Marathon-Doppelpack, erster Teil:

Lohnt Lohne?  -  Lohner Marathon 2008

Freitagabend, im Hotel, irgendwo nahe Lohne im Oldenburger Münsterland.

Das Zimmer steht auf dem Kopf! Aber nur wenn ich die Augen öffne. Dehnen find’ ich ätzend, also lass ich sie lieber zu. „Ziehe“ noch ’mal mein ganzes Dehnprogramm „durch“. Dehnen hilft - vielleicht, wahrscheinlich, ganz bestimmt. Und wenn nicht, nährt es wenigstens die Hoffnung. Penetrant, resistent, vermutlich nervalen Ursprungs, so „zieht“ es seit Rom bei jedem Lauf im Gesäßbereich rechts. Wenig trainiert seit dem, viel zu wenig. Und nur selten in leicht gesteigertem Tempo. Zu langsam, um die Form zu halten, zu schnell, um den Schmerz nicht zu spüren. Nach ein paar Kilometern meldete er sich jedes Mal zurück. „Soll er doch Pausieren!“ wirst du denken. Hab ich auch, auf meine Weise. Das bedeutet weniger trainieren, verhaltener und zusätzliche Ruhetage. Eine Zerrung oder Ähnliches liegt nicht vor, „da drin“ ist mit Sicherheit nichts „kaputt“. Eine Reizung, ausgelöst vom hohen Pensum und begünstigt - ich gestehe - von zu mangelhaftem Fleiß beim Dehnen. Derlei „heilt“ nicht beim Nichtstun. In der Bewegung, unter leichter Belastung, mit der Zeit, muss es sich geben. Nein, dazu befrage ich nicht die Karten, noch lese ich aus dem Kaffeesatz. Gute Orthopäden reden so und positive Erfahrungen bestätigten es mir. Es besserte sich, doch nicht entscheidend. Drum bin ich pessimistisch. Morgen früh Marathon? Das ginge ja noch. Ich kann los laufen, keine Frage. Und irgendwie wird’s gehen. Was meine Gedanken seit Tagen dunkel umwölkt ist das „Gesamtpaket“ meines Norddeutschlandlaufwochenendes, der geplante „Marathon-Doppelpack“: Samstag Lohne, Sonntag Cuxhaven.

Schon wieder hat jemand das Hotelzimmer um 180° Grad gedreht. Augen zu! Im Moment würde ich keinen Cent drauf wetten, am Sonntag in Cuxhaven antreten zu können. Meine Furcht zu Scheitern speist sich allerdings noch aus einer weiteren … äh … „Quelle“. Am Ostersonntag bekam ich fiebrigen Durchfall. Mangels anderer Erklärungen schiebe ich das den Römern in die Schuhe (In heimischen Gefilden ereilte mich nie „Montezumas Rache“). Das Fieber war Montag wieder weg. Aber nur das Fieber. Dienstag betrug mein Laufradius knapp 10 km, mangels Kraft und weil Dixies ja nicht in Laufrucksäcke passen. Dienstag reichte die Puste für 16 km, mit einem Zwischenstopp in verschwiegenem Tann. Donnerstag, Freitag lauffrei und seltenere Sanitärkontakte. Hochrechnung: Wenn es weiter aufwärts geht mit mir, dann könnte Samstag die Kraft für 42 km reichen - ohne Boxenstopps. Tagelang rang ich mit mir. Geht das? Und falls es geht, ist es sinnvoll? Was bringt das? So dicht schrammte ich bisher nie an einem Verzicht auf einen geplanten Trainingswettkampf vorbei. Schließlich sprach’s in mir: „Fahr! Versuch’s, aber erzwing es nicht! Gib auf, wenn nötig!“

Zum dritten Mal hintereinander und wieder für ungefähr dreißig Sekunden steht das Hotelzimmer Kopf. Ich spüre, dass exakt diese Übung - stehend, den Rumpf nach vorne gebeugt, die Hände umfassen die Zehen - den Dämon dort hinten stellt und bekämpft. Sicher kann ich nicht sein, bin aber felsenfest davon überzeugt. - „Menschen im Hotel“. Das ist ein Roman- und Filmtitel. Wikipedia sagt zum Buch: „In den auftretenden Figuren treffen wir nicht nur vereinsamte, seelisch deformierte und physisch kranke Menschen an, sondern auch solche die hinter ihrer bürgerlichen Fassade ein gestörtes Verhältnis zur Realität offenbaren.“ - Das bin doch ich! Im Hotel, ein bisschen physisch krank, infolgedessen seelisch deformiert (hoffentlich vorübergehend), vereinsamt und mich ständig fragend, ob ich meine Situation richtig einschätze: ‚Du kannst Lohne laufen, aber du musst es sehr, sehr verhalten angehen und den Abbruch einkalkulieren!’

Samstagfrüh, unweit der Autobahn A1, Ausfahrt Lohne / Dinklage.

Neun Uhr. Ich freue mich auf den Himmel, denn einige der wichtigen Manager da oben müssen Läufer sein! Welche Erklärung gäbe es sonst für den nun schon stellenweise trockenen Asphalt, während es beim Aufstehen noch in Strömen regnete!? Kälte und Wind blieben, aber das schreckt mich nicht. Wenn’s nur endlich zehn wäre, damit das Bangen ein Ende hat und ich die „Pflichtübung“ hinter mich bringen kann. Das Start-/Zielportal liegt auf dem Gelände eines Autohofes. Hier wird sonst ausgetreten, getankt, gegessen, was getrunken, gerastet. Sonst und selbstverständlich auch heute. Bewusst wird mir das allerdings erst später, zweimal, in aller Deutlichkeit, so viel sei vorweg genommen …

Die Startnummer bringe ich binnen einer halben Minute in meinen Besitz, dann ist Zeit die Einrichtungen der Mega-Autobahn-Tanke zu besichtigen. Ein bisschen was davon gehört heute uns Läufern. „Dusche“. Die provisorisch angebrachte Tafel weist in den ersten Stock. Aha, ein kleiner Umkleideraum, nebenan ein paar Duschkabinen, zusätzlich ein WC. Diesen Bereich nutzen normalerweise Trucker, die ihre Ruhezeit auf dem Gelände verbringen. Wieder runter, bisschen blöd Rumgucken, Rumsitzen, weiter alle erdenklichen Bedenken überdenken. Wenn’s nur endlich zehn wäre! Blase erleichtern verbraucht ein paar Minuten und bringt immer was für’s Gemüt. Also los. Aber nicht noch mal rauf, denn hier unten, zwischen Tankstellenkasse und Restaurantbereich steht doch auch ein großes WC zur Verfügung (Doch, doch, das ist wichtig!).

Fünf vor zehn. Sitze seit geraumer Zeit im Auto und sinniere. Immer dieselben Fragen und Zweifel. Antworten wird’s gleich geben. Oh Mann! Ich hab ja noch die Trainingshose an! Wie dilettantisch! Jetzt auch noch ein bisschen Hektik. Schuhe aus, Hose aus, Schuhe an - „Noch zwei Minuten!“ sagt der Sprecher - Sicherheitsknoten, Kameratasche umschnallen, raus aus dem Auto, Schlüssel in die Gesäßtasche - „Noch eine Minute bis zum Start!“ - Forerunner einstellen, Mütze auf, Handschuhe anziehen, zum Start stolpern - „Die letzten dreißig Sekunden!“ - Kaum steh ich am Ende des Marathonhäufleins, zählen sie schon brav gegen Null und ich trabe an …

Komm mit auf die erste Runde!

Hinter dem Restaurantkomplex quert die Meute erst den Parkplatzbereich, dann die Zufahrtsstraße, steppt auf deren Bürgersteig, schwenkt schließlich Richtung Radweg neben dem Autobahnzubringer. Laufen fühlt sich so komisch an. Liegt an mir, hab keine rechte Einstellung dazu. Noch nicht. Wird aber mit jedem Schritt besser. ‚Lauf bloß langsam! Nicht schneller als 5:30 min/km!’ Heute mit knapp vier Stunden finishen und ich werde mich wie ein Glückspilz fühlen! Immer wieder habe ich diese mentale „Sperre“ aufgefrischt, heute Morgen, gestern, seit Tagen: ‚Auch wenn’s besser als erwartet läuft - du wirst 3:50h nicht unterschreiten!!!’ - Links weg, auf ein schmales Sträßchen, eben dahin. Oldenburger Münsterland. Flacher kann Landschaft nicht sein. Viele schmale Waldstreifen, dazwischen Felder, unbestellt, nicht einmal gepflügt. Auf manchen hinterließen die starken Regenfälle der letzten Zeit großflächige Pfützen. Immer wieder ducken sich einsam stehende Gehöfte oder Wohnhäuser in den Schutz eines Waldsaumes. Ruhe und Beschaulichkeit sind Trumpf. Mit einer Ausnahme: Die nahe Autobahn schickt ein mehr oder minder gleichmäßiges Rauschen herüber.

Ich hab mein Tempo justiert. Es pendelt zwischen 5:20 und 5:30 min/km. Auf den ersten Kilometern fühlt sich das absolut mühelos an, als könne ich auf diese Weise bis Moskau laufen … Dennoch traue ich dem Frieden nicht, weil die Pumpe in meiner Brust diese Leistung mit merklich mehr Schlägen unterstützt als gewohnt. - ‚Du läufst heute genau diesen Stiefel und keinen Deut schneller!’ - Parallel zu sonstigem Schauen, Fühlen, Denken bleibt die neuralgische Körperstelle unter Dauerbeobachtung. Die Hinterbacke muckt nicht, noch nicht. Aber „da ist was“. Kennst du das Gefühl? Das Zipperlein plagt dich gerade nicht, dennoch versichert unmerkliches Empfinden von jener Stelle: „Ich bin noch da!“

Fast zwei Kilometer gelaufen. Eine „Schikane“ kommt in Sicht. Außer den 10 km-Läufern müssen hier alle rechts abbiegen und auf einer Art Damm in lichtem Hain knapp 300 Extrameter zurücklegen. Dann scharf links, runter vom Dammweg und auf parallelem Sträßchen dieselbe Distanz zurück. Während ich wieder dem Rundkurs zu strebe, kommt mir auf erhöhtem Damm eine Gruppe von Läufern entgegen. Das Schlusslicht bilden Herr und Hund. An der Leine läuft ein hübscher, mittelgroßer Vierbeiner, mit langem, braun meliertem Fell, Typ „Setter“, näher kann ich es nicht bestimmen. Das Bild gefällt mir, erinnert mich an frühere Trainingsläufe mit unserer Hundedame.

Das Tier ist auf Marathonkurs. Das kapiere ich allerdings nicht, wähne auch Läufer für kürzere Distanzen auf der Strecke. Ich verstehe heute sowieso fast nix, denke auch kaum nach, registriere von meiner Umwelt nur das Nötigste oder was sich aufdrängt. Bin vollkommen fixiert auf körperliche „Internas“. Wahrscheinlich begreife ich deshalb erst viel später das im Grunde simple System von Strecke und Veranstaltung: Der eigentliche Rundkurs misst exakt 10 km. Der „schikanöse“ Abstecher addiert zu jeder Runde weitere ca. 550 Meter. So summieren die Halb-, Dreiviertel- und Ganz-Marathonis letztlich ihre nötige Entfernung. Je kürzer die Distanz, umso später und im Stundentakt gehen die Bewerber auf die Strecke. Nun isses raus: Vier Runden hab ich hier zu laufen. Manche schreckt so was. Mich nicht, denn Langeweile stellte sich auf mehrfachen Runden bisher ebenso wenig ein wie der dringende Wunsch Aufzuhören. Und heute? ‚Was wird sein, wenn’s nachher sch…weh tut? - Dann hörst du auf! Es wird nichts erzwungen!!!’

Das Wetter bessert sich zusehends, zuweilen bricht die Sonne für Minuten zwischen gewaltigen Wolkenhaufen durch. Dann durchschauert mich wohlige Wärme, treibt das Stimmungsbarometer nach oben. - Am Landschaftsbild ändert sich nichts, hinten, oben leider schon. „Hallo, da bin ich wieder!“ Das verhasste, rätselhafte Ziehen im Pobereich, halb unangenehme Störung, halb schmerzhafte Wahrnehmung, nervt erneut. Im Grunde wär’s mir reichlich egal, so egal wie vor Zweiwochenfrist in Rom, wenn ich keine Zuspitzung befürchtete.

Ich hab mein Tempo einer Gruppe dreier lokaler Läufer angepasst. Einer trägt Vereinskluft des Veranstalters, „LT Waldschleicher Lohne“ prangt auf seinem Rücken. Hinter der nächsten Grundstücksecke schwillt plötzlich der Autobahnlärm um etliche Dezibel an und ein sanfter Anstieg in Richtung Brücke beginnt. Statt Asphalt hab ich nun ein mit Betonsteinen sorgsam gepflastertes Geläuf unter den Füßen. Im Anstieg vergrößert sich der Abstand zur Gruppe vor mir. ‚Langsam rauf! Nix riskieren! Halt dich zurück!’ - Hinter der Autobahnbrücke nach rechts, dann stehe ich vor dem ersten Verpflegungsstand. Wasser muss rein - ist drin - und weiter. Leicht abwärts, wieder über Betonpflaster, parallel jetzt zum Gedröhn der A 1, auf einen schmierig nassen Waldweg voller Pfützen. Slalom auf den nächsten zweihundert Metern bewahrt mir trockene Füße und die Schuhmarke bleibt weiterhin erkennbar. Raus aus dem Wäldchen auf sandigen Weg und erstmals weht der Wind scharf von der Seite. Frösteln verjagt das wohlige Schauern, dagegen kommt die Sonne nicht an. Es folgt, was folgen muss. Der Weg knickt nach links und augenblicklich stehe ich in heftigem Gefecht gegen meinen ärgsten Feind. Über freies Feld, von keinem Halm gebremst, fegt er heran und will mir das Laufen verleiden. Heute wehre ich mich mit mehr Zurückhaltung, „schalte zwei Gänge zurück“. ‚Schon deine Kräfte!’

‚Nimmt denn dieser Sch…weg kein Ende?’ An sich ein hübsches Landschaftsbild jetzt: Jogge entlang einer Baumreihe, zwischen Feldern, Blick in jedweder Richtung erst in ein paar hundert Metern von Waldrändern begrenzt. Unangenehme Empfindungen lassen vom reizvollen Eindruck allerdings nichts übrig. Wind hemmt den Lauf, zuweilen kurve ich um Pfützen, stolpere über Unebenheiten des anfänglich schlechten Geläufs und muss das Zipperlein da hinten in Schach halten. Vier-, fünfhundert Meter, dann schwenken wir auf ein Asphaltsträßchen. Das befreit vom Winddruck und beendet die Unebenheiten. Der Mann von den „Waldschleichern“ trabt immer noch vor mir. Achtung Gegenverkehr! Ein Auto mit Pferdeanhänger nähert sich vorsichtig. Kein Problem, wenn Fahrer und Läufer gleichermaßen Acht geben. Vorbei an zwei, drei Wohnhäusern, Schild „Noch 5 km“, Wind von rechts. Nach lang gezogener Rechtskurve packt er mich erneut frontal. Ich denke an Husum, an „Emma“. Dagegen ist das hier eine sanfte Brise. ‚Also stell dich nicht so an!’

Hier leben Schweine! Viele Schweine! Ich hör kein Grunzen und seh’ keine „rosa Steckdosen“, aber ich rieche sie. Der Wind treibt den Mief von einem großen Stallgebäude herüber. Knapp dreißig Sekunden vielleicht, dann verlasse ich die kontaminierte Zone und atme wieder unverfälschte Münsterländer Landluft. Zwischen Schweinestall und Bauernhaus geht’s einmal mehr Richtung Wald. Hinterm Waldportal herrscht Windstille und weit voraus erkennt man schon den zweiten Verpflegungsstand. Ich sag „Danke!“ für einen Becher Wasser und wende mich der angenehmsten Etappe zu. In der von jungem, dichtem Wald bewahrten Stille hört man nur das leise Getrappel von ein paar Läuferfüßen. Ein Scherz meines Vordermannes, anlässlich eines seitlich zur Notdurft ausgescherten Läufers, zerreißt die Idylle: „He! Nicht abkürzen! Auf dem Weg bleiben!“ Ein kurzer Dialog lässt die Neckerei eskalieren. Allgemeines Gelächter, dann Schweigen, wieder Stille. Eine von vielen, im Grunde völlig belanglosen Begebenheiten, die sich auf 42 Kilometern Laufen aneinander reihen. Unwichtig, das schon, aber sie gestalten die rund vier Laufstunden für viele erträglicher und allen kurzweiliger.

Zur Abwechslung jetzt mal rechts rum, an ein paar Anwesen entlang. Auf dem ersten frisst sich eine Kettensäge durchs Holz und mir durch Mark und Bein. Die zweite Behausung mag sich hinter übermannshoher Hecke (Drei Meter? Fünf? Zehn? Was verbergen die hier?) gar nicht sehen lassen, dafür präsentieren sich die anderen umso offenherziger und sehr gepflegt. Nach kurzem „Tunnel“ junger Gehölze schwenken wir auf die schnurgerade, schmale Asphaltbahn eines Radweges ein und laufen zugleich gegen eine unsichtbare Wand. Gegenwind. Sind das jetzt dreihundert Meter, vierhundert? Jedenfalls dehnen sie sich endlos, bei neuerlich reduziertem Tempo. Den Windschatten anderer Läufer kann ich nicht nutzen. Die lassen sich von dem Lüftchen kaum beeindrucken, halten ihre Geschwindigkeit, ziehen davon. Egal. Dort vorne ist es zu Ende, der Radweg mündet in spitzem Winkel in eine breite Umgehungsstraße. Noch zwei Kilometer.

Ich überquere die Straße, erreiche den jenseitigen Radweg und trabe schlagartig leichtfüßig, mit Gebläse im Rücken. In weitem Bogen zieht die Straße vor mir her. Hundert Meter weiter stehen zwei Feuerwehrleute, versuchen ein Auto zu stoppen. Der Fahrer bremst zunächst, sieht dann aber keinen Grund seine Fahrt zu unterbrechen, will vorbei. Mit einem lauten „He!!!“ reißt der Posten erneut seine Kelle hoch und betritt entschlossen die Straße. Eine Vollbremsung bringt den Wagen schließlich zum Stehen. ‚Warum stehen die hier und nicht am Übergang? Da wäre ich als Autofahrer auch irritiert.’

Die erste Runde neigt sich dem Ende zu. Die Umgehungstrasse mündet in einen Kreisverkehr, gesichert von zwei Absperrposten, von denen sich einer auch als Motivator versteht: „Gut so! Weiter so!“ - „Noch 1 Km“ verheißt blaue Schrift auf weißem Grund. Vor der zweiten Autobahnbrücke gehen Radweg und Straße in sanfte Steigung über. Über diese Ausfahrt bin ich vor gut zwei Stunden angekommen. Ein weiterer Ordner stellt sich hier wagemutig Autobahnnutzern in den Weg. Außerdem hält er seine Hände mit lebhaftem Beifall warm. Ein Blick nach Norden, einer nach Süden, der Verkehr auf der A 1 hat zugenommen. Entlang einer Leitplanke geht’s abwärts und ein paar Aufwürfe im Radweg - vom Veranstalter gelb markiert - nötigen zur Vorsicht. Das Ziel ist durch eine Baumreihe schon schemenhaft erkennbar. Am Ende der Leitplanke nach links, ein Stückchen Feldweg nutzend, dann scharf rechts über zehn Meter schlüpfrig, schmieriges Geläuf und mit beherztem Satz auf den Asphalt des Motorparks. Fünfzig Meter später passiere ich zum ersten Mal das Zieltor, fast 57 Minuten sind um.

Runde Zwei.

Zunächst bleibt mir keine Muße meine Zwischenzeit zu bewerten. Hinterm Ziel konzentriere ich mich auf den richtigen Kurs durch den Autohof. Ein Ordner weist zunächst den Weg, dann finde ich mich zurecht. Will gerade an parkenden Fahrzeugen vorbei und über die Zufahrtsstraße, als mich nahes, bullenstarkes Motorgeräusch von scharf rechts erschreckt. Ein großer Laster schießt mit einem Affenzahn über das Gelände, direkt auf mich zu. Ok, zwischen dem Monstrum und mir sind noch zwanzig Meter Luft, dennoch schlägt mir das Herz bis zum Hals. Und was, wenn ich mich fünfzehn Meter verspätet hätte? Warum fährt der Depp hier nicht Schrittgeschwindigkeit? Und wieso ist diese Stelle nicht gesichert?

Was gibt’s aus der zweiten Runde zu berichten? Wenig, aber Bedeutsames. Mein Körper hat sich entschieden in der heutigen „Schlacht“ eine zweite Front zu eröffnen. Das fing schon in Runde eins an, verschafft sich erst jetzt Beachtung, jenes „Grummeln“ im Unterleib. Büsche und Bäume gibt’s genug, aber … ‚Ach was. Wird schon halten, wird sich schon wieder verziehen!’ - Das Ziehen in der Hinterbacke hat sich nicht verändert. Konstant nervig motzt es vor sich hin. ‚Wird’s nicht doch noch schlimmer werden?’ - Kilometer um Kilometer Oldenburger Münsterland zieht vorbei. „Schikane“ zum zweiten Mal. Links rum, Auffahrt zur Autobahnbrücke und … Gegenwind. Den gab’s hier vorhin nicht. - Morast, Pfützen, Feldweg, links ab und … heftiger Gegenwind. Kein Zweifel, der hat merklich aufgefrischt. Fluchen erleichtert das Gemüt, hört ja niemand. - „Borstenvieh und Schweinespeck sind mein idealer Lebenszweck“ - man riecht’s noch immer überdeutlich.

Währendessen grummelt es und grummelt und grummelt. - Meine Lieblingsstelle im Wald, jetzt wirklich Stille, von meinem Atmen und Traben abgesehen. Die Motorsäge ist noch am Werk, ansonsten wirkt die Gegend ausgestorben. Hin und wieder begleitet jetzt ein Zwicken das Grummeln im Bauch. Während ich auf ellenlangem Radweg zum zweiten Mal den einsamen Kampf gegen meinen unsichtbaren Intimfeind austrage, freunde ich mich mit dem Gedanken einer Zwangspause an. Noch zwei Kilometer bis zum Motorpark und seinen Toiletten. ‚Aber vielleicht hört’s ja doch wieder auf.’

Die Feuerwehrleute an der Umgehungsstraße haben mittlerweile Posten direkt vor dem Übergang bezogen. Haben wohl eingesehen, dass sie hundert Meter vorher nur Verwirrung stiften. Verdammter Wind! Jetzt fegt er auch noch auf dem letzten Stück der Umgehungsstraße. - Mein Unterleib gleicht mittlerweile einem prall aufgeblasenen Ballon. Und mir ist bewusst, was solchen Ballons jederzeit zustoßen kann ... Auf dem Weg zur letzten Autobahnbrücke steht mein Entschluss: Kurz vor der Zeitmessung ausscheren, rein in den Motorpark und danach direkt vor dem Zieltor wieder in den Wettkampf einsteigen.

Jeder Schritt, mit dem ich mich dem Gebäude nähere, fährt mir jetzt unmittelbar durchs Gedärm, drängend und unangenehm, dann sehr drängend und sehr unangenehm. Als ich von der rutschigen Passage auf den Asphalt des Motorparks steppe, ist es allerhöchste Eisenbahn! Gerade will mich der Sprecher mit den Worten „Und da nähert sich auch schon der nächste Marathoni …“ ansagen, als ich wie von tausend Teufeln gehetzt nach rechts ausbreche und aus seinem Gesichtskreis verschwinde. Ich ziehe einen kleinen Spurt, springe auf den Bordstein, nähere mich der Tür zum Restaurant. Im Windfang ein Paar, das Schwierigkeiten hat seinen Kinderwagen durch die zwei Türen zu bugsieren. Rücksichtslos, mit gehechelter Entschuldigung drängele ich mich vorbei und vor. Der männliche Kinderwagenbugsierer schickt mir ein entrüstetes „Na toll!“ hinterher (Ist mir ja so egal im Moment!). Ich renne zwischen Tischreihen, schlage einen Haken Richtung Toilette, dann noch zwei jeweils links rum, stoße die Tür auf und bin drin. Erste Kabine: Rot - „Besetzt!“. Zweite: „Besetzt!“ Dritte, vierte, fünfte, alle: „Besetzt!“. Das gibt’s doch nicht. Doch gibt’s. Ist ja logisch, ich bin in einer Rastanlage. Jetzt ist mir egal, ob mich jemand fluchen hört. Panik lässt mich vollkommen verkrampfen. Was nun? Das Klo im ersten Stock, hinter der Umkleide fällt mir ein! - Ich rase raus, flitze die Treppe hoch und bange: ‚Wenn da bloß niemand drauf hockt!’ - Es ist frei! Die Läufer in der Umkleide gucken mich verständnislos an. Egal, vorbei, rein, absperren …

Runde Drei.

Das war verdammt knapp! - Mit fast 1:58h passiere ich die Zeitmessung zum zweiten Mal und nehme den Wettkampf wieder auf. Ziemlich genau vier und eine halbe Minute hat mich der Stoßtrupp in die sanitären Anlagen des Motorparks gekostet. Ein großer Läuferpulk wartet am Start, irritiert mich ein bisschen. Später auf der Strecke, als die ersten an mir vorbei „zischen“, wird mir dann klar, dass es sich um die Halbmarathonläufer handelte, die Punkt 12 Uhr auf die Strecke gingen.

Runde Drei verläuft reichlich ereignislos. Inzwischen kann ich schon jeden Abschnitt, jede Ecke und Wendung vorher sagen. In der Verdauungsregion ist Friede eingekehrt. Hinten, oben, rechts zieht’s weder mehr, noch weniger. Der Wind gebärdet sich auf den nämlichen Abschnitten gleichermaßen gemein und die Schweine hat in der letzten Stunde auch niemand geschlachtet. Der Motorsägenmann sitzt beim Mittagessen oder schnarcht auf'm Kanapee. Und die Damen an den Versorgungsständen schenken weiter fröhlich Wasser und Tee aus (Wieso findet man an Verpflegungsständen eigentlich in der Mehrzahl weibliche Helfer?).

Gegen Ende dieses Umlaufes dämmert mir, dass ich meiner Hinterbacke im Grunde dankbar sein muss. Ohne dieses Handicap hätte ich wieder versucht um die 3:30h zu laufen. Ein Fiasko wäre die Folge gewesen, so müde, wie ich inzwischen dahin schlurfe. Trainingsrückstand und überwundene Krankheit machen sich bemerkbar …

Schon kurz hinter der finalen Autobahnbrücke höre ich, dass sich das Zielgelände „akustisch“ verändert hat. „Wumm, wumm, wumm, wumm …“ donnert es mir von dort rhythmisch entgegen. Schlagwerk jedweder Art fabriziert einen Höllenlärm. Die Verursacher nehme ich allerdings recht spät wahr, weil der schmierig glatte Zickzack kurz vor dem Ziel volle Konzentration einfordert. Beidseits des Zielkanals hat sich die trommelnde, schlagende, klappernde Gruppe als lärmendes Spalier aufgebaut. Dankbar sammelt meine Kamera ein weiteres Foto …

Runde Vier.

Nach etwa 2:54h hab’ ich das Ziel ein drittes Mal vor Augen. Runde vier läuft sich dann vergleichsweise leicht. Ein Widerspruch, denn mit jedem Schritt werde ich schwächer. Aber es ist eben die „letzte“ Runde und das spornt an. In ein paar Minuten wird das vierzigste Finish Realität sein, das steht schon jetzt fest. Immer wieder denke ich an morgen. Mit jedem Kilometer der Schlussrunde wächst auch mein Optimismus in Sachen „Cuxhaven“.

Am Getränkestand hinter der Autobahnbrücke genehmige ich mir einen letzten Schluck. Die zweite Tränke, drei Kilometer weiter, ignoriere ich dann. Gefühlt ist diese Runde kürzer als die drei vorauf gegangenen. Real brauche ich etwa zwei Minuten länger. Ich hab Zeit und lasse mir Zeit, will nichts mehr riskieren. Gegenwind? Sei’s drum, runter mit dem Tempo, Beine schonen. Heute ist Marathon, morgen aber auch. Drei Runden zum Kennen lernen, jetzt eine zum Verabschieden. Tschüs Oldenburger Münsterland. Die Gegend ist flach, aber nicht ohne Reiz. Ein bisschen besseres Wetter und weniger innere Hemmnisse hätten sie mir sicher noch attraktiver erscheinen lassen.

So bin ich froh die letzte Kilometertafel zu sehen - „Noch 1 km“. Noch einmal hoch auf Brückenniveau, zum letzten Mal am Ordner an der Ausfahrt vorbei: „Toll! Gratuliere!“ ruft der mir zu und ich bedanke mich mit sparsamem Wink. Ein letzter Blick auf den fließenden Verkehr, dann runter und aufs Gelände des Motorparks. Begleitet vom Getöse der Rhythmusgruppe trabe ich müde und leidenschaftslos die letzten Meter ins Ziel.

Lohne lohnt wirklich! Wenig Startgeld, viel Leistung, gute Organisation, tolle Stimmung. Im Zielbereich hat man ein altes Militärzelt aufgebaut. Dort finde ich Sitzgelegenheit, Gespräche und für Einsfünfzig Kaffee und Kuchen - leckeren Kuchen! Angeschlagen, aber zufrieden breche ich wenig später in Richtung Cuxhaven auf …

Hinweis: Zwischenzeitlich komplett andere Strecke! Nach wie vor 4 Runden! (Stand 2016)

 


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