Ein Schritt nach vorne   –   Südburgenland Marathon Güssing / Österreich

Von hier hat man es nicht weit nach Ungarn und nur ein paar Kilometer bis Slowenien, im Dreiländereck mit Österreich liegt Güssing. Güssing musst du nicht kennen. Mir drängte sich die burgenländische Kleinstadt erst auf, als ich für meine Rückkehr zum Marathon eine passende Veranstaltung suchte. Eine, die (fast) auf unserem Weg in den Kroatien-Urlaub liegt und nahe der Heimat von Kraxi, meinem Lieblings-Ultralauf-Kameraden aus der Steiermark. Als ich im Frühjahr 2010 begann vom „Marathon-Comeback“ zu träumen, legte Kraxi sich gleich fest: „Ich begleite dich!“ So ein Angebot kann man nicht ablehnen! Vielen brauche ich Kraxi nicht mehr vorzustellen: Seine läuferische Vita strotzt von Erfolgen auf langen und längsten Strecken. 2008 belegte er im Europacup der Supermarathons den dritten Rang, 2009 sogar Platz zwei. Und dieses Jahr, Anfang November, vertritt er Österreich als einer der landesbesten Ultras bei der 100 Kilometer-Weltmeisterschaft in Gibraltar.

Etwa 50 Kilometer fahren wir an diesem Sonntag von Kraxis Heimatort in der Steiermark bis nach Güssing im Burgenland. Gestern Abend und in der Nacht hat es geschüttet wie aus Eimern. Mit „Starkregen“, der Gefahr lokaler Überschwemmungen und Murenabgängen im Osten Österreichs drohte der Wetterbericht auch noch für heute Morgen. Und richtig: Vor den Toren Güssings plätschert es munter aus eintönig grauem Himmel. Das weckt ungute Erinnerungen an meinen letzten Marathon in Treviso/Italien im März 2009: Fast vier Stunden ätzender Dauerlauf in strömendem Regen. Bitte nicht schon wieder! Eine Sorge mehr und von denen drücken mir diverse aufs Gemüt. Heute soll es sein! Nach einer Zwangspause von anderthalb Jahren endlich wieder ein Marathon. Ich sollte mich freuen und mein Glück genießen – ganz gleich, ob der Himmel weint oder lacht. So habe ich es mir erträumt, aber so einfach ist es leider nicht …

Schmerzliche Rückblende

Der eigentliche Grund für meine lange Marathon-Abstinenz ist längst Geschichte. Schon im Oktober 2009 war die Verletzung – wohl eine Reizung des Ischiasnervs – ausgeheilt. Ich überwinterte mit gesundheitsorientiertem Laufen, vierzig bis fünfzig Kilometer pro Woche und ohne harte Belastungen. Gelegenheit für meinen Bewegungsapparat sich von den langen Distanzen zu erholen, bei gelegentlich flottem Tempo den einst sauberen Laufstil wiederzubeleben und sich für kommende Aufgaben zu wappnen. Ganz bewusst plante ich einen schrittweisen Wiederaufbau, verbot mir jeden Gedanken an einen Marathon vor dem Herbst 2010. Nach dem Ende des Winters, sobald Training wieder in Wald und Flur möglich wäre, wollte ich mich auf ein, zwei Halbmarathons vorbereiten. Dann ein paar Wochen Regeneration im Sommer und schließlich Ende Juli der Einstieg in die Marathonvorbereitung. Selbstverständlich bildete sich diese Saisonplanung absolut schulmäßig in meinem Kopf ab. Ganz so wie ich das auf unserer Laufseite jedem Marathoni empfehle. Nur leider tat sich der vorgezeichnete Weg nicht als breite Allee und frei von Hindernissen vor mir auf. Was mich erwartete, war ein holpriger Cross und viele Knüppel zwischen meinen Beinen ließen mich Mal um Mal straucheln…

Mit dem nicht enden wollenden Winter fing es an, Schnee und Frost bis weit in den März. Dann endlich HM-Training nach Plan. Zum ersten Mal seit Monaten weiter als 15 km auf langen Einheiten, Tempo in Intervallen und Fahrtspielen, schnelle Dauerläufe – der Einstieg war hart. Na und? Genauso hatte ich das erwartet. Vollkommen überraschend brachen allerdings die begleitenden Katastrophen über mich herein: Immer wieder aufflackernde Rückenschmerzen und nicht weniger als drei Erkältungen in Folge. Erkältung? Ich wusste kaum noch wie man das Wort schreibt. Seit meinem ersten Marathon im Jahr 2002 waren grippale Infekte an der Mauer meines Immunsystems entweder zerschellt oder nach ein bisschen Kratzen im Hals zu Ende. Oft, unheimlich oft, war ich stinksauer. Groll ist erträglich, wenn man jemanden hat gegen den er sich richtet. Nur gab es niemanden, den ich für die Rückschläge verantwortlich machen konnte. Am Ende stand immer wieder das fatalistische ‚Es ist wie es ist. Finde dich damit ab!’

Es ging trotzdem voran. Im zweiten Halbmarathon erlebte ich die Wiedergeburt meines Kampfgeistes und gewann mit der Zeit von 1:37:xx Anschluss an frühere Leistungen. Die Begeisterung hielt genau einen Tag bis mich barbarische Rückenschmerzen im Lendenwirbelbereich ins Wartezimmer zwangen. Diagnose: Reizung des Iliosakralgelenks (ISG) rechts, vermutlich begünstigt durch die Kälte beim Halbmarathon in Bad Waldsee.

Wochen später, die Episode „ISG“ und das ihr geschuldete Ausdauertief sind nahezu vergessen, steige ich voller Optimismus ins Marathontraining ein. Auch der hält nur eine Woche bis ich mich bei der Hausarbeit „irgendwie blöd“ bücke und mir prompt ein Messer in den Rücken fährt. Unten links, das ist neu. Wochenlang plage ich mich mit auf- und abschwellenden Schmerzen, die nicht verschwinden wollen. Auch das ist neu. Ich trainiere weiter. Lange Läufe, harte Intervalle. Warum auch nicht, denn Art und Härte des Trainings haben ganz offensichtlich auf die Beschwerden keinen Einfluss. Nur meine Moral ist inzwischen im Eimer. Ich habe regelrecht Angst vor dem Marathon und die treibt mich einmal mehr zum Arzt. Der schickt mich weiter zum Radiologen in die Röhre. Auf den Bildern finden sich dreierlei Indizien aber nichts ist „kaputt“. Wahrscheinlich ursächlich ist eine Nervenreizung am Austrittskanal zwischen zwei Wirbelkörpern. Eine Schmerztherapie bringt Linderung und zwei Wochen vor dem Marathon wage ich wieder auf einen „Erfolg“ zu hoffen.

Obwohl um viele kleine, schmerzhafte Episoden gekürzt, zeigt dieser Ausflug in menschliche Anfälligkeit sicher, weshalb ich in Güssing mit geknicktem Selbstbewusstsein und ohne rechte Freude antrete. Auf den Punkt gebracht: Ich „muss“ hier ohne Katastrophe in ansprechender Laufzeit finishen und mir beweisen: Ich kann es noch!

Das übliche Marathon-Vorspiel – Startnummer abholen, umziehen, Toilette – liegt hinter uns. Und es hat aufgehört zu regnen. Mehr noch: Die hohe, formierte Wolkendecke signalisiert einstweilen Trockenheit. Das werte ich als positiven Fingerzeig. Unvermittelt bieten sich beste Laufbedingungen: Kein Wind, 13°C Lufttemperatur und eine flache Strecke. Kraxi taucht zum Einlaufen im Gewimmel der Läufer unter. Einlaufen vor einem Marathon ist an sich nicht mein Ding. Aber irgendwie bin ich noch gar nicht angekommen in Güssing, stehe neben mir. Um Laufgefühl zu wecken, trabe ich ein paar Minuten auf und ab. Alles fühlt sich gut an. Immerhin.

Seit Wochen wechseln meine Zielzeitambitionen in beinahe täglichem Takt. Ganz so wie ich mich allgemein oder nach einem Trainingslauf fühle. Soll ich voll auf Angriff oder verhalten mit zeitlichem Puffer laufen? Meine Marathonvorbereitung entsprach dem auf unserer Internetseite veröffentlichten Trainingsplan für eine Zielzeit von 3:29 h. Allerdings unterbot ich die Zeitforderungen aller Intervall- und Dauerläufe deutlich, traue mir deshalb an einem guten Tag eine Zeit zwischen 3:20 und 3:25 h zu. Also welches Tempo? Harte 4:45 oder erträgliche 5 Minuten pro Kilometer? Du ahnst es sicher: Einen wie mich müssen die Umstände zwingen sich zu schonen, von selbst schafft er es nicht.

Wir haben uns verabschiedet. Kraxi von seiner Frau und den beiden Söhnen; mich schickt Ines mit besten Wünschen auf die Strecke und unsere Hündin Roxi wedelt ein paar mal aufmunternd mit dem Schwanz. Im Pulk mehrerer hundert Starter für die 10,5 km-Strecke und den Halbmarathon verlieren sich gerade mal 70 Marathonläufer. Vor uns, über dem Starttor, erhebt sich der Schlossberg von Güssing, die einzige markante Höhe der ganzen Gegend. Hinter uns stehen die Läufer auf der Brücke über die Strem. Normalerweise ein harmloses Flüsschen. Nach den sintflutartigen Regenfällen der letzten Stunden wälzt sich ein breiter, von hellbrauner Erde gefärbter Strom durch grüne Auen. Uferwege und der Kinderspielplatz stehen teilweise unter Wasser. Und sonst? Alles wie immer: Aufgeregte Moderation aus quäkenden Lautsprechern, um uns her die bunte Läuferschar, lachend, schwatzend, Volksfestatmosphäre. Mir ist als gehörte ich nicht dazu – noch nicht – und das liegt nicht am steirisch-burgenländischen Einschlag der Stimmen. Der Sprecher übergibt das Mikro einem lokalen Würdenträger für den Countdown. Mit dem Startschuss steht fest: „Träge“ ist der entscheidende Wortteil im Begriff „Würdenträger“. Und los: Erst ein paar Meter bergwärts, als sollten wir den Güssinger Schlossberg stürmen, dann jäh links weg, nahezu eben und noch einmal links ab, auf schnellstem Weg die Stadt verlassend. Kraxi deutet zur gegenüberliegenden Straßenseite. Dort jubelt unser Fanclub (Barbara, Ines, Marcel, Kevin und Roxi), den ich beinahe übersehen hätte. Das liegt nur zum Teil am noch dicht gestaffelten Feld. Meine von Bangen geschärfte Aufmerksamkeit richtet sich hauptsächlich nach innen. Wie fühlen sich die ersten Minuten an? Beine? Rücken?

Die letzten Häuser von Güssing ziehen vorbei und langsam weicht die Spannung. Ein anfänglich leichtes Ziehen im Kreuz hat sich verloren und der flotte Trab (erster Km in 4:38 min) scheint heute genau zu passen. Beidseits der breiten, fast ebenen Straße erstrecken sich Fluren, gelegentlich unterbrochen von kleinen Wäldchen oder Buschreihen. In allen Gräben steht braune Brühe und riesige Pfützen auf den Feldern erzählen von endlosen Regengüssen. Ein paar Sätze zur Strecke: Der Halbmarathonkurs ist zweimal zu absolvieren und weist zwei Wenden auf. Güssing liegt folglich im Zentrum einer ziemlich verbeulten, liegenden „8“ (siehe Bild, GPS-Aufzeichnung).

Zum wiederholten Mal wische ich mir den Schweiß aus der Stirn. „Ich kenne keinen Läufer, der so schwitzt wie ich!“ wende ich mich an Kraxi. „Doch ich!“ meint ein Mithörer halblinks vor mir laufend. „Dann sind wir schon zwei!“ entgegne ich, obschon nicht recht überzeugt. Kraxi erklärt das intensive Schwitzen mit der hohen Luftfeuchtigkeit nach dem Regen. Auch er hat – nach mehrfachem Abwägen – seine Bekleidungstaktik auf „oben kurz/unten kurz“ festgelegt. Dergestalt entblößt dürfte er eher frieren, liegt doch sein übliches Marathon-Wettkampftempo etwa eine Minute pro Kilometer unter dem gegenwärtigen.

Nach knapp drei Kilometern die erste Verpflegungs- oder, wie man in Österreich sagt, Labestation. Schon hier wird „Iso“ gereicht (wie später an jeder Tränke), was ich leider zu spät realisiere. Übereilt grabsche ich nach einem Becher mit Wasser. Drei Beutelchen Gel stecken in meiner Gesäßtasche. Das nervige Nesteln, Reißen, Drücken, Flutschen, pappige Schlucken und Finger verkleben werde ich mir ersparen, sollte weiter „Iso“ im Angebot bleiben.

Es erstaunt mich schon ein wenig wie unangestrengt sich der (für mich) schnelle Lauf in den Beinen anfühlt. Leichter Rückenwind? Minimales Gefälle? Es bleibt rätselhaft und so vermag der vorherrschende Optimismus die Skepsis nicht völlig zu verdrängen. Kraxi erweist sich als idealer Flankenschutz. Ideal, weil er meist schweigt. Ganz so entspricht es meiner Art: Ab und an ein Satz zu Bemerkenswertem, das uns zu Gesicht oder sonst wie in den Sinn kommt. Linker Hand steht ein tiefliegender Acker völlig unter Wasser. Auf abgetrocknetem Asphalt hat jemand mit dünnen, weißen, vielfach unterbrochenen Linien etwas markiert. Soll die Straße ausgebessert werden? Die scheint allerdings völlig intakt!? Leichtfüßig huschen auf der Gegenfahrbahn die beiden führenden, dunkelhäutigen Läufer vorbei – ein Genuss fürs Auge. In weit gezogener Linkskurve reiht sich voraus, wie die Perlen einer Kette, Läufer an Läufer. Wir nähern uns dem ersten Wendepunkt, fünf Kilometer sind gelaufen.

Tränke zwei, unmittelbar hinterm Wendepunkt, beschert mir den gewünschten Becher „Iso“, den ich in vollem Lauf und verlustfrei leere. Ich spüre nun sachten Gegenwind, halte jedoch das Tempo ohne nennenswerten Mehraufwand. Hin und wieder schieße ich ein Foto mit der Digicam. Interessante Motive sind zwar Mangelware – Schleife eins gibt sich optisch eher langweilig – doch wer weiß, wie lange ich genügend Entschlusskraft für Schnappschüsse aufbringen werde. Gerade eben, für ein paar Schritte, fühlten sich meine Beine schwach an. Es währte kaum länger als mein erstaunt gedachtes ‚Doch nicht jetzt schon!??’, dann war die Empfindung vorüber.

Schnecken kriechen über die Straße. Nein ich meine zum Glück nicht mich. Wirkliche Schnecken und im weiteren Streckenverlauf werde ich die burgenländische Artenvielfalt dieser Spezies kennen lernen: Eine winzige mit stecknadelkopfgroßem Gehäuse und eine gigantische, fast weiße Weinbergschnecke mit Luxuswohnung auf dem Rücken. Nacktschnecken, rote, braune, eine nahezu schwarz. „Wenn die sich nicht beeilen, werden sie den Marathon nicht überleben!“ raune ich Kraxi zu und verkürze einen Schritt, um Leben zu bewahren. Wieder passieren wir die abstrakte, weiß auf grauem Asphalt mit Punkten, Strichen und anderen Symbolen verewigte Zeichnung. Und plötzlich wird mir klar, was hier geschah: Vor dem inneren Auge sehe ich schleudernde Fahrzeuge, höre das Quietschen von Reifen, satt krachendes Blech … Zerstörung, Chaos, womöglich Verletzung. Ein unguter Ort.

Vor uns verschwindet die Straße im Wald, überwölbt von einem mit Pressluft in Form gehaltenen Tor. Laute Musik schallt uns von dort entgegen, kann aber das leise Tuckern eines Stromaggregats nicht ganz übertönen. Helfer reichen Becher in den Laufweg, bieten alternativ „Wasser!“ und „Iso!“ an. Entschlossen greife ich nach dem Behältnis mit der gelben Flüssigkeit. Und rein damit, neuerlich unfallfrei.

Auf dem Hinweg schien die Strecke minimales Gefälle und nunmehr, in Gegenrichtung, kaum merkliche Steigung zu haben. Irrtum grundsätzlich möglich. Allerdings wäre damit der inzwischen um ein paar Schläge höhere Puls erklärt. Schließlich unterbricht Kraxi mein Grübeln und bestätigt meine Vermutung. Vielfach in Training und Wettkämpfen war ich sicher minimal erhöhten Energieaufwand spüren zu können. Tatsächlich entwickelt der gut bis bestens ausdauertrainierte Organismus eine überaus empfindliche Sensorik für kleine Abweichungen. Und das, obwohl sein Stoffwechsel deutlich höhere Energieflüsse in der Muskulatur bereitstellen kann.

Zurück in Güssing und neun Kilometer gelaufen. Voraus am Straßenrand applaudiert unser Fanclub. Ines bringt das Kunststück zu Wege mit einer Hand Roxi an der Leine zu halten und mit der anderen zu fotografieren. Dieser Drahtseilakt endet abrupt, als Roxi mich erkennt, wild zu bellen beginnt und sich mit aller Kraft in die Leine wirft…

Nur elf Höhenmeter? Dieses Beinahe-Nichts an Bodenerhebungen soll der Güssing Marathon aufweisen. So steht es auf der Internetseite. Erste Zweifel beschleichen mich, da wir nun den Schlossberg auf zunächst ansteigendem, danach abschüssigem Kurs ein Stück weit umlaufen. Kraxi macht derweil Konversation mit einem einheimischen Läufer, der uns eiligen Schrittes einholte. Die Bedeutung der in „eingeborener“ Sprache ausgetauschten Sätze bleibt mir weitestgehend verborgen. Einerlei. Erstens liefert Kraxi postwendend eine Übersetzung und zweitens beschäftigt mich Dringenderes. Ich kann das Tempo gut halten. Keine Frage. Nach nun 10 Kilometern fühle ich jedoch, wie grenzwertig es ist. Anfängliche Bedenken, ob ich das bis zum Schluss durchstehen werde, wandeln sich zum fetten Fragezeichen.

Güssing bleibt zurück und wir verzweigen von der Hauptstraße auf einen Radweg durch eine grüne Auenlandschaft. Naturverbundene Läufer finden auf diesem Abschnitt ganz sicher mehr fürs Auge. Häufige Richtungswechsel bieten weitere Abwechslung. Dann und wann greift der Blick zum nahen Bach, der häufig genug die Ränder ufernaher Wiesen erobert hat. Immer wieder, für Sekunden, gelingt es mir mich frei zu laufen und das Ereignis wie früher zu genießen. Aber Vorsicht und Besorgnis sitzen zu tief. Anderthalb Jahre Heilungsprozess, ein ums andere Mal von Rückschlägen verzögert, viele Läufe mit Beschwerden in Ungewissheit, das hinterlässt tiefe Narben. Auf diesen Kilometern wird mir klar wie lange ich noch brauchen werde, um das alles hinter mir zu lassen…

Nur elf Höhenmeter? Etwa eine Laufminute voraus erblicke ich die von Kraxi angekündigte, auf den Waldrand zusteuernde „Rampe“. Grob geschätzt überwindet bereits diese Schräge, ein zunächst harmlos dann auf den letzten Metern brachial ansteigendes Wegstück, besagte elf Meter. „Auf der zweiten Runde tut das verdammt weh in den Beinen. Man will sein Tempo halten, aber das geht nicht!“ bereitet mich Kraxi vor. Ich brumme ein zustimmendes, halb verschlucktes „Ja.“ Womit übrigens die Mehrzahl meiner bisherigen und künftigen Antworten auf Kraxis wohlmeinende Gesprächsversuche exakt beschrieben ist. Ehrgeizig nehme ich den fordernden Schlussteil der Rampe. Vorm Waldrand hat sich ein „Motivator“ mit Verstärkeranlage postiert. Laute Rockmusik wird von der leiseren, etwas brüchig klingenden Stimme des Sprechers abgelöst. Jedem Läufergrüppchen schenkt er Gewissheit es gleich geschafft zu haben. Puh! Ich brauche gar nicht bis zur zweiten Runde warten. Schon jetzt fährt mir die Rampe ganz gemein in die Beine und zeichnet einen markanten Buckel in die Kurve meiner Herzfrequenz.

Der x-te Becher „Iso“ verschwindet in meinem Magen. Ich trinke und denke nicht darüber nach. Nun an einem Maisfeld entlang, mehrere hundert Meter schnur geradeaus und sacht abwärts in Richtung eines Dorfes. Der Puls beruhigt sich wieder. 14 Kilometer gelaufen. Am Ortseingang erwartet uns eine infolge miesen Wetters recht bescheidene Kolonie von Absperrposten und Zuschauern. Selbst wenn ich jeden einzeln mit Handschlag begrüßte, gingen dabei nur ein paar Sekunden verloren. Nun über den zum Flüsschen mutierten Bach und scharf links an seinem Ufer entlang. Eine mit allerlei Werkzeugen „bewaffnete“ Marschordnung der Feuerwehr kommt uns entgegen. Woher? Wohin? Noch bin ich frisch genug solches Interesse zu entwickeln. Sollen sie andere Streckenposten ablösen? Etliche Schritte weiter beseitigen eine Sandsackbarriere und meterweise verlegte Schläuche alle Unklarheiten. Schon vor dem Startschuss begannen die Feuerwehrleute den an dieser Stelle überschwemmten Uferweg trocken zu legen. Nun ist der Pegel des Bachs soweit gesunken, dass sie ihre Arbeit einstellen können.

Immer wieder patschen die Füße ein paar Meter durch Wasser, das von benachbarten Wiesen und Feldern bachwärts rinnt. Geradezu mädchenhaft fürchte ich mich vor nassen Füßen. Bin ich mittlerweile zum laufenden Weichei verkommen? Zugegeben: Nasse Füße sind unangenehm. Zu negativen Konsequenzen führten sie nie, nicht mal seinerzeit in Biel auf 100 km-Kurs. Wende zwei bringt uns in der Ortschaft Sulz wieder zurück auf die Straße und vor einen weiteren „Motivationsschwerpunkt“. Mit frenetischem Geschrei, als hätte er etwas zu verkaufen, begrüßt ein Sprecher Läufer um Läufer. Untermalt wird das Ganze von Blasmusik. „Volkfeststimmung!“ meint Kraxi lapidar. Ich brumme zustimmend, wenngleich für ein Volksfest das wichtigste fehlt: Das Volk.

Die Straße fühlt sich gut an unter den Füßen. Auf den Kilometer 17 bis 20, ohne Windlast (oder leichter Rückenwind?) und völlig flach (oder minimal abschüssig?), bleibt unsere Pace knapp unter 4:50 min/km. Also sorgloses Laufen? Mitnichten. Auf einundsechzig Marathons und Ultras stützt sich meine Lauferfahrung. Wie konnte mir dann dieser beschämende, überaus ärgerliche Fehler unterlaufen? An jeder Labestation, alle zwei bis drei Kilometer, kippte ich mir bedenkenlos einen Becher gelbe Brühe in den Magen. Und deshalb beantworte ich Kraxis Routinefrage – „Wie geht’s dir?“ – dieses Mal mit Bauchschmerzen.

Runde eins geht in die letzten tausend Meter: Vor uns erhebt sich der Güssinger Schlossberg aus flacher Landschaft. Obenauf – ja was eigentlich? – vermutlich ein Schloss und eine Kirche mit spitz aufragendem Turm. Vor den ersten Güssinger Häusern links ab, ein paar Meter starkes Gefälle und dann auf den Lärm des Start-/Zielbereiches zu. Dreißig Meter vor dem Zieltor werden wir sortiert: Halbmarathonis links, Marathonis rechts. Kurz darauf finden wir uns auf schon bekannten Straßen ausgangs Güssing wieder und werden vom Fanclub, insbesondere der neuerlich wie entfesselt bellenden Roxi, lautstark angefeuert.

„Wie geht’s dir jetzt?“ fragt Kraxi. Ehrlich währt am längsten: „Es fühlt sich schon sehr hart an!“. „Wir wissen beide, dass ein Marathon nicht nur reines Vergnügen ist!“ meint Kraxi, um mir Mut zu machen. Mit dieser einfachen Wahrheit rennt er offene Türen ein. Allerdings signalisiert mein Körper schon mehr als ich meinem Mitstreiter verraten mag: Dieses Tempo werde ich nicht bis zum Schluss durchstehen! Ob dieser Gewissheit schalte ich unbewusst einen Gang zurück. Die spätere Auswertung dokumentiert von nun an etwa 10 Sekunden mehr pro Kilometer. Schleife eins zieht sich gewaltig in die Länge. Ich spüre nun jeden Schritt. Eine Verpflegungsstation kommt in Sicht. Kraxi hat es sich zur Gewohnheit gemacht voraus zu sprinten und mir das Getränk zu besorgen: „Willst du was?“ Wie zuvor lehne ich das Angebot ab. Eine eiserne Faust quetscht meinen Magen schmerzhaft zusammen. Lediglich Verzicht auf Trinkbares kann das wieder kurieren.

Es ist einsam um uns geworden. Nur einzelne Farbtupfer streben vor uns her in dieselbe Richtung. Auch die heran stürmende Führungsspitze des Marathons sorgt für wenig Belebung: Dem führenden Läufer folgt mit etwa 30 Sekunden Abstand der zweite, kurz darauf der dritte, dann lange nichts mehr. Ich sehne die Wende herbei, vermag sie aber in der Ferne nicht auszumachen. Schon bekannte Bilder ziehen vorbei: Der geflutete Acker, gesäumt von Büschen. Waldrand rechts. Unfallmarkierung weiß auf grau. Und weiter, immer weiter. Unter Mühen erreiche ich die Wende und den nächsten Verpflegungspunkt. „Willst du was?“ fragt mein dienstbarer Geist. „Nein!“ und noch einmal „Nein!“ als Kraxi sein Angebot mit „Aber du musst was trinken!“ unterstreicht.

„Der Wind hat aufgefrischt!“ meine ich zu Kraxi. Beinahe klingt es ein wenig entrüstet, als könnte mein Laufkamerad das Gebläse abstellen. Langsamer werde ich nicht, muss aber mehr Körner investieren. 26 Kilometer liegen hinter uns. Ungefähr hier beginne ich meine Verwegenheit zu verwünschen. Was hätte ich mir vergeben, wäre ich mit einem 5er-Schnitt auf die Strecke gegangen? Wozu dieses Temporisiko? In den vergangenen Tagen plagten mich leichte Kopfschmerzen und die Frage, ob sie etwas zu bedeuten haben. Obschon es auf solche Fragen selten eine klare Antwort gibt, hätten sie mir Warnung genug sein müssen meinen Ehrgeiz zu zügeln. Seltsam: Weit und breit keine einzige Schnecke mehr. Nicht mal eine, die ihr Schneckentempo mit dem Leben bezahlen musste. Offenbar konnten sich alle am Straßenrand in Sicherheit bringen. Als wenn es dieses Beweises bedurft hätte: Auch wer sich langsam bewegt, kommt ans Ziel!

Güssing erreicht, 30 Kilometer geschafft und wir laufenden Helden ernten einmal mehr den Beifall unseres Anhangs. Fünf Minuten beträgt an dieser Stelle der Vorsprung gegenüber einer Zielzeit von 3:30 h. Das beruhigt mich keineswegs, weil das schon vor 10 Kilometern so war, als wir Güssing verließen. Wir sind also langsamer geworden und diese Tendenz wird sich fortsetzen, das fühle ich.

Am Schlossberg entlang aufwärts. Verdammt ist das hart. Und nun quatscht mich auch noch jemand an. „Ah, aus Augsburg kommst du! Aus Deutschland! Machst du Urlaub oder bist nur zum Laufen hier?“ Um Himmels willen! Nur jetzt kein Small Talk. „Urlaub.“ quetsche ich zwischen den Zähnen hervor und muss mich gar nicht anstrengen, um es erschöpft klingen zu lassen. Jedenfalls lässt mich der Frager sofort in Ruhe und begnügt sich fortan mit gastfreundlicher Begleitung. Oh! Wie ich ihn dafür hasse! Nein nicht für die Begleitung an sich, wohl aber für seinen tänzelnd, schwerelosen Laufstil nach immerhin 31 Kilometern…

Zweimal ging übrigens ein kurzer Schauer über uns nieder. Kaum der Rede wert. Tausend mal mehr Flüssigkeit nässt von innen. Bis auf die hohe Luftfeuchtigkeit sind die Verhältnisse nach wie vor ausgezeichnet. Noch einmal Güssing im Rücken, noch einmal Schleife zwei. Meine Beine sind weicher geworden, fühlen sich an wie Gummi. Ich bin müde und werde langsamer. Mehrfach verliere ich ein, zwei Schritte auf Kraxi, bis der sein Tempo zügelt. Er schlüpft in die Rolle des Pacemakers und mehrfach bäume ich mich gegen das Unabänderliche auf. Die Auenlandschaft vermag mich nicht mehr zu fesseln. „Jetzt sind wir einstellig!“ Kraxi will mir positives Denken einpflanzen, als wir die Kilometertafel mit der „33“ passieren. Noch neun Kilometer.

Der infolge Übersteuerung krächzende Lautsprecher empfängt uns. Nun denn: Noch einmal die üble Rampe. Ganz bewusst schalte ich einen Gang zurück, will da oben nicht nach Atem ringen müssen. Noch fünfzig Meter, noch dreißig, noch zwanzig … „You win again!“ tönt es aus dem Lautsprecher, ein Song der Bee Gees, ein sehr motivierender! Noch zehn elend harte Schritte am Hang und wieder schallt es mir entgegen: „You win again!“ Der helle Wahnsinn! Das kann doch kein Zufall sein!? Ausgerechnet in diesem Moment dieser Refrain, dieser tolle Rhythmus, dieser explodierende Optimismus aus dreifachem Chor der Bee Gees. You win again! Ja, ich werde gewinnen. Ich bin wieder dabei, wieder auf Marathonkurs unterwegs. Ich habe, was ich mir so lange wünschte und für ein paar Sekunden, während sich der Puls beruhigt, fühle ich mich rundherum zufrieden…

Die Bäche quer zur Laufrichtung sind versiegt. Trockenen Fußes schleppe ich mich entlang des Baches vorwärts. Vorbei an der Sandsackbarriere und so schnell es noch geht in Richtung Wende zwei. In dieser Phase breche ich fühlbar ein und Kraxi kommentiert später, ich habe auf dem Schlussabschnitt „nicht mehr wirklich gut ausgesehen“. Die Pace liegt nun deutlich über dem 5er-Schnitt und frisst den Zeitvorrat auf. Nur zwei dringende Wünsche finden jetzt noch Platz in meinem Kopf. „Unter 3:30 h finishen“ lautet der eine und mobilisiert weiter Energie in jaulenden Beinen. „Ich will dass die Quälerei vorbei ist!“ der andere, um den Schmerz irgendwie zu kanalisieren. Auf Kraxis Bemerkungen, gleich ob sachlich oder aufmunternd, reagiere ich überhaupt nicht mehr. Ich zweifele keinen Moment, dass er das versteht.

Zufällig in Dreiher-Formation trotten wir auf den Ort der Volksfeststimmung zu, kurz nach der Wende. Der Sprecher wartet auf die führende Läuferin, die ein paar Minuten hinter uns folgt. „Habt ihr eine Frau dabei? Wenn ja, dann aufzeigen! Wehe, wenn nicht!“ ruft er uns scherzhaft entgegen. Der Mitläufer vor mir tut ihm den Gefallen, meldet sich mit erhobener Hand und wird wie angedroht mit Schimpf und Schande davon gejagt. Das ist ganz bestimmt lustig und ich würde lachen, wenn ich noch könnte. Auch mich lässt er nicht ungeschoren, obwohl schon zehn Meter vorbei: „Da läuft der Udo! Aus Deutschland!“ Noch fünf Kilometer.

Meine Füße kleben am Asphalt. Es kostet richtig Kraft sie immer wieder hoch zu heben. Ich orientiere mich seitwärts an Kraxi und kämpfe so gut ich kann. ‚Nicht nachlassen! Durchhalten!’ peitsche ich mich in Gedanken vorwärts. Noch vier Kilometer. Erneut eine Hochrechnung und wieder lande ich bei 3:28 h als Endzeit, aber nur wenn ich nicht noch weiter einbreche. Langsam öffnet sich der Tunnel. Ich spüre jetzt jeden meiner Schritte, als müsste ich sie bewusst setzen. Immer mehr Willenskraft muss wachsende Schwäche ausgleichen. Zehn Schritte, fünfzig, hundert, … ‚Weiter!! Laufen!! Laufen!!’ Noch drei Kilometer. Alles um mich herum wird unwichtig. Alles egal. Nur eines zählt noch: Ankommen! ‚Auf der nächsten Tafel wird „40“ stehen!’ Für einen Moment hilft mir diese Vorstellung, lässt mich weiter Schritte setzen. Schwerfällig, müde, aber immer noch Laufschritte. Noch zwei Kilometer. Und ich weiß totsicher, dass ich wirklich nicht mehr weiter als diese verfluchten zwei Kilometer werde laufen können.

Es durchzieht mich wie ein Schrei: ‚Ich will, dass es endlich vorbei ist!’ Voraus wächst der Schlossberg aus der Ebene, wird langsam größer. Meter um Meter ringe ich mir ab und es tut weh wie selten. Noch ein Kilometer. Ich werde mein Ziel erreichen, das steht nun fest und die Gewissheit hilft. Nicht so „souverän“ unter 3:30 h, wie Kraxi gerade anmerkt, aber immerhin deutlich. Von ferne vernehme ich den Lautsprecher und mobilisiere letzte Reserven. Mit einem Lächeln ins Ziel schlägt Kraxi vor. Das wird mir nicht gelingen und wäre obendrein gelogen. Wabernder Schmerz und peinigende Schwäche machen es unmöglich. Aber aufrecht und mit noch einmal erhöhtem Tempo streben wir in Richtung Finish. Und dann endlich, endlich, endlich ist es geschafft. Kraxi nimmt meine Hand und gemeinsam laufen wir über die Ziellinie.

Ausgepumpt ringe ich eine Weile um Kraft und Fassung. Schließlich reiche ich Kraxi die Hand und ich bedanke mich. Es war gut diesen Weg nicht alleine zurückgelegt zu haben. Nach ein paar Minuten „entlasse“ ich Kraxi … zum Training! Er wird die letzte Schleife (ca. 11 km) noch einmal laufen. Falls du es vergessen haben solltest: Er ist einer der besten Ultras in diesem Land und bereitet sich auf die Weltmeisterschaft im 100 km-Lauf vor!

Persönliches Fazit

Güssing war ein Erfolg. Sogar ein gewaltiger, wenn ich die zahlreichen Rückschläge der vergangenen Monate bedenke. Dass mit 3:27:44 h ein paar Minuten zur erhofften Zielzeit fehlen, spielt keine Rolle. Güssing brachte mir nach langer Marathon-Abstinenz jedoch nicht die erträumte totale Befreiung. Die Angst vor Verletzung und Krankheit läuft weiterhin mit. Güssing war einer der Schritte auf dem Weg zum sorgenfreien Laufen mit Genuss.

Veranstaltungskritik

Natürlich wird niemand denselben weiten Weg wie ich antreten, nur um in Güssing einen Marathon zu laufen. Im Zusammenhang mit einem ohnehin geplanten Urlaub im Burgenland, der Steiermark, im nahen Ungarn oder Slowenien, spricht allerdings einiges dafür sich diesen Lauf nicht entgehen zu lassen. Die Strecke ist zumindest auf Schleife zwei landschaftlich recht attraktiv und mangels markanter Höhenunterschiede auch bestzeitenfähig. Die Organisation verlief reibungslos und bietet für das recht erschwingliche Startgeld einiges: Pasta-Gutschein, Erinnerungs-Shirt, eine Flasche „Iso“ in der Startertüte, Massagen im Ziel und eine tolle Versorgung unterwegs. Einziger, aber minder wichtiger Wermutstropfen ist die wenig aussagekräftige Homepage. Einige Angaben sind verwirrend oder fehlerhaft und Streckenpläne sucht man vergebens

.Hinweis: Die Auflage 2010 war die letzte, der Güssing Marathon wird nicht mehr stattfinden.

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