernung heute aufgehoben. Offensichtlich laufe ich nicht im Einsteinschen Raum-Zeit-Gefüge, sondern in einem Paralleluniversum der Kraftlosigkeit. Ich habe jetzt 37, 38, 39 Kilometer kämpfen müssen. Wogegen weiß ich nicht, aber „etwas“ in mir hat die Handbremse angezogen. Etliche Male griffen Gedanken dem Geschehen in Sorge voraus. Das Finish spielte dabei keine Rolle, ins Ziel komme ich so oder so. Morgen früh will ich einen zweiten Marathon laufen, 130 Kilometer von hier entfernt, im württembergischen Städtchen Welzheim. Nur deshalb gebe ich mir die läuferische Ödnis Mannheim-Ludwigshafen nach 2008 zum zweiten Mal. Ein Marathon-Wochenend-Doppel als Trainingsmethode vor schweren Ultraaufgaben ist kein Novum für mich. Und bisher überstand ich den zweiten Lauf jeweils ohne Einbruch. Aber seinerzeit war ich am Tag eins nicht so schlapp wie heute …

Auf dem Rhein tuckern zwei Schiffe Richtung Süden. Ihre von Positionslampen und dem Licht der Stadt erhellten Silhouetten locken mich von der Laufstrecke. Ich steige über die seitliche Betonbrüstung zum Brückengeländer und schieße ein Foto. Was für ein sinnloses Unterfangen: Um mehr als nur ein paar Lichtpunkte einzufangen, hätte ich den Blitz ausschalten und so die Automatik zu längerer Belichtungszeit zwingen müssen. Aber im Halbdunkel, ohne Brille und von 38 gelaufenen Kilometern erschöpft wird dergleichen zur unlösbaren Aufgabe.

Bei Kilometer 40 verlassen wir die Brücke und spulen noch ein bisschen menschenleeres, dunkles Mannheim herunter. Mehr und mehr durchzieht mich Erschöpfung – Beine wie Gummi beschreibt es am Besten –, die nicht der üblichen vor dem Finish eines Marathons entspricht. Ich blieb meiner Pace treu und werde in mäßigen 3:53 bis 3:54 h abschließen. An jeder Tränke habe ich genug Flüssigkeit eingefüllt, um die Dehydrierung verträglich zu halten. Für wachsweiche Beine gibt es also eigentlich keinen Grund. Noch ein Kilometer und ich merke, wie mich die Schwäche zusehends übermannt. Ein verheerendes Gefühl. Ich konzentriere mich auf meine Füße und versuche weiter rund zu laufen. Der Wasserturm. Getöse aus Lautsprechern. Noch ums Halbrund, dann bin ich im Ziel. Lichtspiele in allen Farben, die offizielle Uhr, kurz stehen bleiben, ein Foto, ins Ziel.

Weitergehen, nicht stehen bleiben. Ich hab’s eilig. Ich muss trinken, mich umziehen, 130 Kilometer fahren, duschen, schnellstmöglich abschalten und einschlafen. Morgen früh um neun will ich wieder am Start stehen. Also kippe ich im Versorgungsbereich ein paar Becher alk-freies Bier in mich hinein und unterhalte mich kurz mit Pieter, einem Fori. Das erste Frösteln wirkt wie ein Alarmsignal. Ich verabschiede mich und schnappe mir noch einen Becher Bier. Im gleichen Moment und mit Urgewalt packt mich ein Schüttelfrostanfall. So heftig, dass mir sogar das Gehen schwer fällt. Schon jetzt ist klar: Irgendetwas stimmt nicht mit mir …

Um 1:30 Uhr liege ich im Hotelbett in Welzheim. Mal ist mir zu kalt, mal zu warm und der Schlaf findet mich nicht. Was ist nur los? So habe ich mich nach einem Marathon noch nie gefühlt. Irgendwann gleite ich in einen Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen. 6:30 h: Beim Aufstehen fühle ich mich schwächer als gestern Abend im Ziel, habe bohrende Kopfschmerzen und dann auch noch Durchfall. Ich ziehe meine Laufklamotten an, esse was, trinke und starre eine Stunde lang die Wand an. Dabei brütet mein Kopf nur über der einen Frage: Habe ich eine Chance das Ziel in Welzheim laufend zu erreichen? Es mag lächerlich klingen, aber ich stehe sogar zweimal auf und trabe zum Test von einer Bettseite auf die andere. Eine schwere Geburt, vor einer solchen Entscheidung stand ich noch nie. Schließlich raffe ich meine Siebensachen zusammen, setze mich ins Auto und fahre unverrichteter Dinge nach Hause. Immer wieder fällt mein Blick auf die Uhr im Auto und ein Gedanke ist lange nicht tot zu kriegen: ‚Wenn ich jetzt umkehre, bin ich noch rechtzeitig am Start!’ – Letztlich traf ich die einzig mögliche Entscheidung, wie der restliche (Krankheits-) Verlauf des Sonntags und der Nacht auf Montag zeigte: Schwäche, Gliederschmerzen, Kopfweh, Durchfall, exzessiver nächtlicher Schweißausbruch.

Fazit zu Mannheim

Immer wieder unterstützten Zuschauer die Läufer und machten den Marathon auch zu ihrem Fest. Bei schwülwarmem Wetter sollte man seine Zielzeitambitionen um mindestens eine Viertelstunde mäßigen. In diesem Jahr erreichten nur 10 Läufer das Ziel unter drei Stunden. Und der Sieger, Isaak Cheruyiot aus Kenia, blieb fünf Minuten über seiner Zeit aus dem Vorjahr.

Mannheim-Ludwigshafen bietet die mit Abstand ödeste Strecke aller meiner bisherigen 72 Marathons und Ultras. Aber alles ist relativ und von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur abhängig. Ich weiß von Läufern, die sich ausgesprochen wohl gefühlt haben. Und jeder darf schließlich selbst entscheiden, wo er läuft und wo nicht.

Subjektives Erleben ist das eine. Ignoranz und Unfähigkeit des Veranstalters aber etwas völlig anderes. Ich will jetzt nicht von einem widersinnig platzierten Pacemaker reden. Aber Jahr für Jahr lobt sich der Mannheim Marathon selbst in den höchsten Tönen. Ebenfalls Jahr für Jahr verkeilen sich Menschen ineinander und die Organisation kümmert das nicht. Sie hält stur am einmal ausgetüftelten Aufbau und Ablauf im Start-Ziel-Bereich fest. Mitten in der drängenden Masse stellte ich mir vor, was wohl geschähe, wenn jetzt einer der Läufer oder Zuschauer mit einem Schwächeanfall zu Boden sänke … Es mag ja sein, dass Änderungen aufwändig wären und vielleicht auch den Profit um ein paar Euro schmälerten. Aber sie wären machbar und sie sind nötig. Warum werden sie nicht vorgenommen?

 

Ergebnis: 3:54:01, Platz 268 von 675, Platz 12 von 32 in M55

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang