Wo man den Bananen Unterstände baut  -  St. Wendel Marathon 2008

Laufen macht grad gar keinen Spaß! Zwei Tiefs halten mich fest in ihren Krallen; dem meteorologischen hat es gefallen vor einiger Zeit den Wasserhahn aufzudrehen; ihm folgte das mentale mit derben Gedanken. Zusammengefasst und einigermaßen druckreif etwa so: ‚Schon wieder so ein Mistwetter!’ Keine Ahnung, ob diese widrigen Umstände die momentane, körperliche Schwäche auslösten oder sie mir lediglich klarer vor Augen führen. Einerlei. In solcher Bedrängnis meldet sich der Miesmacher todsicher zu Wort: ‚Du bist ein Idiot! Warum tust du dir das an? Schon wieder ein Marathon, schon wieder so ein Sch…wetter, schon wieder kämpfen! Was für einen Sinn hat das alles?’ - Nun stelle man sich bitte meine Befindlichkeit - so etwa bei Kilometer 28 - nicht zu dramatisch vor. Dergleichen bin ich gewohnt und halte es aus. Aber wie gesagt: Laufen macht grad gar keinen Spaß!

Ein paar Meter weiter, auf der breiten Bundesstraße 41, im Tal des Flüsschens Blies, wandern drei junge Leute auf mich zu. Muss ein tolles Gefühl sein auf der gesperrten Hauptverkehrsader spazieren zu können. Durchschnittlich etwa alle fünfzig Meter tappt ein begossener Pudel an ihnen vorbei und für jeden heben sich ihre Hände zum Beifall. Die Dame in der Mitte belohnt obendrein mit einem Lächeln. Belanglose Randnotiz? Vielleicht, doch irgendwie macht sie die ganze Chose erträglicher …

Zwei Minuten später: ‚Was plärrt der da?’ Weit voraus krächzt eine Megaphon-Stimme. Wie weit voraus weiß ich nicht. Lasse das Gesicht gesenkt, weil mir sonst Regentropfen in die Augen wehen. Fortwährend quäkt er dieselbe kurze Formel. Klingt wie „Action-Kekse!??“ Noch immer klebt mein Kopf auf der Brust, aber ich bin jetzt sicher: „Action-Kekse! Action-Kekse!“ Für einen vor mir Laufenden ergänzt er: „Willst einen? Ich lauf auch ein Stück mit!“ - Jetzt gilt es mir: „Action-Kekse! Willst einen?“ Eine Hand hält das Megaphon, die andere streckt mir eine gut gefüllte Plastikschüssel entgegen. Ich versuche eine Handbewegung, die hoffentlich beides ausdrückt: Ablehnung und Dank. Halblaut murmele ich eine Art Entschuldigung - „Daran würde ich jetzt ersticken!“ - weil es mir wirklich leid tut, sein Angebot auszuschlagen. Aber seine Tröte übertönt meine Stimme, denn sie bietet die sicher leckeren „Action-Kekse“ bereits meinem Nachfolger an. Nebenbei bemerkt: Wir - das sind ein paar Läufer und der Mann mit den Keksen, nebst zwei Begleitern - befinden uns hier in einer Art Niemandsland: Die nächste Ortschaft, „Oberlinxweiler“ heißt sie wohl, liegt abseits, irgendwo hinter den Büschen, am Hang auf der rechten Seite. Und links ödet mich schon eine ganze Weile die Bahntrasse an. Exakt auf solchen Etappen brauchen Marathonis Leute wie ihn! Irgendwie macht der Typ die ganze Chose erträglicher …

Ich könnte massenweise von der Unterstützung des St. Wendeler Publikums berichten, werde es punktuell sicher auch noch tun. Könnte schwärmen von klatschenden Händen, anfeuernden Stimmen und begeisterten, lachenden Gesichtern. Das Saarland ist Provinz (ich trau mich das zu sagen, weil ich dort geboren bin) und St. Wendel davon eine hintere Ecke. Deshalb können sie hier nicht mehr Köpfe aufbieten, als entlang vieler anderer Laufstrecken Deutschlands. Aber diese Saarländer sind auf eine Art präsent, die einem den Lauf unvergesslich macht. Es ist IHR Marathon! Du läufst und sie feiern ihn!

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X minus 15 Minuten: Einfach genial, wenn die Herberge nur einen Steinwurf vom Ort des Geschehens entfernt liegt und eine freundliche Inhaberin verschwitzte Rennmäuse auch nach dem Checkout noch duschen lässt. Keine morgendliche Hektik, keine Hin- und Rücktransportüberlegungen, keine kalten, schmutzigen oder sonst wie spartanischen Waschgelegenheiten. Ines und ich verlassen das Hotel und gehen die paar Schritte bis zum Startbereich auf dem „Schloßplatz“. Bereits auf diesen ersten Metern bestätigt die fünf Grad kalte, feuchte Luft eines wolkenverhangenen Aprilmorgens unser Bekleidungskonzept: Einmal mehr langärmlig in mehreren Schichten (Ines drei, mir reichen zwei - hoffentlich). Zum Schutz gegen Auskühlung vor dem Start habe ich mir eines dieser „Plastikkondome“ übergeworfen, von denen der Sprecher in ein paar Minuten behaupten wird, sie seien modisch nicht unbedingt der „Hit“. Ines beweist in einem meiner alten Pullis gleichermaßen Mut zu „unvorteilhaftem Äußeren“. Sie freut sich auf den Halbmarathon, läuft ohne übergroßen Ehrgeiz, will Ankommen und Spaß haben. Ihr Training litt unter diversen Verpflichtungen, zudem hat sie ehrgeizige Zielzeitpläne einstweilen über Bord geworfen: „Wettkämpfe machen mir einfach mehr Freude, wenn ich mich nicht so quälen muss!“

Quälen will ich mich auch nicht. Marathon Nummer „Acht“ in diesem Jahr gilt es zu überstehen, eine weitere Station auf dem weiten Weg zum 24-Stundenlauf in Berlin. Ich gehe die „Sache“ mit keiner fixen Zielzeitvorstellung an (wofür ich mich im Nachhinein einen „Deppen“ heißen werde!). Apropos „Zielzeit“. Meist müssen Läufer alle Reserven mobilisieren, um dieses selbst gesetzte Limit zu schaffen. Motto: „So schnell wie möglich!“. Im Vorbereitungsprogramm eines Ultraläufers sprengt einiges die übliche Vorstellung von Laufen. Seit Wochen absolviere ich an jedem Wochenende einen Marathon, einmal waren es zwei. Deshalb dient mir „Zielzeit“ als Maß für schonendes Tempo, das zu überschreiten ich mir strikt untersage. Heute fehlt diese kompakte Hirnschranke, ein vages „Wohl kaum schneller als 3:30h“ nimmt ihre Stelle ein.

X minus fünf Minuten: Höheren Schalldruck pro Kubikdezimeter Startgelände schafft man auch nicht in Berlin, Rom oder New York, da sind die St. Wendeler absolut auf Augenhöhe. Gute-Laune-Ansagen mit etwas Info und einpeitschende Rhythmen wechseln sich ab. Eine Läufertraube, mit Ines und mir in der Mitte, versucht erfolglos den mittleren Startblock zu entern. Umgeben und eingekeilt von reichlich guter Laune bleiben wir einen Meter diesseits der Absperrung „hängen“. Was soll’s, der Chip hinter der Startnummer wird’s richten, letztlich zählt die Nettozeit. Ines hat’s erwischt! Eine Black-Music-Dance-Nummer aus jener Zeit, als sich ihre sportlichen Ambitionen noch am Samstagabend bis in den frühen Sonntagmorgen austobten, zwingt sie in rhythmisches „Upwarming“. Alles ist wie immer: Dieser oder jener Satz aus dem Lautsprecher wird bejubelt, man(n) scherzt, frau auch, Paare und Freunde sammeln sich zum gemeinsamen Start, Spannung lässt die Luft vibrieren. Alles wie immer, aber anders für mich: Ines ist dabei, wird laufen und mir auf der Dreifach-Wendestrecke mehrfach begegnen. Tiefer brauche ich nicht nach Gründen für meine Hochstimmung zu buddeln.

X minus eine Minute: Alle Sardinen erfasst ein Ruck und so „flutschen“ wir doch noch durch den Einlass hinter die Absperrung. Gute Wünsche und ein Kuss, dann zieht es auch schon alle „Lemminge“ in Richtung Startportal. Erst von hier hat man Einblick in die prächtig geschmückte, mehrere hundert Meter lange „Bahnhofstraße“, mit dicht besetzten Zuschauerreihen. Sicher bin ich nicht der einzige, dessen Optimismus von diesem Rausch aus Farben und Klängen auf einen ersten Gipfel katapultiert wird. Ich setze mich ein paar Meter ab und schieße ein paar Fotos meiner Frau (eines wird bestimmt verwacklungsfrei gelingen). Kurz vor dem Ende der Startgerade überlasse ich sie dann ihrem Wohlfühltempo und konzentriere mich auf mein „Fortkommen“, was sich wenig später als verdammt nötig erweist.

Acht von zehn Deutschen werden nicht einmal wissen wo St. Wendel liegt. Trotzdem renne ich in einem Heer von 3.000 Bewegungssüchtigen. Die Veranstalter rechnen sich für ihre Veranstaltung sogar ein Potenzial von 8.000 Läufern aus, wie ich in einem Zeitungsartikel lesen konnte. Um falschen Eindrücken vorzubeugen: Der St. Wendel Marathon ist bestens organisiert und jeden Euro Startgeld wert. Sollte die Zielgröße „8.000“ allerdings ernst gemeint sein, dann spräche das für herbe Selbstüberschätzung. Die Teilnehmerzahlen stagnieren bundesweit und dieses Schicksal wird auch der St. Wendel Marathon teilen, wenn er sich in ein paar Jahren etabliert hat. Viel wichtiger jedoch, da gefährlich: Ausgangs der Startgerade, insbesondere auf dem Abzweig zur ersten Wende, kann man nicht laufen, lediglich tippeln. Die zwingend notwendige Halbierung der Fahrbahn in Hin- und Rückweg schafft schon jetzt ein mehrere Kilometer langes Nadelöhr. Und es ist sicher nur dem Zusammenwirken von Vernunft und Zufall zu danken, falls es hier zu keinen Stürzen gekommen sein sollte. Hallo nach St. Wendel: „Da gibt es dringenden Handlungsbedarf“ (Zum Beispiel eine konsequente und überwachte Einteilung in Blöcke, die mit zeitlichem Abstand entlassen werden.)!

Ich nehm’s mit Langmut, weiche aus wo nötig, gewinne ein paar Meter, wenn sich wider erwarten eine Lücke auftut, oder eine Passage am Straßenrand Vorbeikommen ermöglicht. Meist starre ich auf schwingende Unterschenkel, versuche Kollisionen zu vermeiden. Wahrscheinlich bleibt mir deshalb die Trostlosigkeit der zwei Kilometer zur ersten Wende und zurück in diesem ersten Durchgang verborgen. Und nach der Wende tasten meine Augen beständig den Gegenstrom ab: ‚Ob ich Ines wohl rechtzeitig sehe?’ Die Kamera ist schussbereit, als ich die lächelnde „Bankräuberin“ im dichten Feld ausmache. Ines läuft mit Mundschutz, um jedes Risiko einer Erkältung in der Einlaufphase zu vermeiden.

Zurück auf der Hauptstraße und ab in südliche Richtung. Ziel ist der zweite, am weitesten entfernte Umkehrpunkt. Ein bisschen Gefälle, hinter einer Bahnunterführung wieder aufwärts, durch zwei Kreisverkehre und schließlich mäßig hinab auf die Bundesstraße 41. Das Wetter gibt sich unentschlossen. Wolkenbäusche lassen mal mehr Licht durch, dann wieder weniger. Regen scheint gleichermaßen wahrscheinlich wie ein heiterer Himmel mit Sonnenschein. In mir drin herrscht auch Indifferenz. Heute drängt sich keine Prognose auf, wie es laufen wird. Seltsam. Mein „nervender Nerv“ in der Hinterbacke hält sich zurück. Wie lange? Ein erster Verpflegungsstand beschert mir den üblichen, spartanischen Becher Wasser. Mit ein wenig Bedauern streift mein Blick den üppig bestückten Rest der Tafel. Runter mit der „Köstlichkeit“ und weiter.

Schon fantastisch, was die hier an Musikgruppen aufgeboten haben! Manchmal betragen die Abstände nur wenige hundert Meter. Kaum ein Abschnitt bleibt ohne Reiz für die Ohren: Entweder anfeuerndes Publikum oder Klänge unterschiedlichster musikalischer Stilrichtungen. Von flinkem Gefiedel einer Irish Folk Gruppe, über Rockinterpretationen aller Schattierungen, bis zur urdeutschen Blasmusik wird jeder Geschmack bedient. Ein nicht unerheblicher Teil der Läufer dankt mit grüßendem Wink, angedeutetem Applaus oder erfreutem Zuruf. Die Stimmung im noch immer dicht gestaffelten Läuferfeld könnte besser nicht sein.

Meine Stimmung? Die hält sich wacker, immerhin habe ich keine Zipperlein zu beklagen und ausreichend Kraft für das einigermaßen flotte Tempo. Das schwankt mit wenig Varianz um den Wert 5:05 min/km. Nach jedem Ablesen regt sich schwacher Widerstand, dass das eigentlich zu heftig ist. In Anbetracht meiner jüngeren „Vergangenheit“ und nahen „Zukunft“ sollte ich verhaltener laufen. Warum verhallt die innere Stimme der Vernunft ungehört?

Mit wildem Hupen nähert sich das Führungsfahrzeug, ihm folgen die Spitzenläufer, zwei Ukrainer. Der eine kämpft in St. Wendel um die Nominierung für die Olympischen Spiele in China. Der andere macht ihm den Hasen auf der ersten Runde und gewinnt so den Halbmarathon mit 1:06:56. Dieser Zusammenhang wird mir allerdings erst später durch Studium der Ergebnislisten klar. - „Unglaublich! 33 Minuten für die ersten 10 Kilometer!“ kommentiert jemand hinter mir den Vorbeiflug der Elite. ‚Wenn das stimmt, isses zu langsam!’ gebe ich in Gedanken meinen Senf dazu. Überschlägig gerechnet kann der Ukrainer mit diesem Tempo die von seinem Verband gesetzte Qualifikationsnorm von 2:14h nicht erfüllen (Letztlich reißt er die Messlatte deutlich mit 2:17:44). Die Lücke zu den Verfolgern beträgt schon in dieser Phase des Wettkampfs mehrere Minuten. Andere Veranstalter begnügen sich mit einem Radler für den ersten Mann und die erste Frau. St. Wendel bietet auch in dieser Hinsicht „Mehrwert“. Numero zwei und drei dürfen sich gleichfalls das Hinterrad eines Mountainbikers begucken … Nachdem auch die führende Amazone vorbei gehuscht ist, verdichtet sich die lose Kette der Wettkämpfer zusehends, kündet vom nahen Umkehrpunkt.

„Wende 100 m“ verheißt die erste Tafel, an der zweiten sind es nur noch fünfzig. Abrupt, wie zum Amoklauf, schere ich etliche Meter mit Zielrichtung Straßenrand aus! Vollkommen unmöglich an diesem Anblick vorbei zu laufen!! Als meine Kamera die „Zaungäste“ anvisiert, schaut mich das einzig geistreiche Geschöpf des Trios völlig entgeistert an. „Zwei hübsche Shelties auf einmal, das sieht man selten!“ liefere ich der Dame dann eine hoffentlich beruhigende Erklärung. Offensichtlich erfreut darüber, dass jemand die zwei Wollknäuel zu ihren Füßen einer Hunderasse („Shetland Sheep Dog“, Kurzform „Sheltie“) zuordnen konnte, verabschiedet sie mich mit wohlwollendem Kopfnicken. Gerne würde ich ihr von unserer 2006 verstorbenen Sheltiehündin erzählen, ausdauernde und treue Gefährtin auf tausenden Trainingskilometern.

Ich wetze um die Wende, über die Matte der Kontrolleinrichtung und setze „Segel gen St. Wendel“. Mit wärmenden Sonnenstrahlen verbreitet die himmlische Wetterregie ein wenig einlullenden Optimismus. Das treibt mir ein paar Schweißperlen auf die Stirn, hält im übrigen mein Stimmungsbarometer auf „Schön“. „Schön“ ist auch, dass nun wieder eine Begegnung mit Ines ansteht. Und die erwarte ich höchst konzentriert, gilt es doch eine Glanzleistung in Sachen „Koordination“ zu vollbringen. Laufen, Atmen, dabei die Dame des Herzens mit dem Objektiv erwischen und sie per dringlicher Kurzbotschaft auf die Begegnung mit den Hunden einstimmen! Eine ziemliche Flut orangefarbener Shirts muss ich passieren lassen, bis ich sie endlich erspähe. Schon von weitem lacht sie mich an und hält den Arm zum Abklatschen ausgestreckt. Die herzliche Geste kann ich leider nicht erwidern, dafür stehe ich den „dreifachen Rittberger“: Laufen, Knipsen, Informieren. Mit einer Kopfdrehung rufe ich Ines zu: „An der Wende! Zwei Shelties!“

Ich mache mir Gedanken über die eigenwillige Drittelung der Bundesstraße. Weit auseinander stehende Pylonen grenzen drei Streifen ab. Auf dem mittleren hat man jeweils die Verpflegungsstände und Musikgruppen postiert. Demnach ist der tabu für Läufer!? Durch Tabubruch spart man in Kurven durchaus ein paar Meter. Selbstredend ist das so wichtig wie der berühmte Sack Reis der in China umfällt. Nur bliebe ein Gefühl von Selbstbetrug und deshalb halte ich mich eisern diesseits der „Demarkationslinie“.

Was steht denn da auf dem Mittelstreifen? Eine nachempfundene Lokomotive auf Rädern, mit der man Besichtungstouren oder Rundfahrten für Kinder durchführt. Einige hundert Meter weiter hat die Lok einen ihrer Wagen „verloren“. Erst nachher, auf der zweiten Runde, beschäftigt mich die Frage, welchen Sinn es machen könnte, diese ungewöhnlichen „Verkehrsmittel“ hier abzustellen. Im Moment gilt meine Aufmerksamkeit einem heftig hantierenden Kerl. Mit der rechten Hand hält er einen „Ghettoblaster“, links ein Megaphon. Als es ihm gelingt die beiden Systeme zu kombinieren, krächzt heisere, ihrer Bässe gänzlich beraubte Rockmusik aus der Tröte. Auf der zweiten Runde preist derselbe Mensch dann seine „Action-Kekse“ durch den Schalltrichter an. Begeisterung und Einfallsreichtum im Tal der Blies!

Um es mit Friedrich Schillers Worten aus seinem „Wilhelm Tell“ zu sagen: „Durch diese hohle Gasse muss er kommen.“ Wie bereits an anderen Stellen hat sich eine Zuschauerkolonie quasi „aus dem Nichts“ gebildet, denn neuerlich ist nirgendwo eine Ansiedlung zu entdecken. Vor einer Musikgruppe formen sie einen engen Kanal, durch den niemand unbeklatscht „entkommen“ kann. Ungezählte Trainingsstunden und einsame Landschaftsmarathons brachten es zu Wege, dass ich lange Wettkämpfe auch bar jeglichen Zuspruchs mit Freude erleben kann. Allerdings „schrumpft“ Publikum die Distanz ein wenig, zumal wenn es derart herzlich und enthusiastisch mitgeht. Lasst euch von mir versichern: Beim St. Wendel Marathon stehen die Kilometertafeln in gefühlt kürzeren Abständen als anderswo …

Die ersten Häuser von St. Wendel schon im Blick, nutzen wir eine Einfädelspur, um die B 41 zu verlassen. Die dabei zu überwindenden Höhenmeter spüre ich massiv in den Beinen. Heftiger, als das nach 14 Kilometern und unter „normalen“ Umständen zu erwarten wäre. Als für Freizeitläufer „normal“ - oder besser „üblich“ - kann man mein Pensum andererseits kaum bezeichnen. Da mir diese im Grunde lächerliche Steigung in die Beine fährt, mache ich mir diese Tatsache wieder einmal bewusst. Jedes Wochenende einen Marathon finishen und an den Tagen dazwischen umfangreich trainieren, kommt einem rasch alltäglich vor. Doch genau solches Empfinden begünstigt das Verletzungsrisiko. Man läuft Gefahr Signale des Körpers zu „überhören“, Umfänge gedankenlos zu steigern und Trainingsmarathons zu schnell zu laufen. - ‚Laufe ich zu schnell?’ Die Kraft sagt „ja“ zum Tempo, die Knochen einstweilen auch. Weiter so, oder langsamer? Es fehlt einfach der Vorsatz, der mentale Block, das „Nicht-schneller-als“. Ich ändere nichts. Warum? Gleichgültigkeit? Entscheidungsschwäche? Unerfahrenheit? Fehlende Intelligenz? Oder alles zusammen, verstärkt durch Publikumsresonanz?

Zwei Kreisverkehre, ein bisschen Gefälle, dann die Bahnunterführung. Dahinter intonieren zwei Barden eines ihrer Lieder. Dank Elektronik verfolgt mich ihre Weise auf einen leichten Anstieg, der den Motor in meiner Brust fühlbar schneller und kräftiger schlagen lässt. - „Alle Richtungen“ steht auf dem gelben Vorwegweiser. ‚Nö, für Marathonis gibt’s nur eine Richtung, zum Finish!’ - Zuschauer in Höhe des Bahnhofs, lebhafter Beifall, 15 Kilometer gelaufen. Die Linse meiner Kamera fokussiert auf eine Gruppe Cheerleader. Und weiter. - Nun mag und kann ich meine Blase nicht länger ignorieren: ‚Da hast du Depp bis Stadtmitte warten müssen!’ Hilft ja nix und so halte ich Ausschau nach Deckung. Eine Buschgruppe zwischen Bahndamm, Bürgersteig und Straße offeriert mir rascher Erleichterung, als erhofft. So ein „biologisch initiierter Halt“ ist immer nervig, aber manchmal versagt eben die „Trinktaktik“. Insbesondere feuchte Kälte stellt einen schwer kalkulierbaren Faktor dar, der mich schon manches Mal in die Büsche schickte. Hab heute wenig an den Verpflegungspunkten getrunken, offenkundig war schon das zu viel. Neu antraben, einreihen, weiter …

Rechts ’rum und mitten rein in ein bisschen Verwirrung. Vor mir ein prall aufgeblasenes Tor. Eine phonstarke Sprecherstimme weist hin, unterhält, belegt bislang anonyme Läufer mit Namen. Das kann doch nicht die Zielgerade sein!? Oder doch? Dann bin ich durch, muss nach links und verstehe, dass man mit diesem Ziel-ähnlichen Aufwand nur ein bisschen zusätzliche „Motivation“ erzeugen wollte. Meter für Meter arbeite ich mich durch unbekannte St. Wendeler Straßen, strebe dem dritten Umkehrpunkt zu. Auf diesen knapp drei Kilometern, wechseln sich sanfte Steigungen und mäßiges Gefälle ständig ab. Unterm Strich geht’s allerdings aufwärts. Ein paar wohltuende Ausblicke in die schöne, hügelige Landschaft des Saarlandes hatte ich mir noch erhofft. Die bleiben durch konstante Wohn- und Gewerbebebauung leider verwehrt. Dafür immer wieder Beifall, Party am Straßenrand, brasilianischer Trommelrhythmus in Gelb-Blau, Läufer im Gegenstrom und eine Reklametafel, die mich schmunzeln lässt. Darauf stellt sich eine Firma namens „Hassdenteufel“ vor. Wie entstand ein solcher Name? Wer gab ihn zum ersten Mal wem, wann, wo und warum?

Der 3:30h-Zugläufer mit gelbem Luftballon und Gruppe im Schlepptau zieht auf der Gegenfahrbahn vorbei. ‚Dann kann es ja nicht mehr weit bis zur Wende sein!’ - Wo ein Lautsprecher quäkt, versammeln sich Zuschauer. Auch hier an der Wende gilt diese Regel. Pausenlos quasseln, vier, fünf Stunden lang. Wie geht das? Fällt denen ständig was Neues ein, oder rasseln sie meistenteils Namen für Namen von der Startliste runter? Bieten sie Unterhaltung oder macht sich Langeweile breit? Der mir verfügbare akustische Ausschnitt lässt kein Urteil zu. Scharf gewendet, über die Matte (hoffentlich erfasst!?) und zurück. Mein Blick fällt auf eine Antenne, die genau auf meinen Bauch gerichtet ist. Dort trifft sie die Startnummer, hinter der sich der Transponder verbirgt. Kein registrierendes Piepen gibt mir Sicherheit. Manchmal passiere ich Zeitmessungen und male mir eine üble Läufer-Katastrophe aus: Die Technik versagt und ich erscheine nicht in der Ergebnisliste, werde disqualifiziert, hab 42,195 Kilometer gepackt und kann es nicht beweisen …

20 Kilometer gelaufen, Tempo unverändert. Ich erwarte Ines, versuche den orange leuchtenden Fleck ihrer Mütze früh zu erspähen, halte die Kamera in Bereitschaft. Der Pacemaker „4:15h“ ist vorbei, nun kann es nicht mehr lange dauern. Da kommt sie! Inzwischen „unbemützt“ schenkt sie mir ein glückliches Lachen. Also genießt sie den Lauf und es geht ihr blendend. Beruhigend!

Zurück im St. Wendeler Zentrum, passiere ich die Marathonweiche in Höhe des Bahnhofs. Nur wenige wählen gleich mir ihre Route geradeaus. Die Masse der Läufer biegt auf die Zielgerade ein und gönnt sich das Finale. Einen Blick riskiere ich schon mal, renne aber ohne Bedauern weiter. Weiter auf die zweite Runde und ein paar Schritte später in den kurzen Abzweig Richtung Wende „Eins“. Was für ein ätzend langweiliger Abschnitt. Nicht mehr abgelenkt vom dicht trabenden Läuferfeld, oder meiner lächelnden Frau auf Gegenkurs, schaue ich mich um. Zuschauer totale Fehlanzeige. Sehnsucht nach dem Umkehrpunkt macht sich breit und zum Glück ist kaum mehr als ein Kilometer bis dorthin abzumessen. D’rum ’rum und zurück. Eine hohe, mit Stacheldraht bewehrte und per Videoüberwachung gesicherte Mauer auf der linken Seite hält mich von einem militärischen Sicherheitsbereich fern. Weiter. Dem folgt ein Gewerbegelände, mit Einfahrt und Zaun, zuletzt neuerlich Stacheldraht und Videokameras, Sicherungen meines früheren Brötchengebers gegen Eindringlinge. Nichts für’s Auge, nichts für den Geist, nur Asphalt für die Füße. Von dort kommt eine ungute Nachricht: Wie befürchtet zwickt es abermals in der rechten Hinterbacke. Ich ertrag’s mit Gleichmut, kann es nicht ändern, nur aushalten, werd’s ohnehin die meiste Zeit nicht bewusst wahrnehmen.

Der Ausflug in die Öde ist vorbei, ich nehme Kurs auf Wende „Zwei“. Ist mir der Spaß auf gerade absolviertem Abstecher abhanden gekommen? Ein wenig missmutig gestaltet sich die Sache jetzt, entlang der Kreisverkehre und auf der Rampe hinunter zur B 41. Noch’n Schluck Wasser und ab. Gerade noch rechtzeitig reiße ich die Kamera hoch und sichere mir ein Bild des wirklich entzückend gestalteten Bananenangebots. Ein extra für diesen Zweck gezimmertes Lattengestell, bespannt mit Plastikfolie, schützt die liebevoll drapierten Bananenstücke vor Regen und anderer Unbill von oben.

Als Einbruch würde ich es nicht gelten lassen, aber es fällt mir im Moment schwerer zu laufen. Ich spüre auch mehr Gegenwind als vorhin, aber daran liegt es nicht. Die Uhr bestätigt die innere Wahrnehmung. Um die sechs, sieben Sekunden muss ich nun mehr auf dem Kilometer investieren. Und jetzt auch noch Regen. Ein paar Tropfen trafen mich bisher schon und so hoffe ich auf einen kurzen Schauer. Wie bekannt erfüllt sich diese Hoffnung nicht. Kamera ab in die Tasche. Es regnet sich ein und meine Stimmung rutscht in den Keller. ‚Sch…wetter! Sch…lauferei!’ Mal kommt mehr, mal weniger runter, bisweilen eine heftige Dusche. Alle paar Sekunden wische ich mir die Brühe aus dem Gesicht. Etwa neun Kilometer geht das so. Wende „Zwei“ ist längst Geschichte. Ständig glaube ich an Besserung, weil sich blaue Lichtblicke zwischen fetten Wolken abzeichnen. Unterdessen sprüht es munter weiter. Ich hab’s satt, ich mag nicht mehr laufen! Und doch werde ich genau das tun. Weiter laufen, zehn verdammte Kilometer noch! Ich triefe vor Nässe, Wasser steht in den Schuhen, entlockt ihnen leises Schmatzen. Leichtes Frösteln setzt ein, derselbe Mist wie vor einer Woche. Mein Tempo hat sich auf dem etwas niedrigeren Niveau stabilisiert. Immerhin etwas. Schließlich ist die himmlische Gießkanne leer. Hoffnung auf einen trockenen Schlussteil keimt als zartes Pflänzchen, schießt mit ersten Sonnenstrahlen sogar heftig ins Kraut. Ich erhole mich zusehends. „Phoenix erhebt sich aus der Asche“ - Sonne macht Läufers Welt wieder heile.

Deutlich weniger Zuschauerresonanz empfängt mich im Zentrum der Stadt, aber sie trägt noch immer. Wie haben die Cheerleader den Regen überstanden? Mit Freudengeheul und Mini-La-Ola bereiten sie mir einen heißen Empfang. Kann man da vorbei rennen und nicht die Arme jubelnd hoch reißen? Noch sechs Kilometer.

Sie ist wieder da, die Kraft. Mühsame zehn Kilometer weit schien sie zu versiegen. Verursacht durch verzögerten Stoffwechsel oder Ausdruck mentaler Schwäche? Angriffslustig blicke ich zur Uhr und kalkuliere meine Endzeit. Könnte für 3:36h reichen. Genauer kann ich es nicht sagen, weil der Zeitmesser auf der ersten Runde versehentlich angehalten wurde. Im Gedränge knallte der Ellbogen eines Vordermannes genau auf die Stopptaste. War’s ein siebter Sinn oder Erfahrung, die mich kurz danach das Zählwerk kontrollieren ließ? Etwas ähnliches passierte mir vor Jahren schon einmal, als ich mich in einem Trassenband verfing und erst Minuten später das Malheur bemerkte.

3:36h sind drin, wenn du das Auf und Ab zu und von Wende „Drei“ unbeschadet überstehst! Die Sonne brennt mir inzwischen recht warm auf den Rücken. Unglaublich leicht fällt das Laufen jetzt! Sägte da nicht der übliche Schmerz, Marke „Marathonendphase“, an allen Fasern der unteren „Extremitäten“, wär’ ich nicht mal sicher schon 37 Kilometer auf dem Tageszähler zu haben. Es tut weh, aber es macht Spaß. Ich fühle mich stark, die Sonne scheint, Menschen feuern mich an, Läufer um Läufer bleibt hinter mir zurück. Nicht mal am Anfang „rauschten“ die Kilometertafeln so schnell vorbei …

Wende „Drei“ zum letzten Mal. ‚Was labert der da? Und vor allem für wen?’ Ein paar Sätze pseudophilosophisches Geschwätz verursachen mir kurzfristig mehr Pein als die eigenen Füße. Als Läufer hab ich keine Wahl, muss ihm eine Minute lang zuhören. Zuschauer, die vorhin hier die Stellung hielten, hat er anscheinend alle vergrault. Mit „Aber lassen wir das!“ ruft er sich selbst zur Ordnung, bevor er Namen und Herkunft der „Startnummer 266“ verkündet: „Das ist Udo Pitsch aus Königsbrunn.“

Noch drei Kilometer: Ich bestätige mir die mögliche 3:36h und werde immer schneller. Die Sonne brennt, mein Ehrgeiz auch. Ich fühle so verflucht viel Kraft in mir. Kennt ihr das Gefühl, wenn andere sicht- und hörbar auf dem Zahnfleisch schlappen und man zieht in scheinbarem D-Zug-Tempo vorbei? Jedes dieser Manöver bläst mehr Treibstoff in meinen Nachbrenner. Das nahe Ziel pusht mich vorwärts, ebenso die Lust am Rennen, am finalen Leiden. Bin gut drauf, kann laufen, laufen, laufen - locker, unbeschwert, leichtfüßig. Keine Sorge um das „große Ganze“ bremst mich mehr und die Vernunft hat kapituliert. Udo lebt seinen Laufrausch aus. Herrlich, wenn man nach 40 Kilometern noch so zusetzen kann. Artig und euphorisch bedanke ich mich für Gunstbeweise vom Straßenrand. Am nächsten Tag sehe ich meinen Fehler ein. Aber wegen solcher Kilometer, für diese Minuten, in denen absolut alles stimmt, bin ich Läufer!

Das blaue Extra-Portal mit seinem Sprecher erwartet mich. Auch er nennt Namen und Herkunft. Dann hebt sich seine Stimme in triumphale Tonlage: „Noch ein Kilometer für dich Udo!“ Als wollte ich meine gute Verfassung signalisieren, stoße ich grüßend den rechten Arm in den Himmel und … werde noch schneller. Absolut nichts schmerzt jetzt mehr! Kopf und Körper sind bereit für das Finish! Vor dem Abbiegen auf die Zielgerade noch schnell ein Foto von den Cheerleadern, die als akrobatische Einlage gerade eine Pyramide bauen. Und dann genieße ich die letzten dreihundert Meter. Schmuck an Fassaden, rauschender Applaus, anerkennende Zurufe und Glückshormone im Blut treiben mich in einen Endspurt. Ein Läufer fällt ihm zum Opfer, dann noch einer. Und den dort vorn hole ich mir auch noch! Als ich fünfzig Meter vor dem Ziel neben ihm auftauche, weiß er das Gejohle des Publikums zu deuten und widersetzt sich im Sprint. Und ich? Mir knallt jetzt auch noch die allerletzte Sicherung durch und ich beweise allem Volk, dass sich meine läuferischen Qualitäten vor zwanzig, dreißig Jahren eher auf der 100 m-Distanz zeigten …

 

Ines’ Halbmarathon

Ines fand, was sie suchte. Einen unterhaltsamen Lauf, der dem Faktor Spaß jederzeit Vorfahrt einräumt. Begeistert berichtet auch sie vom tollen Publikum und diversen Erlebnissen. Das Lachen bei unseren drei Begegnungen begleitete sie auf der ganzen Strecke. Tief zufrieden verlässt auch sie St. Wendel und reckt den Daumen steil nach oben!

Sie lief wie oft unter ihren Möglichkeiten, weil sie diese schlecht einschätzen kann. Außerdem macht es ihr so einfach mehr Freude. Schließlich reichte die Energie auf den letzten Kilometern noch zu andauernden Überholmanövern und für ein kleines „Duell“ mit einem Unbekannten, den sie erst auf der Zielgeraden ziehen ließ.


     Zur Kurzkritik


 

    Ergebnis Ines
    Nettozeit: 2:10:36
    Platzierung: 369. von 572
    Platz W 35: 65. von 103
    Ergebnis Udo
    Netto: 3:34:42
    Platzierung: 113. von 350
    Platz M 55: 3. von 25

 

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