Hinweis: Der Untertagelauf wird inzwischen nur noch als 10 km-Lauf veranstaltet! |
Das Geschehen ist außergewöhnlich, im Grunde verrückt: Alljährlich im Advent laufen vierhundert Erlebnishungrige einen Marathon in einem aufgelassenen Kalibergwerk, 670 Meter tief unter der Erde. Meine Erwartungen an die Welt unter Tage schwanken zwischen Bammel und Sehnsucht. Letzteres ist der grimmigen Kälte der letzten Tage geschuldet, in denen meine Lauflust, ähnlich der Quecksilbersäule, auf frostige Werte sank. Und drunten im Stollen sind mir sommerlich köstliche 25°C zum Laufen versprochen. Juchheißa! Das wiegt eigentlich alles auf, das Schaudern vor 1.240 Höhenmetern ebenso, wie den Vorstoß ins Unbekannte. Dort unten lauert etwas läuferisch Unkalkulierbares … nicht konkret fassbar. Das „Andersartige“ umflort alle Berichte, die ich zu diesem Ereignis las oder im Fernsehen sah.
In der OberweltAn diesem sibirisch kalten Samstagmorgen im Dezember folgen wir vom Hotel der Ausschilderung „Erlebnisbergwerk“ durch Sondershausen. Ein voller Parkplatz bereits kurz vor acht Uhr beweist, wie sehr sich viele von der Aussicht auf langes Warten bei der Einfahrt in den Schacht beeindrucken ließen. Der Empfang von Startnummer und Transponder ist eine Sache von drei Minuten. Jetzt fehlt noch Klarheit über Ines’ Abstieg in die Unterwelt. Von Begleitpersonen ist auf der magersüchtigen Internetseite des Veranstalters nur indirekt die Rede: „Das Einfahren in den Schacht ist nur Personen ab 10 Jahren gestattet!“ Tatsächlich verkauft eine Dame den Angehörigen der Läufer Tickets zu 13 Euro. Ob auch während des Marathons Ein- und Ausfahrten möglich sind, weiß sie leider nicht. Für uns eine wichtige Frage, weil unsere Hündin keine sechs Stunden alleine im Hotelzimmer, noch weniger im eiskalten Auto bleiben kann. In Sichtweite des
Über den StyxMit innigen Wünschen für gutes Gelingen lässt mich Ines in der unerwartet kurzen Warteschlange zurück. Bei jedem Öffnen der scheppernden Eingangstür weht ein eisiger Windstoß herein und verstärkt den Drang bald in den wärmenden Schoß von Mutter Erde einzufahren. „Ich brauche euch in Zweierreihen! Schön nebeneinander! Und alle den Helm aufsetzen!“ wiederholt der Bediener sein Sprüchlein, wenn sich wieder einmal die Tür eines der Förderkörbe für ein gutes Dutzend Läufer öffnet. Danach ertönt ein auf- und abschwellendes Heulen, das den Beginn der Fahrt signalisiert. Fröstelnd blitze ich noch ein wenig mit der Digicam umher – schließlich möchte ich mein Abenteuer auch mit Bildbeweisen belegen können – dann ist die Reihe an mir. In Sekundenschnelle und sittsam in Zweierreihen entern wir den roh mit Stahlblechen ausgekleideten Fahrstuhl. Die Tür rollt zu. Der Korb sinkt ein paar Meter, um sofort wieder zu stoppen. Über uns, auf Etage zwei, steigen trappelnd weitere Helmträger ein. Aufregung und Beklommenheit beherrschen das Häuflein der wie Schafe zusammen gepferchten Menschen. Scherze machen die Runde: „He! Ihr da oben: Nicht pullern!“ ![]() Kaum ist das Heulen verklungen versinken wir endlich im Schlund des Brügmann-Schachts. Etwa drei Minuten Rumpeln, Schlingern und eisiger Luftzug folgen. Manche stehen stumm, zwei plappern miteinander, andere scherzen. Mein eigener Wortbeitrag ist dermaßen witzig und wichtig, dass ich ihn schon während des Sprechens vergesse. Angst empfindet wahrscheinlich niemand, aber dem Gefühl des völligen Ausgeliefertseins kann sich wohl kaum einer erwehren. |
Nach Wikipedia zum Stichwort „Hades“: Der Hades, die Unterwelt der griechischen Mythologie, wird beherrscht vom gleichnamigen Gott Hades. Mit Hilfe des Fährmannes Charon, dem Empfang der Begräbnisriten und einer Geldmünze, dem so genannten Obolus, unter der Zunge kann der Fluss Styx, der Ober- und Unterwelt voneinander trennt, überquert werden. Kerberos ist der Höllenhund und Torhüter, der den Eingang zur Unterwelt bewacht. Kerberos wurde zunächst ein-, später drei- oder auch fünfzigköpfig dargestellt. Nebst einem Schlangenschwanz trug er noch Schlangenköpfe auf dem Rücken. Nach ursprünglicher griechischer Auffassung war der Hades gleichermaßen allen Sterblichen bestimmt, hoch oder gering, gut oder böse. Sie lebten dort nicht weiter, sondern westen nur als scheue Schatten. Der Hades blieb nur ganz wenigen, wirklich auserwählten Menschen erspart – sie wurden vergöttlicht und zu den Göttern auf den Olymp gesellt, wie Herakles. Nach späteren Vorstellungen entschieden die Totenrichter Minos, Rhadamanthys und Aiakos nach dem Tod über das Schicksal der Seele. Die meisten Seelen gehen in die von der Lethe (Strom des Vergessens) umflossenen elysischen Gefilde ein, wo sie als Schatten schmerzlos fortwesen oder auch in ewiger Glückseligkeit leben. Nach einer anderen, mindestens ebenso alten Vorstellung befand sich das Elysion in weiten Fernen jenseits des Okeanos, auf den Inseln der Seligen. Die Frevler aber werden in den Tartaros gestoßen, die tiefste Region, die von unheimlichen Gestalten bewohnt wird. Diejenigen, die Verfehlungen gegen die Götter begangen haben, sollen hier ewige Qualen erleiden. |
Obwohl wir mit hoher Sinkgeschwindigkeit gefahren sein müssen, kommt der Korb ruckfrei zum Stehen. Last in, first out: Die Fahrgäste über uns verlassen die Blechbox. Kurzes Anfahren, stoppen, Türöffnen und dann betreten auch wir die Sohle knapp 700 Metern unter Tage. Flankiert von beige-grauen,
halbrund gewölbten Stollenwänden folge ich meinen Mitstreitern. Der Boden ist betoniert und mit einer Schicht Kalistaub überpudert. Ich gehe, schaue, stehe, fotografiere und registriere beiläufig wie kalt es hier unten ist. Kalt? Eiskalt! Entsprechend geothermischer Gesetzmäßigkeiten hat die Temperatur pro 100 Meter Tiefe um etwa 3°C anzusteigen. Also lässt sich die Kälte im Bereich der Schachtöffnung nur durch die „Luftpumpenwirkung“ der Fördereinrichtung erklären. Eine Statue der Heiligen Barbara –
Schutzpatronin der Bergleute – hat man hinter Glas verbannt und ihr eine alte Lore auf einem Gleisstück zur Seite gestellt. Zierrat, Ausstellungsstücke, mit denen das Erlebnisbergwerk den Besuchern Bergbaugeschichte illustriert.
Bevor sich Bedenken in Sachen Kälte regen – immerhin will ich im Träger-Shirt laufen – passieren wir eine quer zum Tunnelquerschnitt eingebaute Holzwand. Trotz sperrangelweit offener Tür schlägt mir dahinter wohlige Wärme entgegen. An der Stollenwand stehen Biertischgarnituren in Reih und Glied, vom Heer der Läufer bereits dicht belagert. Mit jedem Schritt weg vom Eingang wird es wärmer. Schließlich finde ich ein Plätzchen im hinteren Bereich. 8:20 Uhr, mir bleiben also reichlich anderthalb Stunden bis zum Start.
Viel Zeit, um sich ein wenig im Hades umzusehen, Vorbereitungen abzuschließen und die unvermeidlichen Toilettengänge zu absolvieren. Das Örtchen finde ich am Ende eines rechtwinklig abgehenden Seitenstollens. Der enthält auch den Bewirtungsbereich, in dem mehrere Tresen, Stehtische, Buffets und eine Küche „sauber endgelagert“ sind. Durch einen verhältnismäßig engen Gang erreicht man von hier den Konzertsaal mit 340 Plätzen. Er wurde in Form einer gigantischen Blase aus dem Salz geschält. Später entdecke ich sogar eine Kegelbahn am Ende des Hauptstollens.
Unter den schmissigen Klängen einer Bergmannskapelle beginne ich mit den für eine Laufveranstaltung durchaus unüblichen Vorbereitungen, mit der Kombination von Fahrradhelm (Pflicht!) und Stirnlampe (empfohlen). Den Helm kaufte ich schon vor Monaten, extra zu diesem Zweck und für wenig Geld bei einem Discounter. Beim vorgestrigen Lauftest machte er sich wie erwartet, nämlich gar nicht, bemerkbar. Nach den ersten Schritten hatte ich das Ding auf meinem Kopf völlig vergessen. Die LED-Leuchte bewährte sich unter anderem schon in Biel. Beide Utensilien geben sich also unproblematisch in der Handhabung. Vielleicht entging mir deshalb, wie zickig sie sich dem Versuch der Kombination widersetzen. Mehrere Versuche die Lampe am Helm zu befestigen wollen auf dem glatten Kunststoff einfach nicht gelingen. Wie alt muss ich werden, wie oft zu Wettkämpfen antreten, um in der Vorbereitung keine Versäumnisse mehr zu beklagen? Schließlich kommt mir die rettende Idee: Mit einem Dutzend Sicherheitsnadeln drapiere ich das Band der Lampe am Helmrand. Den Abstand des Lichtkegels vor meinen Füßen verkürze ich mit einem Keil aus Toilettenpapier unterm Lampenfuß. Peinlich provisorisch das alles, aber es hält und taugt.
Die Zeit tröpfelt zäh wie heißer Teer. Diverse Matadoren lümmeln schon lauffertig in kurzen Klamotten auf den Bänken. Meine Tischnachbarin döst mit geschlossenen Augen. Die Startnummer ist befestigt, das Lauf-Shirt übergestreift, zwei Gelbeutel habe ich in der Gesäßtasche deponiert, die Trainingshose ausgezogen, die Schuhe sorgfältig geschnürt, die Senkel doppelt verknotet, das Halteband des Transponders am Arm enger gestellt und … nun fällt mir wirklich nichts mehr ein. Noch eine Dreiviertelstunde. Mit einem „Hallo Udo!“ kommt eine Gestalt im weiß-blau-rautengemusterten Laufdress auf mich zu. Den bekennenden Bayern habe ich vorhin schon bemerkt, aber wieder mal nicht richtig hingesehen. Martin – er ist mit mehreren Läufern aus Augsburg hier – hat mich zur richtigen Zeit entdeckt. Das Gespräch in der Gruppe verkürzt die Wartezeit.
Noch zwanzig Minuten. Ich fühle mich gut. Lediglich im Kopf hat sich ein leichtes Druckgefühl aufgebaut, dem ich aber keine Bedeutung zumesse. Ebenso wenig wie dem Anflug von Erkältung dem ich in letzter Zeit ausgesetzt war. Es wird Zeit für den abschließenden Toilettenbesuch. Leider wachsen hier unten keine Büsche, hinter die ich mich kurz verdrücken könnte. Also bleibt mir nur die Warteschlange vorm Örtchen.
Noch sechs Minuten. Langsam leeren sich die Bänke, alles strömt in Richtung Start. Flugs entledige ich mich meiner Trainingsjacke, setze den Helm auf und raste den Verschluss des Kinnriemens ein. Oh nein! Wieso ist der zu locker? Natürlich: Beim Probelauf trug ich eine Mütze drunter. Zerfahren nestele ich am Verstellriemen herum. ‚Zu blöd! Da habe ich endlos Zeit und vergesse dann ein wichtiges Detail!’ Unkonzentriert verschiebe ich zunächst den Riemen in die falsche Richtung. Menno! Jetzt ist er noch weiter. Schon reichlich hektisch gelingt mir zuguterletzt der Sieg über die Tücke des Objekts.
Mit langen Schritten verlasse ich den nun völlig leeren Bereich der Tische und schließe zu den anderen auf. Ein paar Meter hinter der Startlinie, an der Stollenwand, finde ich meinen Platz. Der Sprecher verlangt mehrmals Beifall. Wofür kann ich nicht verstehen. Vielleicht, weil die Lautsprecher so dröhnen, vielleicht aber auch, weil meine Zähne so laut klappern. Ich freue mich auf die Wärme im Bergwerk. Ein Foto von mir wäre nicht schlecht. Also übergebe ich einem Mitstreiter die Kamera. Er zeigt mir die Aufnahme und ich sehe sie … scharf! Oh Gott nein! Ich hab’ noch die Brille auf der Nase! Gehetzter Blick zur Uhr: Noch eine Minute. Was jetzt? Damit die Brille unversehrt bleibt, verstaue ich sie vorsichtig in der Gesäßtasche. Schon beendet ein Gongschlag den Countdown und die Meute setzt sich in Bewegung.
Runde eins: Um die Ecke nach links, leicht aufwärts, vorbei am Verpflegungsstand, ein paar Meter hinab und schon beginnt die insgesamt etwa 1,4 Kilometer lange Steigung. Sofort wird es wärmer, was meine trotz Pannen gute Stimmung weiter hebt. Die Steigung gibt sich moderat, der Boden griffig. Staub hängt in der Luft. Die Läuferschlange gleitet in einen rechtwinklig nach links verzweigenden Stollen, weiter aufwärts. Auch hier wirbeln unsere Füße Staub auf. Mir kommt die Feinstaubdiskussion der vergangenen Jahre in den Sinn. Ob das hier so gesund ist? Ach was! Die Partikel werden zu Boden sinken und auf der zweiten Runde laufen wir nicht mehr so dicht gedrängt. Vereinzelt dringen Gespräche an mein Ohr, Scherze, Lachen, vorherrschend das Scharren und Schlurfen vieler Sohlen auf salzig hartem Grund.
Die meisten Seelen gehen in elysische Gefilde ein, wo sie als Schatten schmerzlos fortwesen oder auch in ewiger Glückseligkeit leben.
Biegung links, gleich danach Kurve rechts und hinein in eine 200 Meter lange Schussfahrt; nur ein Kraft schonendes Intermezzo, denn sofort schaben die Sohlen wieder auf ansteigendem Geläuf. Viele gehen bereits jetzt. Wer mich kennt, weiß um mein läuferisches Selbstverständnis, das diese alternative Fortbewegungsart nicht zulässt; nicht so lange genug Kraft zum Laufen in den Beinen steckt. Die Rampe wird steiler, dann noch steiler, bis zu 18,5 % auf einem knapp 50 Meter langen Abschnitt. Ich überwinde die Steigung ohne Schwierigkeiten und erreiche alsbald den Scheitelpunkt. Dahinter weist der Stollen gleich wieder Gefälle auf. Der lange Aufstieg hat den Läuferstrom bereits stark gelichtet.
Fünfhundert Meter weiter erhellt die Neonbeleuchtung einen weiteren Buckel. Kaum hat sich der Puls der neuerlichen Belastung angepasst, überschreite ich den nächsten Sattel und nehme abwärts Fahrt auf – mächtig Fahrt sogar, angetrieben von 10% Gefälle. Vor
einem Verpflegungspunkt endet der Höllenritt. Erst einmal trinken, denn hier unten erwarte ich einen immensen Flüssigkeitsverlust. ‚Nur Wasser? Ach, auch Tee! Bei 25°C Tee? Kein Iso? Was soll das denn?’ frage ich lautlos und perplex in mich hinein. Mit zwei
Bechern Wasser im Bauch wende ich mich scharf nach rechts dem nächsten Tunnel zu. Versorgungsfrust lässt mich den entrichteten „Obolus“ überdenken. Heftige 50 Euro vermindert um den Betrag für das Befahren der Grube: Bleiben über 30 Euro. Und dann so eine armselige Bewirtung?
Der Stollenverlauf ist im Schein regelmäßig angeordneter Neonleuchten und zahlreicher Helmlampen gut erkennbar. Meine Sinne melden „Aufstieg“, sanft und dauerhaft, der auswertende Kopf hält auch ein Trugbild für möglich. Aufschluss geben die Beine. Sie müssen mehr Kraft investieren, als für dieses Tempo in der Ebene nötig wäre. Apropos Tempo: Wahrscheinlich werde ich heute erstmals einen Marathon in mehr als vier Stunden finishen. Meine Leistungswerte auf flacher Strecke, plus Wärmezuschlag, plus Höhenmeterzuschlag, lassen keinen anderen Schluss zu. Auf der ersten Runde werde ich vorsichtig, verhalten und voll nach Gefühl laufen. Die so gewonnene Zwischenzeit dient dann als Richtgröße für weitere Runden.
Der beinahe ebene Teil zieht sich. Zu sehen gibt es wenig: Ewig gleiche Tunnelwände, zuweilen den dunklen Schlund eines abzweigenden Stollens, Kontrahenten, die mich überholen, andere, auf die ich langsam Boden gut mache, dann und wann eine rätselhafte technische Einrichtung. Warum ist mir eigentlich nicht langweilig? Und wieso fühle ich mich im Halbdunkel nicht verloren? Erwartet habe ich das nicht, aber es ist wirklich angenehm hier unten zu laufen. Nicht unbedingt Freude pur, dafür ist alles zu neu, zu
ungewiss. Macht das die angenehme Temperatur? – Wieder einmal ein Scheitel, wenn auch ein flacher. Markiert wird er von einem 20 Meter langen Abschnitt, wo dicke Holzbalken die Stollendecke stützen. Dahinter geht’s in zunächst kaum merklichem Gefälle weiter, das nach ein paar hundert Schritten in eine stark abschüssige Schräge übergeht.
Ich lasse es laufen, will Boden gut machen. Etwas verlängerte, flüssige Schritte, mit denen ich mich nicht selbst ausbremse und harte Erschütterungen im Lendenwirbelbereich vermeide. Das wird heute die Nagelprobe für mein anfälliges Kreuz. Wenn ich danach keine Beschwerden habe, bin ich wirklich wieder auf der Marathonstrecke angekommen! Die Schussfahrt nimmt kein Ende. Minute um Minute stürmen wir dahin. Die bisher eher glatten, hellen Stollenwände weisen jetzt dunkle, felsig-knubbelige Strukturen auf. Immer weiter runter. Manche schonen sich, vielleicht um Kraft für den unausweichlich folgenden nächsten Aufstieg zu tanken, und fallen zurück. Wieder andere nutzen die Schwerkraftunterstützung, pacen in absolut mörderischem Tempo an mir vorbei. Ich lasse mich nicht beirren und tue was ich kann – was ich verantworten kann.
Irgendwie surreal das Sausen durch das System der Stollen. Die Tunnelröhre teilt sich. Der Abzweig links liegt im Dunkel. Alles rennt nach rechts und findet sich auf einem scheinbar ebenen
Streckenteil wieder. Kurz nur, dann setzt sich die Neigung fort. Am Stollenrand lauert
ein Monster: Schemenhaft reckt sich mir eine Maschine aus dem Halbdunkel entgegen; dicker, glatter Bauch, lang gezogen, am Ende mit irgendwelchen Aggregaten bestückt. Fangarme, Zangen und Scheren? Und riechen tut es hier überaus merkwürdig. Fauliger Atem eines Ungeheuers?
Hinter der Linkskurve warten ein paar Zuschauer, also naht das Ende der Runde. Scharf links abbiegen und steil hinunter. Meine Haut zieht sich schockartig zusammen. Die Luft ist kalt hier, kälter, noch kälter, eiskalt. Grelle Blendung durch eine Lampe, zusätzlich blitzt es mir hässlich in die Pupille. Anscheinend lauert hier der offizielle Fotodienst seinen Opfern auf. Um die Ecke nach rechts, flankiert von einem Förderband, leicht angestrengt aufwärts. Gleich kriege ich Frostbeulen! Schwupps in den gut ausgeleuchteten Start-/Zielbereich, um ihn Sekunden später auch schon wieder auf bekannter Route zu verlassen. Während der Sprecher Name und Herkunft ausplaudert, blicke ich erstmals zur Uhr. Eine knappe halbe Stunde ist vergangen …
Runde zwei: Hinter der Auftaktkurve wartet Verpflegung. Einmal mehr Wasser und Tee. Das Angebot fester Nahrung streife ich nur kurz mit den Augen. Von den Bananenstücken einmal abgesehen: Was soll ein stark belasteter Organismus mit diesem schwer verdaulichen Zeug anfangen? Also werde ich bei Kilometer 20 und 30 auf meine beiden Gelbeutel zurückgreifen müssen.
Was ist denn jetzt los? Seit Minuten trabe ich zum zweiten Mal aufwärts. Und es kommt mir vor, als hätte inzwischen jemand die Schrägen „versteilert“. Vorhin, im flotten Abwärtsstrudel und mehrmals davor, versicherte ich mir noch erstaunt, wie leicht mir die Runde fällt. Und jetzt? Schweißtropfen bilden sich auf der Stirn und die Beinmuskulatur sendet vorsorglich Warnsignale. Erst recht an der steilsten Stelle, wo die Fersen in der Luft hängen und meine Fußballen auf der von Fahrzeugen glatt geschliffenen Spur wegrutschen. Rasch lerne ich dazu und laufe am Rand. Klar komme ich da laufend hoch. Wie denn auch nicht, bin ja noch frisch. Aber packe ich das achtmal?
Heftig atmend und mit knapp unter 90% meiner maximalen Herzfrequenz schlurfe ich über den Scheitel. Diesmal dauert es länger, bis ich mich erhole und Tempo machen kann. Runter, rauf, runter – wie gehabt. Trinken (wieder nur Wasser) und hinein in den beinahe ebenen Abschnitt. Ich spiele fangen mit dem Lichtkegel meiner Lampe. Ringsum nur Schemen. Stollenwände, Stollendecke, weiß, grau, schraffiert. Wechsel von dunkel nach hell und wieder dunkel. Zu sehen gibt es wenig, zu denken schon mehr, zu fühlen viel. Natürlich brüte ich über dem sportlichen Ausgang dieses Abenteuers. Ich kann doch rechnen: Weniger als 30 Minuten für Runde eins gebraucht, außerdem mehrmals für Fotos stehen geblieben – wer würde da nicht mit einem Finish unter vier Stunden liebäugeln?
Runde zwei strengt mehr an. Bin ich langsamer geworden? Auf jeden Fall mühe ich mich abwärts Zeit aufzuholen. Noch regt sich nicht mehr als ein „Anfangsverdacht“: Führt meine Taktik ins Verderben? Ich flitze um die grauschwarze Salzkante, renne steil bergab und werde geblitzt (Tempolimit überschritten?). Durch den Eishauch des Dezembers, eigentlich 700 Meter über mir aber vom Förderkorb in die Tiefe gepresst, trabe ich ins Licht der Verheißung: Zielbereich! Erst 58 Minuten sind um. Na bitte, geht doch!
Runde drei: Geht es wirklich? Zum dritten Mal steppe ich die lange Rampe empor und habe schon massenhaft Blei in den Beinen. Aufwärts, unter Belastung, schießen Bedenken ins Kraut. Was kann ich tun? Langsamer am Berg! Muss eben im flachen Teil und abwärts einen Zahn zulegen. Die Götter der Unterwelt können es bezeugen: Erst die Zwischenzeiten nach Runde eins und zwei haben meinen Sub4h-Ehrgeiz entfacht. Echte Chance oder Frevel?
Nun schenken sie zusätzlich Cola aus. Auch diese braunschwarze Brühe ist alles andere als ein gutes Sportgetränk, enthält zu viel Zucker, um schnellstmöglich vom Körper aufgenommen zu werden. Aber so kann ich wenigstens den Kampf mit den blöden Gelbeuteln in meiner Gesäßtasche vermeiden. Unmittelbar nach dem Verpflegungsstand strömt mir ein besonders warmer Schwall von Luft entgegen. Wieder zieht sich der Bereich geringer Steigung mit anschließend kaum wahrnehmbarem Gefälle in die Länge. Ich stiere ins Oval, das meine Lampe auf den Boden zeichnet. Schraffuren und Strukturen wandern mit beinahe hypnotischer Wirkung durchs Bild. Ein Blick voraus holt mich ins Raum-Zeit-Gefüge zurück: 4. Dezember 2010 und ich bewege mich in einem Stollen 700 Meter unter der Erde.
Am rechten Stollenrand stehen alte Bergwerksfahrzeuge. Drei, vier, … viele. Waren die vorhin auch schon da? Die dicke Staubschicht auf allen Flächen bezeugt, wie lange die Vehikel hier schon vor sich hin rotten. Abwärts mühe ich mich um Tempo, träume vom guten Ergebnis. Durch den frostigen Schlussteil zum dritten Mal in den Zielbereich, in dem sich nur wenige Leute aufhalten. Blick zur Uhr: 1:27 h. Drei Minuten gut auf den Vierstundendurchschnitt. Könnte klappen!?
Runde vier: Zwei Becher Cola verschwinden im Bauch und ich zum vierten Mal in der Röhre hinan. Zuversicht wird im Ausdauerwettkampf von inneren Momentaufnahmen beeinflusst. Und mir fällt es im vierten Anlauf noch ein wenig schwerer die Füße zu heben. ‚Das stehe ich niemals durch. Nicht in dem Tempo! Okay, wenn du das schon weißt, warum dann nicht gemütlicher, langsamer, schonender?’ Keine Ahnung, weshalb ich der inneren Stimme nicht folge. Sturheit? Ehrgeiz? Kampfgeist? Starrsinn? – Vor mir geht ein Paar. Ich trabe drum herum, bin ein paar Meter voraus, als einer nach „Udo“ ruft. Es ist Roland, der eine Läuferin bis zum Halbmarathon begleitet. „Du bist schon eine Runde voraus! Also mach’s gut und lass dir Zeit!“ Das hätte er genauso gut an die salzigen Stollenwände hinreden können, denn Udo trabt emsig weiter auf seiner Mission Sub4h. Mission impossible? Auf dem langen, flachen Mittelteil kann ich meine Verfassung am besten einschätzen. Mit der steht es nicht zum Besten. Ich muss bereits eine gehörige Portion Willen aufbringen, um mich in dieser Geschwindigkeit vorwärts zu treiben. Klare Sache also: Mein Wunsch wird Wunsch bleiben! Wenn Realitäten nicht passen, hoffen Menschen auf ein Wunder. Nur leider gibt es im Ausdauersport keine Wunder. Aber vielleicht ja heute … ?
Runter, runter, runter. Überpuderte Karren, dunkles Gestein, schaukelndes Licht, knirschende Schritte, Untier am Rand, muffige Luft. Tief, tief in Mutter Erde. Links, links, links, Blitz, rechts, kurz rauf und rein ins Licht: Da steht Ines! Auf mein letztendliches Wohl und Wehe hat ihr Erscheinen nun wirklich keinen Einfluss. Das wäre dann das Wunder. Aber sie ist da und das macht mir Mut. „Wie läuft’s?“ will sie wissen. „S’ist hart!“ nuschele ich und weiß im selben Moment, wie es für sie klingen muss. War es je anders als „hart“? Also nimmt sie es synonym für „Alles in Butter!“. Uhr: 1:57 h. Erstmals brauchte ich eine halbe Stunde für den Umlauf.
Runde fünf: Den Auftakt zu Runde fünf bilden zwei Becher Cola, die ich in mich reinschütte, obwohl mein Magen über „Unaufgeräumtheit“ klagt. Der scheint mit der vielen Flüssigkeit nicht klar zu kommen. Also demnächst weniger trinken! Und wieder die Steigung. Langsam, langsam … gar nichts ist in Butter. Ab und an, wirklich selten, Fußgänger, die ich wie in Zeitlupe überhole. Vierhundert Läufer kreisen im Tunnelsystem. Wieso bin ich dann abschnittsweise mutterseelenallein? Ich überschlage die Läuferdichte pro 100 Meter, scheitere jedoch schon bei der Formulierung des richtigen Ansatzes, vom Kopfrechnen ganz zu schweigen. 18,5% Steigung blockieren mein Hirn, sind Aufgabe genug. Blut pocht in den Schläfen. Urplötzlich schießt mir die Idee den Kopf, wie viel einfacher doch mein Läuferleben wäre, wenn ich mir erlaubte zu … Nein! Kommt nicht in Frage!!
Ich trabe im nahezu flachen Teil und vergleiche: Wie fühlt es sich jetzt an, wie vorhin? Eindeutig noch schwerere Beine. Wie kann das sein? Die Rampe ist steil und lang. Zugegeben. Sicher macht mir auch die ungewohnte Wärme zu schaffen. Dennoch erklärt das nicht,
wieso ich nach 24 Kilometern und verhaltener Pace schon so müde bin. Was ist da los? Steckt noch ein Rest unterdrückter Erkältung in mir? Oder hatte ich das Training aus Vorsicht zu stark reduziert? Irgendwas stimmt da gewaltig nicht, aber was?
Runde sechs: Ines ist noch da, schießt ein Foto, muntert mich auf. Uhr: 2:28 h. Wie gefühlt, brauchte ich für die Runde nun schon länger als eine halbe Stunde. Trinken und ran an den Feind. Ich klebe an diesem verdammten Berg, verstehe nicht wo meine Kraft geblieben ist. War Runde eins Einbildung, in der ich wie eine Gazelle hier hoch sprang? Bin nur noch ein Schatten meiner selbst, ein Schatten in der Unterwelt. Ich kämpfe, wie ich selten gekämpft habe und will den Satz nicht denken! Ich will nicht! Ich will nicht! Aber diese verfluchte Schräge unter meinen Füßen erzwingt ihn doch: ‚Noch zweimal schaff’ ich das nicht!’
Wie jedes Mal auf dem Weg nach oben, perlen Schweißtropfen auf der Stirn. Ich wische sie unter dem Helmrand zur Seite und taste an mir hinunter. Das Shirt ist knochentrocken. Bei dieser Temperatur sollte das Hemd – wie bisher immer – tropfnass am Oberkörper pappen. ‚Das macht die niedrige Luftfeuchtigkeit hier unten.’ überlege ich und freue mich einen Marathon mal nicht als triefender Putzlappen zu erleben.
Wieder oben. Die Kraft kehrt nur teilweise zurück. Es bleibt ein dauerhaftes Empfinden von Schwäche. Ich muss handeln, mir eine neue Taktik zurechtlegen. Die Fakten: In dieser Schwerfälligkeit wird nach Runde sechs eine Zeit von 4h „plus“ unverrückbar zementiert sein. Wie viel „plus“ ist doch dann egal. Plan B: Den Lauf in Runde sieben und acht extrem langsam zu Ende bringen!
‚Nach diesem Durchgang sind’s „nur“ noch 10 Kilometer!’ appelliere ich mehrmals an meinen Kampfgeist und füge hinzu: „Was sind denn schon 10 Kilometer?“ Es gab Wettkämpfe, in denen mich ein solches Mantra über körperliche oder mentale Tiefen trug. Heute bleibt der Trick nicht nur wirkungslos, er verkehrt sich ins Gegenteil. Denn hier unten haust der Teufel und raunt mir zu: ‚10 Kilometer sind eine ganze Menge, vor allem, weil du noch zweimal diesen höllischen Berg hoch musst!’
Runde sieben: Kälte. Licht. Ziel. Uhr: 3:02 h. Es bestätigt sich, was ich erwartete. Zwei Minuten über Soll sind uneinholbar viel. Erst recht für eine Gestalt auf wachsweichen Beinen. Meinem Ballon … äh … Bauch mute ich diesmal nur einen Schluck Cola zu. Ich setze die neue Taktik um und tippele so langsam wie irgend möglich aufwärts. Schon dieser minimale Vortrieb fordert all meine Kraft. Ich verstehe nicht, warum das so ist, fühle mich der Situation ausgeliefert. Was geht in mir vor? Nach links aufwärts, langsam, schneckengleich. Bestimmt ziehe ich schon eine Schleimspur hinter mir her … Der S-förmige Abzweig: Erst links nach oben, zwanzig Meter, Schritt um Schritt, dann rechts nach unten. Mehr Trudeln, denn Laufen. Beklemmung und Mutlosigkeit wallen auf, weil ich ahne, was gleich geschehen wird. Und so bricht
meine Gegenwehr augenblicklich zusammen, als sich der steilste Teil der Rampe vor mir auftürmt, uneinnehmbar und feindlich, wie die schwarzen Flanken des Mount Everest …
Ich gehe! Zum ersten Mal in meinem Läuferdasein muss ich gehen und kapiere nicht warum. Wie konnte ich meine Kräfte so maßlos überschätzen? Ich lief ganz offensichtlich zu schnell an, auch wenn die leichte Auftaktrunde mir anderes vorgaukelte. Doch halt: Dieser Fehler hätte allenfalls in qualvollen Schlusskilometern enden dürfen. Aber nicht so kraftlos und schon gar nicht so früh!? Enttäuschung beherrscht mich, für herbere Gefühle fehlt die Kraft. Vor mir geht einer, um einiges schneller, vergrößert den Abstand. Erst gehorche ich dem Impuls aufzuschließen, dann ist es mir egal: ‚Wozu? Die Sache ist gelaufen!’
Diejenigen, die Verfehlungen gegen die Götter begangen haben, sollen hier ewige Qualen erleiden.
Unglaublich, wie schwer es mir fällt, wieder los zu laufen. Runter, rauf (gehend!), runter, trinken (nur einen Schluck) und wieder sachte aufwärts. Ich trabe langsam dahin und fühle mich besiegt. Dumpfes Brüten. Mehr als vier Stunden. Okay, akzeptiert. Aber gehen müssen!? Der fahle Schein der Lampe zieht vor mir her. Wahrnehmungen außerhalb sind nicht mehr konkret. Alles verschwommen, nicht von Belang. Im langen Abwärtsteil rede ich es mir schön: ‚Wenn schon Gehen-müssen, dann unter solch harten Bedingungen. Es ist warm, steil und verdammt anstrengend!’
Runde acht: Eishauch, blendende Helligkeit und der unvermeidliche Blick zur Uhr: Fast 3:41 h, also brauchte ich fast 39 Minuten für diesen Umlauf. Einerlei. Ich bin bezwungen. Wie eindeutig zeigt sich auf dem ersten, eher harmlosen Teil des Anstiegs. Sofort wechsele ich vom Traben ins Gehen. Wozu noch quälen? Das Schlussresultat ist mir entsetzlich gleichgültig. Oh mein Gott! Ich verstehe euch! Jetzt weiß ich, wie ihr empfindet, wenn ein Lauf als Debakel endet. Wie oft wurden Spitzenläufer für das vorzeitige Abbrechen eines Wettkampfs kritisiert. „NUR“, weil er misslang, „NUR“ weil sie das gesteckte Ziel deutlich verfehlten. Warum laufen die nicht bis zu Ende!? wurde dann vorwurfsvoll lamentiert. Nun kann ich es ihnen nachfühlen. Die Niederlage ist Fakt und im Grunde hat bis zum Finish zu laufen auch für mich seinen Sinn verloren.
Ein Nebenmann durchbricht mein Grübeln: „Wie viele Runden hast du noch!?“ „Das ist die Letzte.“ entgegne ich gleichgültig. „Ich hab’ noch zwei vor mir.“ Dass ich da jemand überrundete, vermag mich nicht mehr anzuspornen. In Kooperation mit meiner Unbeugsamkeit und der völligen Undenkbarkeit abzubrechen treibt es mich wenigstens weiter vorwärts.
Abbruch undenkbar? Stimmt nicht. Mehrmals sinne ich drüber nach, wie es wäre aufzuhören. Nein! Nein, das geht nicht! Ich kann nicht ans Tageslicht zurückkehren, ohne wenigstens die volle Distanz durchgestanden zu haben. DAS könnte ich nicht ertragen, denn ich bin nicht verletzt. Nicht verletzt? Nicht einmal den Anflug irgendwelcher Beschwerden brauchte ich bisher zu beklagen. Kein Ziehen, kein Zwicken, nichts. Das ist eingedenk meiner Verletzungshistorie unbestreitbar ein großer Erfolg.
Das Ende der Schräge kommt als Buckel in Sicht. Noch ein paar Gehschritte, noch zwei, noch einer. ‚Hopp jetzt! Lauf wieder los!’ Ich zwinge mich in leichten Trab und … mit Urgewalt springen mich die Höllenhunde der Unterwelt an. Erst schlagen sie die Zähne mit bestialischer Kraft in die Zehen, verschlingen sogleich den ganzen Fuß und beißen dann in beide Waden. Krämpfe! Ich stehe und bin fassungslos, vollkommen außer mir. Krämpfe? Das gibt’s doch nicht. Nie zuvor hatte ich auch nur einen Anflug eines Krampfes. Nicht in Biel, nicht beim schnellsten Marathon, nicht mal in 24 ohne Pause durchlaufenen Stunden. Ich lehne mich gegen die Stollenwand, wie ich es in der letzten Stunde bei so vielen schon beobachtete, und bringe Dehnspannung auf die betroffenen Muskeln. Weiter. Ein neuer Trabversuch. Pustekuchen. Neuerlich krampfen die Waden. Das böse Spiel wiederholt sich ein paar Mal, dann geht es. Eine Minute Trab, zwei. Ein Muskel seitlich des Knies streikt krampfend und schmerzt. Ich halte es aus, trabe weiter. Die Welle ist noch nicht gebrochen. Zack! schlägt Luzifer seine Kiefer hinten in den Oberschenkel. Und wieder stehen, dehnen, warten …
Seit ein paar Minuten trabe ich extrem vorsichtig. Die Welle der Krämpfe ist abgeebbt. So ekelhaft es sich anfühlte, so nötig war es!! Endlich verstehe ich, was mit mir geschieht. Das stets trockene Trikot und der vorzeitige Kräfteverfall hätten mich warnen müssen. Die Krämpfe liefern den Beweis: Ich bin völlig dehydriert! Das Salz in den Wänden bindet Feuchtigkeit. Die dadurch bedingte, niedrige Luftfeuchtigkeit reißt alles Wasser an sich. Stark schwitzende Läufer, vertrocknen hier unten bei lebendigem Leib. Am
Verpflegungsstand schütte ich gleich drei Becher Cola in mich hinein und merke auf einmal, was für einen wahnsinnigen Durst ich hab. Mehr Flüssigkeit passt nicht rein, sonst übergebe ich mich.
Sachte, ganz sachte, setze ich Laufschritte. Es geht, die Krämpfe blieben irgendwo im Stollen hinter mir zurück. Dafür krallt sich ein anderer Dämon in meinen Nacken: Ärger. Immer wieder ziehe ich an krampfenden Kontrahenten vorbei. Der Veranstalter weiß das, muss es wissen! Wieso wird vor der Dehydrierungsfalle nicht gewarnt? Und weiter: Warum werden in so extremer Umgebung nur Getränke ausgeschenkt, deren Rehydrierungsrate deutlich unter dem Maximum liegt?
Ich verabschiede mich vom Stollensystem, trabe langsam abwärts. Sauer bin ich jetzt nicht mehr. Eher traurig. Es war anfangs und hätte bis zuletzt ein herrlich angenehmes Laufen hier unten sein können. Ein letztes Mal die Kälte, dann ins Licht. Bin nicht mal ausgepumpt. Wovon auch. Ging oder stand krampfend im Stollen rum. Nun rechts in den Zielkanal und Schluss. 4:26:14 h. Medaille und Glückwunsch lasse ich über mich ergehen. Bin froh, dass es vorbei ist, will nur trinken und mich umziehen. Sitzend stellt sich sogar ein wenig Zufriedenheit ein. Später, über Tage, am Abend und morgen, werde ich die Niederlage als demütigend empfinden. Und sie wird mich – immer wieder begleitet von Analysen – noch Tage beschäftigen.
Weder war ich unvorsichtig, noch außer Form. Der besonderen, mir zunächst nicht konkret bekannten Härte dieses Laufes begegnete ich mit Zurückhaltung auf Runde eins. Die frühen Anzeichen der einsetzenden Dehydrierung nahm ich nicht wahr, oder deutete sie falsch. Als die Falle zuschnappte, blieb mir nur den Lauf bis zum bitteren Ende durchzustehen. Hätte ich gewusst, wie rasch und nachhaltig man dort unten austrocknet, wäre frühe Vorsorge möglich gewesen: Sofort trinken, wenn man das Stollensystem betritt, auch auf die Gefahr hin, sich unterwegs erleichtern zu müssen. Vor allem hätte ich, was sonst nie nötig war, auf eigene Getränke zurückgegriffen.
Die Laufzeit an sich tut nicht weh. Was schmerzt ist die Art und Weise, wie sie zustande kam. Ich wetteifere nur in Ausnahmefällen mit anderen Läufern. Ich ringe mit der Schwere der jeweiligen Aufgabe. An ihr bin ich dieses Mal gescheitert. Ich werde wiederkommen, um – besser vorbereitet – die Bestien der Unterwelt zu besiegen …
Doch dies war auch der Abschluss meines Comebacks auf der Marathonstrecke. Fünf Marathons, jeweils im Zwei- bzw. Dreiwochenabstand gelaufen. Ich wollte mir beweisen, dass ich es noch kann. Und ich hoffte auf das Ende einer quälenden Verletzungsserie, nach anderthalb Jahren Marathonpause. Diese Prüfung habe ich bestanden. Das Ausbleiben jeglicher Beschwerdemuster unter Tage stimmt mich froh und hoffnungsvoll. So habe ich eine Schlacht verloren, aber den Krieg gewonnen.
Es ist ein besonderes, wunderbares Erlebnis unter Tage zu laufen. Dazu tragen Wärme, ebener Untergrund und (mit Stirnlampe) jederzeit ausreichende Sichtbedingungen bei. Ursprünglich sollten vier Runden zu je 10,5 km gelaufen werden. Das Bergbauamt untersagte wegen „Vermutungen über mögliche Gasbildungen“ das Befahren des Westfeldes der Grube. Die Streckenhalbierung aus Sicherheitsgründen empfand ich jedoch nicht als Entwertung der Veranstaltung.
Organisatorisch liegt einiges im Argen. Das beginnt mit der dürftigen Internetseite, auf der wesentliche Informationen fehlen. Einerseits sind das Daten, die den Ablauf betreffen (z.B. wie mit Begleitpersonen verfahren wird). Aber auch eine konkrete Warnung vor der extremen Dehydrierung und Hinweise zur Vorbeugung fehlen. Die in ihrem Umfang unvorhersehbare Austrocknung macht die Unberechenbarkeit des Laufes aus. Deshalb reicht es nicht von extremen Bedingungen zu sprechen und in einem fett gesetzten Satz zu schreiben: „Nur sehr gut trainierte Läuferinnen und Läufer sollten sich dieser wohl härtesten Marathonstrecke stellen.“ Der Satz ist irreführend, denn kein noch so effektives und hartes
Training verhindert Dehydrierung und Krämpfe. Dagegen hilft nur Vorbeugung: Frühzeitig trinken, das Richtige trinken und noch langsamer laufen, als es das Laufgefühl während der ersten Runde suggeriert.
Die Tatsache, dass und warum so viele Läufer dort unten ihr persönliches Waterloo erleben, muss den Organisatoren bekannt sein. Umso kritischer ist der Umstand zu bewerten, dass keine isotonischen Getränke ausgeschenkt werden. Wasser, Tee und Cola sind keine Sportgetränke. Grundwissen, das man einer Lauforganisation ebenfalls unterstellen darf. Deshalb bleibt unverständlich, weshalb trotz hoher Startgebühr keine Getränke angeboten werden, die die maximal mögliche Rehydrierung ermöglichen.
Laufen im Kalibergwerk Sondershausen ist mittlerweile Kult. Härten scheinen gewollt, nähren sie doch die geheimnisumwitterte Aura des Laufes. Die wiederum zieht Läufer magnetisch und scharenweise an, egal was es kostet. Leider entwickeln Kultveranstaltungen eine Tendenz zur Ignoranz. Dergleichen erlebte ich in Biel (zum Glück bei minder bedeutsamen Details) und nun in Sondershausen in einem besonders drastischen Fall.