„Der Härteste im Norden“  -  Tollensesee Marathon Neubrandenburg

„Super! Weiter so!“ treibt mich der überholende Staffelläufer an und mein Körper nimmt’s zum Anlass noch mehr Adrenalin freizusetzen. Noch vier Kilometer bis zum Ziel und ich fühle mich so … so … Oh mein Gott! Ich fühle mich einfach fantastisch! Mich beherrscht „entsetzliche“ Lust am schnellen Laufen, am Kämpfen. In mir brennt der Wunsch zum Ende dieses Marathons alle Reserven freizusetzen. Mein Bewegungsapparat arbeitet am Anschlag, die Strapaze schmerzt, zugleich macht sie mich endlos zufrieden. Ich quäle mich, dafür ist alles Zwicken im Bereich der Beine verstummt. Als hätte ich Knie, Sehnen, Muskeln, die ganze Biomasse mit meiner Begeisterung angesteckt. Alles hat heute gepasst, wahrhaft alles. Und es passt noch! Wunderschöner Wald wächst um mich her, blaue Reflexe vom See leuchten zwischen den Bäumen auf der rechten Seite. Fotografieren mag ich nun nicht mehr, hab mir sieben Kilometer vor Ende ein Zeitziel gesetzt und dafür schinde ich mich jetzt. Brauche alle Kraft zum Laufen. Einen Konkurrenten nach dem anderen lasse ich hinter mir, überhole bisweilen sogar weniger gut trainierte Staffelläufer. Jedes dieser Manöver belohnt mich mit tiefer Befriedigung. Doping pur und sie können es nicht mal auf die schwarze Liste setzen! Noch einer und noch einer. Es ist warm geworden, die Zunge klebt am Gaumen. Will nicht mehr trinken, keine Sekunde mehr verschenken. Will laufen, laufen, kämpfen! Im Kopf tickt der Kilometerzähler: Es sind die Marathonkilometer 37, 38 … Aber da gibt es noch ein zweites Zählwerk mit den Wochenkilometern. Die härteste aller Vorbereitungswochen liegt hinter mir und in dieser Anzeige erscheinen die Zahlen 207, 208 … Ich berausche mich an der Gewissheit nach über zweihundert abgespulten Trainingskilometern und in der Endphase dieses nicht eben leichten Marathons noch deutlich unter 5 min/km laufen zu können. Alles passt! Einfach alles! Es ist unvernünftig, mich im Finale noch einmal so zu knechten. Ein Teil der Wahrheit. Aber ich brauche die davon ausgehende Bestätigung; muss fühlen, dass es geht, dass ich das nach DIESEM Vorprogramm noch bringe, dass es mein Körper aushält. Ich MUSS das spüren. Das ist die ganze Wahrheit. In drei Wochen, in Berlin, will ich 24 Stunden laufen. Dafür geißelte ich mich im letzten halben Jahr wie noch nie. Und mitten in diesem Wald, kurz vor dem Ziel in Neubrandenburg, ist mir, als bekäme ich eine Antwort. Mein Körper sagt „Ja!“. Mach es, fahr hin, du bist gut vorbereitet!

    Trainingswoche vorm Tollenseseelauf
    Tag Methode Km
    Sonntag Marathon Fürth 42
    Montag Dauerlauf 70-75% 32
    Dienstag Dauerlauf 75-80% 20
    Mittwoch Dauerlauf 70-75% 44
    Donnerstag Dauerlauf 75-80% 20
    Freitag Dauerlauf 70-75% 12
    Samstag Tollenseseelauf 42
    Gesamt-Km Sonntag - Samstag 212

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Freitagabend, 18 Uhr. Die Dame vom „SV Turbine Neubrandenburg“, dem Ausrichter des 18. Tollenseseelaufes, glaubt den Fremdling aus dem Süden warnen zu müssen: „Manche meinen Mecklenburg-Vorpommern wäre eben wie ein Brett. Unsere Strecke hat heftiges Profil! Manche rennen im ersten, flachen Teil einfach los, ohne das zu bedenken!“ Ich versichere ihr die Gegend von einem früheren Besuch ein wenig zu kennen und zudem ausreichend Kraft für jede Art von Kurs mitzubringen. Tatsächlich freue ich mich auf die hügelige Umrundung des Tollensesees, hoffe auf eine landschaftlich schöne, abwechslungsreiche Route. Allerdings keimen insgeheim Zweifel, ob ich tatsächlich ausreichend Kraft besitze, um das aus vollen Zügen zu genießen. Dieser Lauf wird die bisher härtesten zwei Trainingswochen abschließen.

Freitagabend, 19:30 Uhr. Ein bisschen die Beine vertreten nach fast achthundert Kilometern hinterm Steuer, mehr will ich eigentlich nicht. Fünf, sechs Kilometer langsam traben. Die Pension in „Wulkenzin“ bleibt zurück und nach ein paar Schritten bin ich allein auf einsamer Chaussee. Schwüle Vorgewitterstimmung umgibt mich, mein Lieblingslaufwetter. Im Nordwesten, gar nicht weit entfernt, droht eine fette Gewitterwolke. Ansonsten gleicht der Himmel einem dieser modernen, gegenstandslosen Gemälde, die die Leinwand mit großzügigen Farbflecken bedecken, teils scharf abgegrenzt, teils fließend ineinander übergehend. Klares Himmelblau im Hintergrund, davor weißes Bauschen, gelbgoldenes Leuchten, aber auch diesiges Flirren und dunkles Graublau wie ein Versprechen von Blitz und Donner. Ich bin viel gelaufen in letzter Zeit, sehr viel; hatte seit fast zwei Wochen keinen Ruhetag mehr, bin sicher müde. „Quelle surprise!“ Die unerwartet federleichten Beine entfachen sofort immense Lauflust und prompt erweitere ich mein Laufziel: ‚Warum nur sechs Kilometer? Acht oder zehn können kaum schaden, wenn ich auf Tempo verzichte …’ Wenig später schickt mich ein Wegweiser für Wanderer in einen grünen Tunnel aus Büschen und niedrigen Bäumen. Auf beinahe sumpfigem Grassteg laufe ich zwischen zwei Tümpeln hindurch. Ein Frosch rettet sich mit mächtigem Sprung vor der heran stürmenden Gefahr. Dann bin ich im Wald, zunächst auf einem Lehrpfad. Der Duft meiner Lieblingsbäume schlägt mir entgegen - Eichen! Die gibt es bei uns zu Hause nicht. Was für ein Geschenk. - ‚He! Mensch! Zwölf Kilometer nehmen sich in der Wochenbilanz noch besser aus! Und ich bin supergut drauf! Den Marathon morgen schaffe ich auch so …’ - Es beginnt zu regnen. Gut so! Das verstärkt die Gerüche des Waldes. Irgendwann stehen sechs Kilometer in der GPS-Anzeige und ich kehre um. Der Regen hat wieder aufgehört. Ich achte nicht auf den Lauf, konzentriere mich auf meine Sinne; sehe dichtes Grün, höre Vogelstimmen, atme Düfte, die die verdunstende Feuchtigkeit zu mir her treibt … Mehrmals hinterm Steuer schalt ich mich einen Narren so weit zu fahren. Im Grunde nur für diesen Marathon, wenngleich ich die Gelegenheit auch zu einem Besuch bei Freunden nutze. Doch bereits nach diesem Auftakterlebnis haben solche Zweifel keine Chance mehr.

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Samstagmorgen 9:55 Uhr. Quer durchs Starterfeld lächelt frau mir zu, sagt: „Hallo!“. Ihr Konterfei kommt mir bekannt vor, also „hauche“ ich ein für mich typisches, „frühmorgendlich“ leises „Hallo!“ zurück. Mehr entwickelt sich nicht. Mir kommt nicht mal die Idee, dass wir uns zuvor im Läuferforum verbal „begegnet“ sein könnten. Drei Stunden nach dem Aufstehen funktioniere ich halt nur eingeschränkt. Das gilt im Übrigen auch für die „Sektion Laufen“ meines Körpers, als im Stadtpark von Neubrandenburg der Stadtschuss bricht: Schwere, ungelenke Schritte, Anzeichen von Leistungsverweigerung aller Systeme. Nix Besonderes! Inzwischen kenne ich das, rätsele nicht mehr unmittelbar in Richtung „Zu hart trainiert?“ oder „Nicht mein Tag?“ Die erste Viertelstunde brauche ich schlicht zum „Booten des Systems“, zum „Hochfahren von Hard- und Software“, zum An- und Einlaufen. Erst recht zu einer Tageszeit, die mich ansonsten nie im Laufdress sieht. Los geht’s: Unter Bäumen vorm Seeufer links weg, Richtung Süden, auf kleiner Bogenbrücke über einen träge, trüb und dunkelgrün mündenden Bach, parallel zum Seeufer, mal nur fünf, bald wieder dreißig oder noch mehr Meter davon entfernt. Ich achte kaum auf Körperliches. Widerstände, Zwicken hier, Zwacken dort - na wenn schon. Wer Woche für Woche deutlich über hundert Kilometer verbucht und Marathons im Wochentakt absolviert, dem stellt sich einfach nicht mehr die Frage: ‚Schaffe ich das heute?’ Oder: ‚Wird mein Körper mitspielen?’

Der Weg touchiert die Anlage eines Restaurants in dem man mir einst „Fürchterliches“ servierte. Aus uneinsichtigem Grund meinte der Koch ein deutsches Standardgericht mit Paprikastückchen bestreuen zu müssen. Wahrscheinlich, weil Paprika ein urdeutsches Gemüse ist, das einfach überall dran gehört. Mir verursacht schon der Geruch der gelben, grünen oder roten Schoten Würgreiz und so ging der Teller unangetastet zurück in die Küche … Immer wieder wandert der Blick zwischen Bäumen über den Tollensesee. Am Ufer wechseln Strände, Stege und naturbelassene, von Schilf gesäumte Abschnitte. Was macht das Wetter? Ein von Pol zu Pol blauer Himmel ließ mich in der Pension alle vom Trägershirt unbedeckten Hautpartien mit Sonnenschutz einschmieren. Doch schon auf der kurzen Fahrt zur Stadthalle schob sich dick quellende Bewölkung von Norden, aus Richtung Ostsee, heran. Und der Meck-Pomm-Wetterfrosch im Radio erzählte was von einem Gewitter über Rügen. Am Start hatten wir 18°C und Sonne scheint gleichermaßen wahrscheinlich wie Regen.

Ein kleiner, gedrungener Läufer spricht mit mir. Er kann nur mich meinen, auch wenn er den Blick nicht hebt. Leider kriegt er auch die Zähne nicht auseinander und so verstehe ich viel „Bahnhof“ und einmal, dass er sein Anfangstempo taxiert. Ich reagiere wie immer im Ausland mit Zustimmung, wenn Ansprachen unverständlich bleiben. Statt des gewohnten, südländisch optimistischen „Si, si!“ verwende ich eine Formel, die seine mutmaßliche Einlassung zur Laufgeschwindigkeit bestätigt. Zum Glück trennt uns eine schöne Fotogelegenheit und enthebt mich der Peinlichkeit etwaiger Missverständnisse …

Am Ende eines Parkplatzes öffnet sich ein enger, dunkler Schlund, verschluckt mich. Bin von jungem, ungemein dichtem Laubwald umfangen, der nur wenig Licht durchlässt. Dieser „Dschungel“ übergibt uns recht bald an ältere, lichtere Bestände, die auch wieder Durchblicke in Richtung See gestatten. Jeglicher Widerstand ist aus meinen Beinen gewichen, hat dem herrlich unbeschwerten Laufgefühl von gestern Abend Platz gemacht. Sonst achte ich nie auf meine Atmung. Wozu auch? Weshalb in Prozesse pfuschen, die der Organismus bestens automatisiert? Heute schon. Tief einatmen! Riechen! Noch kühle, nach Eichen und anderen Bäumen duftende Luft genießen! Unweit des Seeufers steigt das Gelände im Wald steil an, trägt wunderschöne, alte Forstbestände. Herrlich hier zu laufen! Der Waldweg ist hart, mit ganz leicht sandiger Auflage, schont also Kräfte, Sehnen und Gelenke gleichermaßen. Ich komme flott voran, orientiere mich derzeit am Rücken eines mit Konstanz vor mir her trabenden Konkurrenten. Wir brauchen etwa fünf Minuten pro Kilometer. Kurz stehen bleiben, durch eine Lücke im Waldrand den See anvisieren, fotografieren und weiter. Wie spielend leicht mir das vom Fuß geht, wo ich große Müdigkeit nach harter Trainingswoche befürchtete. Gefühl und Gedanke erfüllen mich mit Zuversicht im Hinblick auf das „große Ziel“ und für heute sowieso.

Der Wald endet am Ortsrand eines Weilers dessen Namen man wörtlich nehmen kann: „Klein Nemerow“. Aber für Zuschauerunterstützung reicht es allemal. Erst ein Grüppchen unterm Transparent an der Dorfstraße, schließlich eine große Kolonie am ersten Wechsel der Staffeln. Hier höre ich auch meinen Namen aus dem Lautsprecher. Von der Vereinsbezeichnung zeigt sich der Sprecher besonders beeindruckt, was sich auch so gehört, wenn einer aus tiefstem Süden anreist, um eine vergleichsweise kleine „Marathonage“ wie den Tollenselauf zu „bereichern“. Gleich hinter der Ortschaft, noch im Anstieg zu einem Buckel, bekommt meine Kamera Arbeit. Beherzt springe ich auf einen Findling am Wegrand und warte bis ein bunt bedresstes „Model“ vor malerischem Hintergrund aus Himmel, See und Bäumen vorbei rennt. Kurz darauf überhole ich ihn wieder und frage mich schmunzelnd, was der wohl von so einem unsteten „Springinsfeld“ halten mag. Vor allem, weil sich nun in schneller Folge mehrere 1a-Fototermine aneinander reihen, die mich zum Halten „zwingen“. Zunächst hat es mir die spiegelnde Oberfläche eines im Buchenhain versteckten Tümpels angetan. Danach wetze ich auf eine herrlich in einer Mulde platzierte Pferdekoppel zu, die meinen Marathonlauf für gut und gerne eine Minute unterbricht. Nicht weniger als drei bildhübsche Fohlen grasen dort neben Stuten. Bin hingerissen von diesem Anblick, denn ich habe gelernt solche Szenen mit Ines’ Augen zu schauen und für sie wäre der Lauf hier zu Ende … ;-)

Mehrfaches Entzücken für Ines im „Kasten“, wende ich mich wieder dem Asphaltband zu, komme allerdings nicht weit, eine weitere Koppel hindert mich am Weiterlaufen. Eins von erneut mehreren Fohlen wälzt sich in einer Staubkuhle. ‚Wenn das so weiter geht, werde ich heute die Vier-Stunden-Grenze nicht schaffen!’ - Einen Golfplatz gibt’s hier auch, was ich aber nur am Rande registriere. Das gilt auch für die vielen Hügel, die mich seit „Klein Nemerow“, teilweise auch schon davor, in stetes Auf und Ab zwingen. Dass heute richtig „geschuftet“ werden muss, macht mir der nächste Abschnitt bewusst. Eine Nebenstraße führt sanft, aber mehrere hundert Meter weit und in praller Sonne bergauf. Wo sie auf die Bundesstraße 96 trifft, schwenken wir nach Süden und nutzen den Radweg. Fünfzehn Minuten orientiert sich der Kurs an der stark befahrenen Verkehrsader, überwindet dabei einen kapitalen Buckel nach dem anderen. Vielfach ist die Straße hinter übermannshohen Büschen gar nicht zu sehen, was jedoch nur jene bedauern, die sich vom Hupen diverser Autofahrer angefeuert fühlen. Zwei Radler überholen in sanfter Talfahrt, werden vom bisher steilsten Wegstück gestoppt, eine Frau steigt sogar ab. Der männliche „Pedalero“ duelliert sich mit der Schräge, erlahmt zunehmend in seinen Bewegungen, beschreibt bald zittrige Schlangenlinien, steht fast auf der Stelle, muss schließlich den Sieg des an ihm vorbei ziehenden Läufers hinnehmen …

Am Ortseingang von „Usadel“ endet das laute B 96-Intermezzo, der Radweg senkt sich in Richtung Tollensesee. Was ich zur Stunde nicht ahne: Der dort tatsächlich aus der Ferne herüber blinkt heißt nicht „Tollense“, vielmehr „die Lieps“, ein See unmittelbar südlich seines größeren Nachbarn gelegen und mit diesem über Kanäle verbunden. Der Radweg durchmisst eine grüne Senke. Zum ersten Mal außerhalb von Parks sehe ich sattgrünes Gras. Bisherige Wiesen präsentierten sich ausnahmslos mit halb verdörrten Halmen. Das erinnert an die lang anhaltende Trockenheit im Norden, während ich in Süddeutschland Mühe hatte, meine Trainingsläufe in Pausen zwischen ergiebige Regenfluten zu legen. Die Route reizt nun ständig mit neuen Attraktionen. Eine Reihe niedriger, verkrüppelt wirkender Kopfweiden grenzt eine Wiese ab (Ich wusste gar nicht, dass man derart „kastrierte“ Weiden so bezeichnet, und wieso man sie auf diese Weise verstümmelt - dem Internet sei Dank!). Links die auffälligen Baumgestalten, rechts, am Feldrain, rot-weiß-blaues Blumengesprenkel von Mohn, Kamille und Kornblumen. Wohin schauen, wo den Blick verweilen lassen? Fotografen kennen eine Lösung …

Kilometer 18: Unweit des Lieps-Ufers laufend finden die Augen keine Ruhe mehr. Lautlos bilden sich Superlative in meinem Kopf, die den Anblick jedoch nur unzureichend abbilden können. Ein gelb-schwarz gezeichnetes Vogelpärchen spielt im Tiefflug Fangen. Ich kann mich nicht erinnern je solche Piepmätze gesehen zu haben. Hinter mir vernehme ich das leise Tapp-Tapp eines vor kurzem überholten Kontrahenten. Abrupt bleibe ich stehen, um ihn vor der „Lieps“ abzubilden. „Das muss auch mal sein!“ meint er gut gelaunt. „Das muss sogar öfter sein!“ entgegne ich und ergänze: „Ich fahre keine 800 Kilometer, um dann blind durch diese herrliche Gegend zu rennen!“ Meine Herkunft liest er vom Trikot, seine erfahre ich im sich nun entspinnenden Gespräch. Natürlich „muss“ ich erklären, was mich in den hohen Norden führt und selbstverständlich lasse ich diverse „Ruhmestaten“ des Laufjahres 2008 nicht unerwähnt. ;-) Der sympathische Stralsunder hat den Tollensesee Marathon schon häufiger in seinem Laufbuch stehen, den Abzweig in Richtung „Schloss Hohenzieritz“ kennt er allerdings noch nicht.

Auch dieser neue, zwei Kilometer lange Wendeabschnitt begeistert mich mit Ansichten, Rundsichten, Weitsichten, Einsichten: Ein dunkler, kühler, sattgrüner Dom entlässt uns auf eine Allee. Vorsicht! Schnellere Läufer auf Gegenkurs! Hinter einem Waldsaum reicht der Blick weit voraus, hangelt sich entlang des Sträßchens und einer Reihe kleiner, bunter, bergwärts trabender Punkte, verfängt sich schließlich im von Wald gekrönten Haupt des bevorstehenden Hügels. Der fordert mächtig, prüft Läufers Stärke. Geradezu spielerisch bin ich ihm heute gewachsen, habe sogar richtig Spaß an diesem Ausdauertest und reduziere das Tempo auf der langen Passage nur wenig. Lange vor Erreichen der Kuppe weist ein Pfeil nach links und in einen Park. Das Motiv eines still zwischen Parkbäumen schimmernden Weihers zwingt mich unvermittelt zum Halten. Dann weiter, auf Spazierpfaden hügelan, zuletzt seitlich auf das Hauptgebäude des „Schlosses Hohenzieritz“ zu.

Hier, bei der Hälfte des Kurses, starteten die Halbmarathonis und warten die Läufer des zweiten Wechsels. Wieder Lautsprecher, wieder Name und Herkunft verlesen und wieder so eine „Einrichtung“, der ich beim ersten Wechsel keine Bedeutung beimaß. Als eine Läuferin vor mir mit dem Chip an ihrem Handgelenk die „Einrichtung“ zu einem vernehmlichen „Piepser“ veranlasst, fällt der Groschen. Ich nehme meinen „Piepser“ in Besitz und einige Schritte weit beherrscht mich nun die Sorge, wegen fehlender Registrierung in „Klein Nemerow“ eventuell Schwierigkeiten zu bekommen. Durch meine Gedanken geistert das schauerliche Wort „Disqualifikation“ … Andererseits wurde nirgendwo auf die Messstellen hingewiesen und meinen Fehler werden auch andere begehen. Außerdem besitze ich den „Pieps“ der am weitesten entfernten Messstelle und einen kürzeren Weg nach „Hohenzieritz“ gibt es nicht.

Auf dem Rückweg hole ich mir einen Teil der im Anstieg verlorenen Zeit zurück. Aber nicht konsequent und mit vollem Einsatz. Schuld ist wieder die Landschaft. Für weitere Ablenkung sorgt eine Läuferin mit unerwarteter Frage: „Wo kommst du denn her? Du warst doch vor mir?“ Ich zitiere die zahlreichen Fototermine als Erklärung. Und dann verwirrt sie mich: „Du läufst doch fast jedes Wochenende!?“ Während ich bestätige und ein paar erläuternde Sätze hinzufüge, brüte ich über dem Rätsel woher sie mich kennen mag. Bevor ich mich zu einer entsprechenden Frage durchringen kann (Bin nun mal von Natur aus schüchtern …), bleibt sie zurück und ward nicht mehr gesehen. Chance verpasst.

Seit Halbmarathondistanz stecken Tafeln am Wegrand die mit einem „noch …“ beginnen. „Noch 17 km“ steht auf dieser, kurz nach Vollendung des Wendeabschnitts. Selbst mir, dem es heute wahrlich nicht an Kraft und Lauffreude mangelt, entringt sich dabei ein sachte entmutigender Gedanke wie „Puh! Immer noch 17 km!“ Wenn überhaupt, dann sollte man auf den letzten fünf Kilometern solchen Countdown beginnen. Ich mag mir nicht vorstellen, was diese Schilder im Kopf eines bereits ziemlich entkräfteten Läufers „anrichten“ …

Mittlerweile heizt die Sonne kräftig ein und nun folgen Kilometer ohne Schatten, im ständigen Auf und Ab einer von Landwirtschaft geprägten Gegend. Aber dieser Abschnitt gehört auch zu den Schönsten der ganzen Strecke. Raps- und Getreidefelder breiten sich wie Riesenteppiche über Mulden und Hügelkuppen aus. Ungezählte Kornblumen verleihen ihnen einen zartblauen Schimmer. Dann wieder Wiesen, Waldstücke, Büsche, darüber Himmelblau mit Wattebäuschen. Meine Euphorie erreicht einen weiteren Höhepunkt. Selbstverständlich bilden positive Echos von innen dafür die Grundlage. Wer könnte die Natur in vollen Zügen genießen, wenn ihm Anstiege knochenhart die Grenzen aufzeigen?

Die Mischung aus anspruchsvollem Profil, Wärme und bereits 28, 29, 30, … gelaufenen Kilometern zwingt viele zu deutlich reduziertem Tempo. Nacheinander sammle ich sie ein, spüre wie von jedem zurück bleibenden Mitläufer ein Funke Energie auf mich überspringt. Oh, ich genieße es in vollen Zügen, nur richtig fassen kann ich es nicht. Ich sollte doch heute müde sein, ausgelaugt infolge harten Trainings, mir sozusagen den „Rest“ geben. Selbstverständlich strengen auch mich die Schritte an und natürlich spüre ich die schon zurück gelegte Distanz. Vor allem bergab in den Knien. Aber Erschöpfung und wirkliche Qual sind noch weit entfernt. Ich genieße Bilder und fange sie mit meiner Kamera ein, bleibe dafür auch immer wieder stehen. Nicht mal das „Wiederanlaufen“ gestaltet sich mühselig. Heute fühle ich mich stark. Heute bin ich stark!

Am Fuß eines herben Anstieges steht eine Ortstafel: „Alt Rehse“. Dankbar nutze ich das rote, neue Pflaster des Fuß- und Radweges. Als Straße steht hier ein Stück „gutes“, altes DDR-Pflaster zur Verfügung. Darauf zu laufen ist immer eine Tortur, das dreht und knickt Gelenke in alle Himmelsrichtungen. Ein schmuckes Örtchen nimmt uns auf. Liebevoll restaurierte, teilweise mit Reet gedeckte Häuser, vermitteln den Eindruck einer Art Freilichtmuseum. Ein Stück voraus wird’s laut. Zunächst schlagen uns Trommeln den Laufrhythmus, dann folgt der letzte Wechsel mit etlichen Zuschauern. Ich hole mir meinen „Piepser“ bei der Elektronik ab und wende mich einem Verpflegungspunkt zu. Warum greife ich erstmals nach Cola, nach Kohlenhydraten, und nicht wie gehabt nach Wasser? Weiß mein Unterbewusstsein schon, was ich noch gar nicht wissen kann, was sich erst nachher im Wald entscheidet? Zwei Becher müssen rein, denn in der letzten Stunde wurde mein Mund zunehmend trockener und zum ersten Mal in meiner Wettkampf-„karriere“ nehme ich auf der Strecke ein Durstgefühl wahr.

Hinter „Alt Rehse“ profitieren die müden Krieger von etwa anderthalb Kilometern auf denen es fast nur abwärts geht. Sofern sie noch profitieren können. Ich kann und beschleunige meine Schritte. Kurz hinter dem Ort verschwindet der Weg auch wieder im Wald. Angenehme Kühle bremst die Sturzbäche von Schweiß der letzten Stunde. Laufen in der Wärme, Laufen im Wald, Laufen ohne eine Grenze zu spüren, Laufen, Laufen, Laufen - Laufen ist pure Lust! Noch neun Kilometer: Der See ist wieder nah, manchmal tangiert der Weg das Ufer, zuweilen öffnen sich Schneisen, geben den Blick über Schilf und die graublaue Wasserfläche zum anderen Ufer frei. Noch acht Kilometer: Ein paar Überholmanöver bringen zusätzliche Kurzweil. Sogar der eine oder andere Staffelläufer kann mein Tempo nicht mehr mitgehen. Staffelläufer sind leicht auszumachen, denn nur Marathonis tragen eine zweite Startnummer auf dem Rücken.

Noch sieben Kilometer: Zweierlei will der Zufall. Dass ich erstens auf die Anzeige meiner Uhr blicke und zweitens dort 3:14:48 ablese. Rasch und einfach zu kalkulieren: Nur wenn ich die verbleibende Strecke mit einer Pace von 5 min/km bewältige, werde ich unter 3:50h bleiben. Das war bisher kein Ziel. Im Grunde hatte ich überhaupt keins, wenn man den grundsätzlichen Wunsch, stets unter vier Stunden zu bleiben, mal außer Acht lässt. Aber jetzt will ich ein Ziel! Ich habe Lust zu kämpfen, ich will wissen was mein Körper, der mich in der zurückliegenden Woche über mehr als 200 Kilometern trug, auf diesen finalen Kilometern noch leisten kann. Also entscheide ich mich ein bisschen zu leiden und erhöhe mein Tempo …

Noch sechs Kilometer: Ziemlich exakt habe ich den 5er-Schnitt getroffen. Es ist hart, aber noch nicht grenzwertig. Ich beschließe keine Fotos mehr zu machen, Stehenbleiben ist nun ohnehin ausgeschlossen. „Läuferrücken voraus“ meldet die Peilung, Zielgerät aufschalten, dran bleiben, langsam auflaufen, ziehen, ziehen, vorbei … ‚Nicht langsamer werden! Tempo halten!’ Und immer wieder der freudige Impuls: ‚Es geht! Wahnsinn, nach so viel Training geht das noch!’ - Noch fünf Kilometer: Bin abermals schneller geworden. Ein paar Sekunden nur. ‚Nicht verkehrt! Es soll ja noch ein Anstieg kommen!’ Jedenfalls entnahm ich das vorhin der Bemerkung eines Läufers. Erneut wird ein Rücken größer. Staffelläufer. Der wehrt sich, vergrößert den Abstand wieder ein paar Meter. Zuletzt verliert er doch, bleibt zurück. Rosa Tafel, weiße Schrift: „noch 4 km“ (doch noch ’n Foto gemacht). Etwa 4:40 min/km geben die Beine ohne zu klagen her und da gibt’s noch Reserven. Unglaublich! Irgendwann isser da, der angedrohte Anstieg. Mehrere Etappen, nur einmal kurz etwas steiler, nicht lang, manche zwingt der Buckel zu gehen. Auch die lasse ich hinter mir, fühle den Schmerz auf dem Weg nach oben. Wirklich nicht hoch und ehrlich nicht lang, aber es tut weh. Wer hat gesagt Lust und Schmerz liegen dicht beisammen? Egal. Es stimmt. Ich genieße es mich zu schinden, mich über die letzte Erhebung zu peitschen. ‚Nicht langsamer werden! Tempo halten! Lauf!’ Und wieder runter; irgendwann raus aus dem Wald. Bin am Nordende des Sees. Noch zwei Kilometer: Halte Tempo, greife mit den Augen nach dem Trikot eines Konkurrenten vor mir, „ziehe mich heran“, überhole … Parkanlagen um mich her. Liegewiesen, hohe Bäume, bekomme wenig davon mit, fixiere das Asphaltband vor mir, treibe mich an … Noch ein Kilometer: Keine Anweisung ist nötig, nicht mal das bewusste Denken einer Absicht, vollautomatisiert beschleunige ich ein weiteres Mal meine Schritte. Ertrinke fast in Kampfeslust. Und noch immer sind da Reserven, das ist noch immer nicht das letzte Wort. Weit kann’s nicht mehr sein, noch einmal rechts abbiegen. Schon seit Minuten dringt Lärm aus den Lautsprechern zu mir herüber. 3:37:30 sagt die Uhr und nur noch ein paar hundert Meter … Das Ziel! Ich werde begrüßt, laufe über die Ziellinie, höre den finalen Piepser und werde gelobt - weil ich so weit gefahren bin. „Das hat sich doch gelohnt!“ meint der Sprecher und ich finde nicht den winzigsten Grund ihm zu widersprechen …

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Der Tollenseseelauf - gemäß Finisher Shirt „Der Härteste im Norden“ - hat mich begeistert. Eine atemberaubend schöne Strecke und die reibungslose, engagierte, mit Liebe zum Detail durchgeführte Organisation zeichnen hierfür gleichermaßen verantwortlich. Dieser Marathon steht auf der Liste jener Läufe, die ich gerne mehrmals absolvieren würde und wirklich jedem nahe lege, der gerne in Landschaften unterwegs ist.


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