Unbekannter Himmelskörper gesichtet!  –  Zum Lauffieber nach Bald Waldsee

An der Ausfahrt Leutkirch verlassen wir die Autobahn A96, München – Lindau. Wir, das sind Ines, Udo und unser aufgeregter Vierbeiner Roxi im Kofferraum. Die Stimmung entspricht den Ansichten vor der Windschutzscheibe, wechselt zwischen Begeisterung und Frösteln. Begeisterung weckt die von sanften Hügeln und markanten Höhenzügen geprägte oberschwäbische Landschaft. Satt grüne Wiesen so weit das Auge reicht, in dieser oder jener Richtung von Waldstücken eingerahmt. Inneres Frösteln bereitet uns die niedrige, schwer lastende Wolkendecke, die dann und wann ein paar Spritzer auf die Frontscheibe wirft. Stete Wechsel von hellen zu dunkelgrauen Schwaden drohen mit ergiebigeren Güssen … Nachher, wenn wir unterwegs sind. Zunächst Udo um 14 Uhr auf Halbmarathonkurs, danach Ines (vielleicht mit Roxi) um halb fünf 10 km weit.

„Unbekannter Himmelskörper gesichtet!“ verkündet die Stimme einer Moderatorin von SWR3 im Radio. Selbstredend weckt eine solche Ankündigung unsere Aufmerksamkeit. Also lauschen wir, was ihr Kölner Interviewpartner am Telefon zu sagen hat … Und dann lachen wir beide herzhaft. Toller Scherz!

Hinweis: Die Fotos zu den Kinderläufen stammen aus dem Jahr 2005. Sie sind durch Anklicken zu vergrößern. Zum Bericht von 2005 hier klicken .

Vor Bad Waldsee durchquerst du – egal aus welcher Richtung kommend – jede Menge Gegend. Unzweifelhaft schöne Gegend. Eben darum bist du auf eine unvermittelt auftauchende, zum Kurort erhobene KLeinstadt so gar nicht gefasst; und dass man hier alljährlich unter der Überschrift „Bad Waldseer Lauffieber“ eine Laufserie anbietet, perfekt organisiert und routiniert durchgeführt, glaubt erst, wer es einmal erlebt hat. Ich bin das zweite Mal hier, lief 2005 den Marathon. Inzwischen hat sich einiges geändert: Damals umfasste das Programm auch mehrere Triathlon-Bewerbe. Parallel (!) zu den Kinderläufen, dem Marathon, dem Halbmarathon und einem 10 km-Lauf. Schon seinerzeit waren keine Reibungspunkte zu erkennen. Gespannt bin ich, ob die komplett neue Strecke denselben Umfang nicht allzu ausgeprägter Steigungen aufweist, wie die alte. Sanftes Auf und Ab ist ebenso kurzweilig, wie kontraproduktiv für ehrgeizige Zielzeitpläne. Und dergleichen habe ich heute im Sinn.

Das erwartete Verkehrschaos anlässlich einer Veranstaltung mit über 1.000 Teilnehmern fällt zumindest für uns aus: Wir schleichen uns auf einer Nebenstraße in den Ort und parken auf Anhieb exklusiv direkt vorm Maximiliansbad, wo sich die Duschen befinden. Meine Voranmeldung und Ines Nachmeldung in der Stadthalle sind rasch erledigt. Ein Blick auf das Streckenprofil hebt meine Stimmung, denn es weist kaum Steigungen auf (maximal 20 Meter Höhendifferenz). Der Blick durch die Fenster der Lobby nach draußen, versetzt mir gleich wieder einen Dämpfer: Leute unter Schirmen gehen vorbei. Am Ausgang der Stadthalle laufen wir Kerstin aus dem Laufforum in die Arme, die sich zum Halbmarathon nachmelden wird. Was kann man sich zwischen Tür und Angel schon groß erzählen? – Hallo! – Was wirst du laufen? – Alles Gute!

Der kurze Schauer ist beendet, als wir die wenigen hundert Meter zum Auto zurücklegen. Vielleicht bleibt es ja doch einigermaßen trocken!? Die Kälte wird mir auch so zu schaffen machen. Deutlich unter 10°C und das im Mai. Seit Wochen schon dieses miese Wetter. Für meine Zielzeitträume steht das Quecksilber mindestens 5°C zu weit unten. Am liebsten laufe ich ohnehin bei knapp 20°C in Singlet und Kurztight. Kurztight ist natürlich auch heute Pflicht, sonst fühle ich mich gehandicapt und wäre es wohl auch. Obenrum trage ich das mittlerweile sattsam gehasste, dicke Langarmhemd unter meinen Vereinsfarben.

Auf dem Weg vom Auto zum Rathausplatz laufe ich mich unter ständigen Richtungswechseln ein. Roxi kann nicht so recht fassen, was Herrchen da treibt und gebärdet sich dementsprechend unruhig. Ines Standplatz für die Star(-t)fotos muss noch vereinbart werden. Mit Roxi an der Leine hätte sie im undurchdringlichen Zuschauerdickicht auf dem winzigen Rathausplatz keine Chance. Dafür bietet sich ihr als Zaungast in einer der Altstadtgassen, etwa 200 Meter nach der Startlinie, eine Ecke mit vorzüglichem Schussfeld an. Mit guten Wünschen werde ich in Richtung Rathausplatz entlassen. Noch acht Minuten.

Ein Durchlass im Spalier der Zuschauer und Absperrgitter ist rasch gefunden. Im Feld peile ich kurz rückwärts, dann vorwärts. Ich wähne mich ungefähr in der Mitte der Startaufstellung, also zu weit hinten für mein Vorhaben. Seitlich stehen die Läufer in lockerer Formation. Ein bisschen Schlüpfen, ein wenig Schlängeln, ein paar gemurmelte Entschuldigungen, dann habe ich meine Startposition erreicht. Wie immer in solcher Situation mustere ich die Umstehenden, als gäben Aufmachung und Gesichtsausdruck verlässlich Auskunft über Stärke und Chancen. Wie jedes Mal registriere ich entschlossene Mienen und scheinbar vor Ausdauer strotzende Körper in pfeilschnellem Outfit. Wie üblich keimen Zweifel an der eigenen Leistungsfähigkeit und ein Gefühl der Unterlegenheit. Noch sechs Minuten.

Zum Glück lenkt mich das „Protokollgeschehen“ ab. Zunächst verheißt der Einpeitscher am Mikro rhythmische Klänge der Rock-Gruppe Toto: „Africa!“ Ach ja! Ein Euro des Startgeldes, fließt einem wohltätigen Zweck werweißwo, werweißwem, für wasweißich in Afrika zu. Wohltätigkeit im Rahmen einer Laufveranstaltung findet immer meine Zustimmung, ist mir im Moment aber trotzdem schnurz. Dafür macht die Musik ein bisschen an, drängt Unsicherheit und Kälte ein wenig in den Hintergrund. Noch fünf Minuten.

Was für dämliche Riten man doch pflegt, bevor es endlich losgeht: Im Takt der Musik hüpfe ich ein bisschen auf der Stelle. Das soll kraftvoll sportlich aussehen und beeindruckt garantiert jeden. Boaaah eh! Der Typ ist so randvoll mit Power! Springt ’rum wie Zebulon. Lasst den Irren endlich rennen … Noch vier Minuten.

Akt zwei der Inszenierung besteht aus einem Riesenbaldachin, bedruckt mit der Silhouette des schwarzen Kontinents und dem Motto „Wir helfen Afrika“. Gezogen und gestützt von 600 Läuferhänden wandert er in voller Breite über uns hinweg. Die Fotografen oben im Rathausfenster feuern aus allen Rohren. Bestimmt geht die Regionalzeitung am Montag im Sportteil mit diesem Schnappschuss auf Augenfang. Ah, noch ein Spektakulum! Mädchen arbeiten sich durch die Reihen und verteilen hunderte Luftballons an die Läufer (mit Aufdruck eines Sponsors versteht sich). Willig wie alle anderen lasse ich mich als Werbeknecht verpflichten. Warum auch nicht. Ohne Sponsoren keine Kohle, ohne Kohle keine Laufveranstaltung. Wer will schon eine empfindlich höhere Startgebühr berappen? Noch drei Minuten.

Alle halten sich an ihrem Ballon fest. Und wann sollen sie fliegen? Beim Start vermutlich. „Und nun klatschen alle! Ich will alle Hände oben sehen!“ schreit der Einpeitscher ins Mikro. Aber wenn ich klatsche, dann haut er ab!? Wie lösen die andern diese Aufgabe? Die klatschen alle und nur vereinzelt entwischt so ein heliumgefüllter Flugkörper vorzeitig. Wie können die klatschen und zugleich den Ballon halten? Für Sekunden komme ich mir mordsmäßig blöd vor und … klatsche halt nicht. Wie kann ich Miesepeter es als einziger wagen nicht zu klatschen? Schließlich verschlingt sie auch den Hartnäckigsten, die Massenpsychose. Udo beißt auf den Ballonfaden und klatscht mit nunmehr freien Händen. Aber Reste von Individualität und Distanz muss ich mir bewahren. Ok ich klatsche. Aber ich hebe nicht die Hände dabei hoch. Basta! Noch eine Minute.

Tschüs Luftballon! Der Startschuss befreit mich von inneren und äußeren Sinnlosigkeiten. Endlich verwandelt sich Adrenalin in Laufschritte. Na ja, noch nicht sofort. Etwa eine halbe Minute verstreicht bis ich die Startmatte betrete und meine Uhr abdrücke. Zunächst gilt es auf dem Kopfsteinpflaster nicht zu stolpern und keinen Mitläufer zu treten. Auch die Gefahr gegen Abfallkübel, Laternenpfähle oder andere fußgängerzonenübliche Hindernisse zu prallen schalte ich aus. Und nun in Positur für das erste Shooting des Tages: Da vorne wartet Starfotografin Ines und fokussiert mich durch das Rohr der Kamera. Von ihrer Fotogarbe mehrfach getroffen entkomme ich durch ein Gässchen. Es geht hinunter zum Stadtsee. Der Auftakt führt im nicht ganz geschlossenen Rund um den See. Vorsicht! Ein ums andere Mal wird es auf der schmalen Uferpromenade eng. Über ein schlankes Holzbrücklein, dann scharf nach links. Bisweilen neben dem Weg, wenn mal wieder einer der Gedankenlosen zu überholen ist. Einer von denen, die sich am Start ganz vorne platzieren, obschon sie das Tempo dort gar nicht mitgehen können. Einen kurzen Gedanken verschwende ich an mein Tempo: ‚Vergiss es!’ Dieses unstete Beschleunigen, Verhalten, Noch-mal-Beschleunigen, Außen-Vorbei, Abbremsen und Wiedereinreihen auf dem ersten Kilometer fälscht das Laufgefühl. Gefühlt bin ich ein wenig zu langsam unterwegs. Erfahrungsgemäß wird sich das als etwas zu hohes Tempo auf der Uhr abbilden.

Zu langsam? Zu schnell? Nun muss die Katze aus dem Sack: Unter 1:40h will ich heute bleiben. Vier Minuten weniger als vor zwei Wochen in Schwangau. Das entspricht einem Tempo von 4:44 min/km. Ausreden, so wie in Schwangau, habe ich heute keine. Testläufe der vergangenen Tage weisen aus, dass ich das Tempo in den Beinen habe. Die letzten Tage fühlte ich mich zwar „nicht so toll“, aber das heißt gar nichts, wie jeder Läufer weiß. Heute geht's mir gut und nur darauf kommt es an. Die Strecke ist flach und ein bisschen Regen wird mich auch nicht aufhalten. Außerdem habe ich ja noch meine Geheimwaffe …

‚Hab’s doch gewusst!’ denke ich bei Kilometer eins infolge der Anzeige 4:30 min auf der Uhr. Entgegen der Schätzung bin ich zu schnell unterwegs! An Feinjustierung ist trotzdem noch nicht zu denken. Dazu muss ich erst meinen Rhythmus finden und das wird auf der Seeschleife nicht gelingen. Das abwechslungsreich mit Sumpfpflanzen bewachsene Ufer und die vielen idyllischen Aussichten quer über den See werde ich erst Stunden später wahrnehmen, wenn Ines hier ihre Runden dreht. Jetzt geht’s nur um Warmwerden, Tempo machen, nicht behindern und nicht behindert werden.

Ende der Uferbeschau: Wir verlassen den See und rennen in Richtung Waldseer Außenbezirke. So! Jetzt noch einmal eine gute Figur machen! Ines hat durch die Gassen der Altstadt abgekürzt und visiert mich wieder durch den Kamerasucher an. Ein Lächeln, ein Winken, letzter Gruß und ab. Hoppla! Das ist dann doch etwas zu schnell. Mit 4:26 min beende ich den zweiten Kilometer.

Auch auf dem nächsten Abschnitt, er führt über mehrere Bodenwellen eines Parks, finde ich nicht zu gleichmäßigem Trab. Dann endlich ebener Asphalt: Wir wetzen durch wenig belebte Wohnstraßen im Stadtteil Steinach. Flach, flach und lange geradeaus. Mein Schritt beginnt gerade sich zu beruhigen, als überraschend der Spitzenläufer des Marathonfeldes auf Gegenkurs vorbei huscht. Die Marathonis starteten um 13 Uhr und müssen denselben Rundweg zweimal absolvieren. Ob der mich wohl überholen wird? Was ist das? Ein nicht asphaltierter Wegabschnitt ist zu bewältigen. Zum Glück mit einigermaßen ebener, fester Oberfläche. Der viele Regen der letzten Tage konnte gottlob keinen Schmierfilm erzeugen. Das wär’ nix für meine Geheimwaffe … Fast immer ziehe ich Feld- und Waldwege der harten Straße vor. Nur heute nicht. Heute will ich Leistung abliefern, will wieder Antworten von innen hören, eine zweite Standortbestimmung vornehmen.

Ich spüre die Kälte nicht, dafür sind Tempo und Konzentration zu hoch. Bloß in keines der feuchten, glitschig lugenden Augen treten und jedem auch nur murmelgroßen Stein ausweichen. Meine knallrote, superleichte Geheimwaffe gibt jede Unebenheit gnadenlos an die Fußsohlen weiter. Wettkampfschuhe! Nein, ich trage sie nicht, um mit dem Gewichtsvorteil ein paar Sekunden einzusparen. Es geht mir um den direkten Kontakt zur Straße und das fantastische Gefühl einen Hauch von nichts an den Füßen zu haben. Das ist ein bisschen wie schweben, wenigstens auf den ersten Kilometern …

Nach wohl nicht mehr als 800 Metern spüre ich wieder Asphalt unter den Füßen. Und hier, nach fünf Kilometern, finde ich meinen Laufrhythmus. An den Kilometerzeiten ändert sich wenig, sie pendeln zwischen 4:30 und 4:38 min. Trotz unvermindert hoher Pace beruhigt sich der Puls ein wenig. Seltsam. Wahrscheinlich hat die Strecke auf diesem Teil unmerkliches Gefälle oder leichter Rückenwind pustet mich vorwärts oder beides. Muss ich mir Sorgen machen? Der letzte Parforceritt dieser Art ist lange her. Aber der Pulsmesser tendiert doch eher zur Ruhe!? Und die Belastung bewegt sich im selben Rahmen wie vor zwei Wochen in Schwangau – gefühlt sogar leicht darunter. Also weiter so und sehen was geht.

Hin und wieder begegnen mir ein paar Marathonis. Bis Kilometer sieben sind Hin- und Rückweg identisch. Den kenne ich! Ein großer, kräftiger Kerl mit ziemlicher Mähne. En passant treffen sich unsere Blicke. Erkennt er mich? Jedenfalls muckt er nicht und mir will partout nicht einfallen, wo sich unsere Wege kreuzten. Das nervt. Wie vorhin. Da grüßte mich einer gut gelaunt vom Sattel eines Mountainbikes: „Nicht so schnell Udo!“ Ich kannte das Gesicht. Aber woher? Peinlich! Gesichter prägen sich mir ein, warum nicht auch Namen und Orte dazu? Wir laufen im Halbdunkel durch ein Waldstück. Der Asphalt ist teilweise noch feucht. Wenn’s nur nicht zu regnen anfängt. Mehr verlange ich gar nicht.

Wir haben den Waldsaum hinter uns. Der Blick schweift über eine flache Wiesenlandschaft. Darüber lastet schwer und drohend wie vor Stunden das graue Gewölk. Plötzlich schmunzele ich und bestimmt überzieht kurzzeitig ein Lächeln mein Gesicht. Beim grau-tristen Rundblick fällt mir die Radiomeldung wieder ein: „Unbekannter Himmelskörper gesichtet!“

Zwei Weiler liegen hinter uns, nichts tut sich. Irgendwann fällt mir auf, dass keine Marathonis mehr entgegen kommen. Die Verzweigung der Strecke habe ich dann wohl „verschlafen“. Verschiebungen in der Reihenfolge gibt es wenige. Einmal versuche ich mich hinter einen Läufer zu klemmen. Aber dieses Manöver fordert mehr, als ich hier schon bereit wäre zu geben. Kilometer 10 passiere ich nach 46:20 Minuten. ‚Du bist langsam.’ schießt mir als erster Gedanke durch den Kopf. ‚Blödsinn! Das ist kein 10 km-Lauf! Immerhin willst du das Tempo weitere 11 Kilometer halten!’

Noch ein Wäldchen wird besichtigt, dann erreichen wir durch eine sanfte Mulde die nächste Ansiedlung. Auf dem Weg durch die Ortschaft Reute wird deutlich, dass der Streckenplaner einige Mühe hatte die 21.097,5 Meter Halbmarathonstrecke exakt einzuhalten. Mehrmals biegen wir ab und üben auch ein bisschen Zickzacklauf im „Vorgarten“ irgendeines größeren Gebäudes. Was das für ein Gebäude war? Keine Ahnung, nicht ersichtlich. Zu sehr muss ich mich auf die dauernden, scharfen Richtungsänderungen über Plattenwege konzentrieren. Geschafft. Und nun leicht aufwärts zurück auf die Straße und mitten über eine Kontrollmatte der Zeitmessung. Schließlich stoße ich ins Epizentrum des Remmidemmis vor. Das rumort beständig im Hintergrund, seit ich den Fuß auf die erste Dorfstraße setzte. Laute Musik, ein eifrig moderierender Sprecher und viele begeistert applaudierende Zuschauer behalte ich von Reute in Erinnerung.

Das Dorf bleibt zurück. Anscheinend steht jetzt ein längerer Abschnitt über freies Gelände ohne Richtungsänderung bevor. Leider, denn plötzlich mischt sich ein Geselle ein, den ich gar nicht leiden mag; nicht hier, nicht zu Hause, nirgendwo. Leichter Gegenwind treibt den Puls in die Höhe. Ich halte dagegen und arrangiere mich mit der Situation. Jedenfalls empfinde ich die Mehrbelastung als nicht gravierend und bis zu dem Waldrand in zwei, drei Kilometern Entfernung werde ich das schon durchhalten. Hinter mir schlurft einer heran. Und noch näher, bis ich ein männliches, leicht keuchendes Atmen dicht hinter mir höre. Doch, doch, man kann hören, ob ein männliches oder weibliches Exemplar des Homo sapiens neben der eigenen Ohrmuschel keucht.

‚Nun lauf endlich vorbei du Heini!’ So unhöfliche Sätze denke ich nicht sofort. Da muss mich einer schon eine Weile nerven. Nachdem der Wind einmal kurz auffrischt, fällt endlich der Groschen: Der sucht meinen Windschatten! Deswegen läuft er leicht schräg versetzt, knapp hinter mir und wird auch nicht überholen. Sein rhythmisch angestrenges „Krchch … Krchch … Krchch … Krchch“ geht mir entsetzlich auf den Wecker. Und ausgenutzt fühle ich mich auch. Was macht ein Läufer beim Laufen? Ich meine außer die Gegend und den Lauf zu genießen? Und wenn er noch dazu in einem Wettkampf am vermutlichen Limit läuft? Er achtet auf seine inneren Sensoren und spürt jedem noch so leisen Mucken hinterher. Vielleicht merke ich deshalb so genau, wie diese hässliche Aggression immer mehr von mir Besitz ergreift. Was kann ich tun? Wie kriege ich das widerliche Keuchen aus meinem Gehörgang? Soll ich bewusst langsamer laufen, ihn zwingen vorbei zu ziehen? Zu dumm, dass ich so ehrgeizig bin! Was dann? Ich verlagere meinen Lauf mehr zum Rand hin. Bringt nichts, das Untier kaut mir weiter die Ohrmuschel ab. Immer wütender werde ich. Und wenn’s hundert Mal Wahnsinn ist so weit vorm Ziel: Kaum denke ich an Zwischenspurt, da nehme ich auch schon die Beine in die Hand und setze mich ab. Fünfzig, vielleicht achtzig Meter, dann nehme ich wieder Tempo raus. Hoffentlich folgt er mir nicht!? Doch! Er versucht’s! Noch einmal erhöhe ich die Pace, nicht ganz so forsch und überhole eine Läuferin. Fast bin ich versucht mich für das unsinnige Gerenne bei der Dame zu entschuldigen: „He! Bitte nicht schlecht von mir denken! Ist nicht meine Schuld. Ich wollte nur den Typ dahinten von der Backe haben!“ – Lieber noch ein bisschen das Tempo halten. Ein weiterer Läufer bleibt zurück. ‚Warum guckt mich der so komisch von der Seite an?’ Immerhin registriere ich mit Erleichterung, dass meine Flucht anscheinend gelingt …

Ein Abzweig. Und nun? Rechts oder Links? Im Bemühen zu verduften habe für den Moment den Durchblick verloren. Ein Ordner winkt mit eindeutiger Geste nach rechts. Da kann man mal sehen, wie wichtig Ordner für alternde Läufer sind. Es dauert Sekunden bis ich kapiere, dass Hin- und Rückweg sich hier vereinigen und ich eben jene Route nehmen muss, aus der ich vorhin kam. „Renn doch nicht so Udo!“ wieder der Mann mit dem Mountainbike, wieder das bekannte Gesicht und dieses Mal bin noch weiter davon entfernt ihn im Nebel meiner Erinnerung aufzustöbern.

16 Kilometer vollendet und erstmals gestatte ich mir den Countdown: ‚Noch 5 Kilometer! Weiter so! Das hab’ ich heut’ drauf!’ mache ich mir Mut. Die ursprünglichen „Sub-Eins-Vierzig“ sind als Ziel passé. Die wären selbst dann nicht in Gefahr, wenn ich den Rest mit Muße zu Ende trabe. Aber reiche mir den kleinen Finger, dann nehme ich die ganze Hand: ‚Vielleicht schaffe ich 1:38:xx?’ Schon merkwürdig, wie unterschiedlich man zwei Halbmarathons im Abstand von zwei Wochen erleben kann. Das meint keine Äußerlichkeiten, sondern die geistige und körperliche Verfassung. Gut, mein Ausdauerniveau ist besser, aber dafür wetze ich heute auch hurtiger durch’s Oberschwabenland. Verschiedene Indikatoren wie Atemfrequenz, Puls oder verhärtete Oberschenkel entsprechen jenen vor zwei Wochen. Trotzdem läuft es sich heute leichter, weniger unangenehm jetzt in der Schlussphase.

Auf Gegenkurs ziehen weitere Läufer vorbei. Marathonis oder verspätete Teilnehmer am Halbmarathon? Für solche mit Überschlagsrechnungen verbundenen Überlegungen fehlt mir jede Lust. „Hallo Udo!“ ruft plötzlich einer und im letzten Moment erkenne ich Frett den Ultra. Da muss ich meinen Speicher nicht malträtieren. Wir sind uns oft genug begegnet. „Hallo Udo!“ schallt es wenig später neuerlich herüber. Leider zu spät. So fällt mein Blick auf eine unbekannte Rückansicht. Dennoch hinterlassen diese Grüße ein gutes Gefühl: Lauf wo du willst in der Republik, irgendein Bekannter ist schon da.

Die lange Waldpassage liegt zum zweiten Mal hinter mir. Ich stoße auf den nicht asphaltierten Feldweg und hefte meine Blicke konzentriert an den Boden. Noch drei Kilometer. ‚Nicht nachlassen! Dranbleiben! Tempo halten!’ Als Gedankenleser könntest du diese Worte in meinem Kopf nicht finden. Ein wie auch immer lautendes „Ich-will-durchhalten!“ gelangt selten ins Stadium des klar formulierten Gedankens. Dieses von Ehrgeiz genährte Bestreben durchzieht mich als starke Empfindung. Eine, die Energien freisetzt. Was immer auch an Biochemie dahinter stecken mag: Der Prozess vollzieht sich vollautomatisch. Eine Art Instinkt, der auch dann noch vorwärts treibt, wenn der Schmerz im Finish längst alles Denken blockiert.

Zurück in Bad Waldsee. Noch zwei Kilometer. In den Beinen zieht es heftig. ‚Ist ok, ist ok. Nicht mehr weit!’ Diese Straße noch. Ach ja, da vorne links rum. Hundert Meter und dann ab in den Park. Über die kleine Holzbrücke. Ich bereite mich innerlich auf ein paar gemeine Minuten vor. Im Park ein paar Mal auf und ab. ‚Nicht langsamer werden!’ befiehlt meine ehrgeizige Hälfte. ‚Ist doch egal. Ist eh schon alles gewonnen!’ antwortet der gepeinigte Rest. Derlei gedankliche Wortgefechte kurz vor Schluss bremsen mich nicht. So lange die Beine mitspielen gebe ich alles. Stückweit rauf, stückweit runter, rauf, runter, rauf und zuletzt noch einmal runter. Der Park liegt hinter mir. ‚Ein paar hundert Meter noch. Gleich geschafft!’ Dann sehe ich die Einfahrt in die Fußgängerzone. Das Finale. Ein letzter Anstieg. Sei’s drum. Ich ziehe den Endspurt an, werde schneller. Da steht Ines! Fotografiert! Vorbei. Noch hundert Meter. Nun lege ich alles in die letzten Schritte, sprinte wie entfesselt und bin im Ziel.

Zufrieden trete ich Minuten später mit Ines den Rückweg an. Heute hat alles gepasst. Alles? Sagen wir mal fast alles. Diese ätzende, schon seit Wochen anhaltende Kälte ist halt nicht mein Ding. Lieber wäre mir gewesen auch hier und heute jenen unbekannten Himmelskörper zu sichten, von dessen Erscheinen der Radiohörer aus Köln auf der Herfahrt mit so viel Begeisterung erzählte …

Fazit:

Die Laufzeit von 1:37:48 h bedeutet eine Verbesserung um mehr als sechs Minuten gegenüber dem Halbmarathon von Schwangau vor zwei Wochen. Einmal mehr fühle ich mich bestätigt auf meinem Weg zurück zum Marathon.

 

Ines im Stadtsee-Orbit

Kurz vorm Start zu Ines’ 10 km-Lauf beginnt es aus einer tief düsteren Wolke zu regnen. Wir lassen Roxi im Auto zurück. Schweren Herzens aber der Vernunft gehorchend. Fünf Runden sind zu absolvieren, rund um den Stadtsee und immer wieder vorbei an Start und Ziel. Viele schnellere Läufer werden Ines überrunden. Auf schmalem Uferweg bildete das Gespann Ines plus Roxi ein unzumutbares Hindernis. Und wie unser vierbeiniger Derwisch auf ständiges Überholen reagieren würde, kann sich jeder ausmalen.

Der große Regen findet dann doch nicht statt und so zirkelt Ines ganz entspannt ihre Kreise. Eine kleine Läufergruppe bietet Gelegenheit sich anzuhängen. Zeitziel? Fehlanzeige. In den letzten Monaten ist sie vollends ins Lager der reinen Genussjogger übergelaufen. So schien es zumindest. In aller Gemütsruhe suche ich mir unterschiedliche Positionen am Seeufer, um ein paar charakteristische Schnappschüsse vom Bad Waldseer Lauffieber und natürlich von meiner Frau mit nach Hause zu nehmen.

Auf der letzten Runde packt es sie dann doch. Sie ergreift die Chance unter einer Stunde zu bleiben und unternimmt mit einem Mitglied der Gruppe einen Ausreißversuch … Um ein Haar hätte ich zu spät im Zielbereich Position bezogen. Kaum ist die Kamera schussbereit, da kommt sie auch schon angesprintet. Laufzeit 59:40.

 

Veranstaltungsfazit:

Für 18 Euro Startgebühr wird in Bald Waldsee viel geboten. Selbstverständlich eine reibungslose Organisation und Durchführung; dazu eine schnelle Strecke, gute Versorgung und reichlich Laufatmosphäre. Immerhin trotzte das Bad Waldseer Publikum dem elend kalten Wetter und begleitete alle Veranstaltungen über sechs Stunden mit viel Applaus. Ganz besonders gefallen hat mir das Engagement des Veranstalters für Kinderläufe: Nicht weniger als ein Bambini-Lauf (700 m) und drei Kids-Läufe (700 und 1.400 m) vermitteln den Kleinsten die Freude am Laufen. Immerhin sind sie die Läufer und Läuferinnen von morgen, die bei üblichen Laufveranstaltungen leer ausgehen. Bitte unterstützt diese Arbeit und holt euch in einem der nächsten Jahre das Bad Waldseer Lauffieber!

 

    Ergebnis Ines 10 km
    Nettozeit: 59:40
    Platzierung: 50. von 71
    Platz W 40: 6. von 9
    Ergebnis Udo HM
    Netto: 1:37:48
    Platzierung: 144. von 602
    Platz M 55: 4. von 28
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