Virtuos, zirkusreif, aber beileibe nicht sehenswert  -

Thermenmarathon Bad Füssing 2008

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Titelzeile zielt mitnichten auf die Veranstaltung oder ihre Organisation. Die war gewohnt routiniert, fehlerfrei und jeden Euro Startgeld wert. Aber der Reihe nach …

Der Thermenmarathon eröffnete schon das Laufjahr 2007 in dem ich von einem persönlichen Erfolg zum nächsten eilte. Bad Füssing bildete den Auftakt zu etlichen Vorbereitungsmarathons, die sich alle dem ganz großen Ziel, den 100 km von Biel unterzuordnen hatten. Auch in diesem Jahr wage ich so einen „Griff nach den Sternen“. Es raubt mir fast den Atem, wenn ich intensiver daran denke: „Vierundzwanzig Stunden laufen!“. Abergläubisch bin ich nicht. Sollten in jenseitigen Sphären dennoch solche Einflüsse existieren, mag es ein gutes Omen sein, den Thermenmarathon erneut an den Anfang zu stellen … Grund zwei: Bei wunderbarem Wetter bescherte mir Füssing 2007 ein stimmungsvolles Lauferlebnis. Und zu guter Letzt: Wo kann man schon Anfang Februar Marathon laufen, und braucht dafür nicht mal allzu weit zu reisen?

Kurz vor zehn stehe ich am Start vor dem Johannesbad. Von den mehr als 1200 Halb- und Marathonläufern sehe ich höchstens fünfzig vor mir. Ein markanter Unterschied zum letzten Jahr, als ich mich deutlich bescheidener in der Mitte des Feldes platzierte und schließlich mit knapp 3:30h ins Ziel lief. Heute fühle ich mich stärker, habe bereits fünf Wochen knochenhartes Training hinter mir. Nicht unbedingt auf Marathon ausgerichtet und in mancherlei Hinsicht verbesserungsfähig. Aber doch mit allen Elementen, die auch für die 42,195 km-Strecke nützen. Weiterhin fehlt die schulmäßige Belastungsreduzierung vor dem Wettkampf - das Tapering. 60 Kilometer habe ich diese Woche bereits in den Beinen. Zwei Ruhetage waren Marathonis Pflicht, um wenigstens mit ausgeruhten „Hax'n“ in den Lauf zu gehen. Für das Durchhaltevermögen nach der magischen 30 Kilometermarke sicher zu wenig. Na, mal sehen …

Für ein kleines Foritreffen reichte die Zeit dann auch noch ...

Ein letzter Test ergab, dass ich einen Marathon um die 3:10h laufen kann, was einem Schnitt von etwa 4:30 min/km entspricht. Unruhe und Zweifel - die mich regelmäßig befallen, wenn ich einen Lauf mit vollem Einsatz plane - raten dringend zur Mäßigung: ‚Back kleinere Brötchen Udo!’ Andererseits will ich eine möglichst präzise „Standortbestimmung“ und das geht an diesem Sonntag zum letzen Mal. Drei Wochen bleiben bis zum nächsten Marathon. Genug Zeit zum Erholen, danach werde ich bis in den Juni an jedem Wochenende einen oder gar zwei Marathon- oder Ultraläufe absolvieren (wenn alles klappt). Und dann gibt es da eine neue, völlig ungewohnte Motivation. Seit Januar gehöre ich einem Verein an, der TG Viktoria Augsburg. Und im ersten Wettkampf für meinen Verein möchte ich möglichst gut abschneiden …

Die Stoppuhr tickt bereits, während sich die Läufermasse durch das von den Drähten der Zeitmessung aufgespannte Tor quetscht. „Zaudern“ war vorhin, jetzt ist „entschlossenes Laufen“ angesagt. Ich bleibe dabei, Vielfache von 4:30 min/km sollen es werden. Das ist doch auch viel leichter zu rechnen. Alle vier Kilometer 18 Minuten oder auch so: Die ungeraden Tafeln sollte ich mit xx:30, die geraden mit xx:00 passieren. Schön einfach gell? Auf den ersten Metern fällt es denkbar leicht an ein glückseliges Finish auf der Basis solcher Arithmetik zu glauben, war ich doch schon lange nicht mehr so leichtfüßig unterwegs. Zwei lauffreie Tage wirken wahre Wunder. Dazu noch die Sonne, die einen recht milden Februartag verspricht und mir mitten ins Wohlfühlzentrum leuchtet. Deshalb renne ich auch in Kurztight, was sich - so viel sei vorweg genommen - als goldrichtige Maßnahme entpuppt. Wenn ich friere, dann am Kopf und vor allem an den Händen. Also sind Mütze und Handschuhe obligatorisch. Als emsig vorsorgender Laufhamster hab ich auch noch vier Beutel Energiegel in meiner Gesäßtasche, denn immerhin will ich heute mein Limit ausloten.

Erste Kurve, erste Gerade, zwei Kreisverkehre, rechter Hand Füssinger Hotelfassaden, links freier Blick hinüber zum Ortsteil Riedenburg. Sieben Minuten Einlaufen habe ich mir vorhin geleistet. Weniger Trainierten mag das vor einem Marathon ein wenig überheblich vorkommen, für mich ein Akt purer Vernunft. Nichts fällt mir im Training schwerer als die ersten fünf Minuten, bis mein aerober „Antrieb“ Fahrt gewinnt. Und im Wettkampf unterliege ich meist der Gefahr den ersten Kilometer zu „überpowern“. Also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Und es gelingt: Die ersten tausend Meter verewigen sich mit 4:35 Minuten sogar etwas zu langsam auf meiner Stoppuhr. Während ich mit Bedacht eine Idee mehr „Gas gebe“, regt sich eine Empfindung. In Worte gefasst läse es sich so: „4:30 min/km? Das fühlt sich aber verdammt anstrengend an!“. Doch unterschwellige Beunruhigung hat angesichts ausgeruhter Beine und heftigem Frösteln zu früher Stunde keine Chance sich im Kopf auszutoben. Wie erwartet spüre ich die Kälte vor allem an Armen und Händen, trotz langer Ärmel und Handschuhen.

Zweiter, dritter, vierter Kilometer: Jetzt habe ich die Splits stabilisiert, liege jeweils nur um wenige Sekunden daneben. Die Füssinger Strecke ist flach - jedenfalls fast. Genauer betrachtet, läuft man auf steten, weit geschwungenen Bodenwellen kaum merklich auf und ab. Mir teilt sich dieses Profil als minutenweise Wechsel im Laufgefühl mit. Mal fällt mir das Tempo leicht, dann spüre ich die Belastung wieder deutlich, begleitet von leisen Zweifeln …

Die erste Ortschaft kommt in Sicht, Kirchham. Kurz vor dem Ortseingang die erste Verpflegungsstelle, die meinem Magen einen Schluck warmen Tee beschert. Am Dorfrand links weg, durch sonntäglich ausgestorbene Straßen. Im letzten Jahr läuteten just in diesen Minuten die Glocken der nahen Kirche. Damals nahm ich’s - weiß der Himmel warum - als eine Art Versprechen für ein glückliches Ende und ließ mich davon tragen. Heut’ scheint der Küster noch zu schlafen, jedenfalls verweigert er mir diese Verheißung guten Gelingens. Überhaupt laufe ich heute weniger gelöst und frohgemut als vor Jahresfrist, obwohl die äußeren Bedingungen noch besser sind. Verflixter Ehrgeiz: Anspruchsvolle Zielzeiten dämpfen halt das Laufvergnügen. ‚Warum musstest du dir das heute antun? Was willst du dir beweisen? Wem willst du überhaupt was beweisen? Kannst nicht mal mit weniger zufrieden sein und einfach genießen?’ - Kann ich bestimmt, irgendwann …

Ich fühle mich auserwählt. Nö - gar nicht von mysteriösen oder himmlischen Mächten. „Herr Schneuz“ hat sich ganz offensichtlich in den Kopf gesetzt, sein und mein läuferisches Schicksal zu verknüpfen. Bleibe ich ein paar Schritte zurück, wird er langsamer, ziehe ich vorbei, um mir für die nächste Biegung oder Kurve die Ideallinie zu sichern, hält er mit, bin ich nach einem Verpflegungspunkt einige Schritte voraus, gibt er Fersengeld, um wieder aufzuschließen. Wenn, dann ließ bislang ausschließlich ich mich von anderen „ziehen“, nutzte für ein paar Kilometer den Vorauslaufenden als Motivator. Mir widerfuhr dergleichen noch nie, jedenfalls nicht bewusst. Im Grunde eine willkommene Sache, gemeinsam läuft man leichter. Aber nicht in seinem „Fall“. Alle paar hundert Meter führt er die „Klammer“ aus linkem Daumen und Zeigefinger zur Nase, bläst explosiv kurz durch die Nüstern und befreit sie so von feuchter Verstopfung. Sehen kann ich sie nicht, muss jedoch ein ums andere Mal eine Dusche feinst verteilter Tröpfchen passiert haben. Und ehrlich, ein ganz klein bisschen ekelt mich das. Da es mir nicht gelingt ihn abzuschütteln, sinne ich auf Abhilfe. ‚Soll ich ihn vielleicht zur Ordnung rufen?’ - Für einen verbalen Schlagabtausch fehlen Lust und Kraft und sooo … dramatisch isses nun auch wieder nicht. Dann bekomme ich mit, dass er bei jedem dieser Manöver den Kopf ganz leicht nach links dreht. ‚Also halt dich rechts von ihm, da bist du sicher!’ Und so geschieht es dann auch, entweder bin ich in Front oder trabe rechts von ihm …

‚Herrlich!’ dachte ich vorhin ‚Sonnenschein und Windstille!’. Immerhin spürte ich kaum einen Luftzug auf dem ersten Streckenteil. Ist so was Ausdruck fehlender Intelligenz, oberflächlichen Urteilens oder existiert ein rein emotional gesteuerter Prozess im Hirn, der den Läufer Realitäten so lange verdrängen lässt, bis ihn die Wahrheit einholt? Ich hatte in der Schule immer eine „2“ in Physik und erkannte schon vorzeiten, dass „Windstille in der Bewegung“ letztlich nur „Rückenwind“ bedeuten kann. Tendenziell heißt das auf einem Rundkurs spätestens nach halber Distanz „Gegenwind“. Auf freiem Feld vor der Ortschaft Aigen bekomme ich den deutlich zu spüren. Er bremst, zudem lässt mich der Windchill neuerlich oberhalb der Gürtellinie erstarren. Jetzt bin ich „Herrn Schneuz“ sogar ein wenig dankbar, hält der doch unser Tempo unbeirrt aufrecht, während ich zunächst ein paar Meter zurück falle. Als „Fixstern“ lasse ich ihn nicht enteilen und so halten wir unverdrossen auf das nahende Dorf zu. Immer größer und düsterer baut sich dessen klotzig wirkende, aus unverputzten Steinen erbaute Kirche am Ortsrand auf. Der Anblick ist dieses Jahr nicht mehr neu, vielleicht empfinde ich sie deshalb als weniger „drohend“ - dennoch: Ein hässliches „Ding“!

Ortsmitte von Aigen, links weg über die Hauptstraße Richtung Irching, eben passiere ich das 11 Km-Schild. Die Zwischenzeit bestätigt einmal mehr den gewünschten Schnitt. Allerdings muss ich mir eingestehen, dass es zunehmend schwerer fällt die Pace zu halten. Außerdem zieht und zwickt es im Bereich der Waden und der Füße bereits gewaltig. Zweifel, den Wettkampf auf diesem Niveau durchzustehen, wachsen. Auf jenes zig Kilometer lange „Sterben“ à la Marburg 2007 kann ich gut verzichten und erwäge kurzzeitig Tempo raus zu nehmen. Aber dort war ich nach 10 km schon reichlich „geliefert“ und so fühlt es sich heute nicht an. Zudem bescheinigte der Test vor ein paar Tagen ungefähr diese Geschwindigkeit laufen zu können. Das gibt den Ausschlag, ich bleibe dran …

Hinter Irching habe ich wieder dicht zu „Herrn Schneuz“ aufgeschlossen. Als Tandem traben wir durch die „3 ½“ Anwesen des Weilers „Holzhäuser“. Dahinter fehlen noch ein paar hundert Meter bis zum schützenden Waldrand. Schutz wovor? Der schneidende, zuletzt von schräg vorne, stetig wehende Wind, Generalrichtung Ost-Südost, hat hier keine Macht mehr. Mit Blick auf die 16 Km-Tafel schlüpfe ich in den angenehmen Windschatten vor den Bäumen. Zweistellig, in Sekunden gezählt, liege ich über dem angepeilten Schnitt. Die Schuld dafür schiebe ich, mangels Alternative, nur allzu gern dem Gegenwind in die Schuhe. Welcher beherzt kämpfende Marathoni wäre schon nach sechzehn Kilometern reif für das Eingeständnis sich überschätzt zu haben? Umso mehr, da das wirkliche Unheil ihn erst auf den letzten zehntausend Metern ereilen wird. Der Wind ist Schuld! Basta!

Entlang des Waldsaumes, für die Dauer eines Kilometers in weit gezogener Linkskurve, „taut“ die obere Körperhälfte wieder auf. Hitze, Kälte, Schwüle, Frost, nur oberhalb der Gürtellinie bereiten sie mir Probleme. Die Laufwerkzeuge fühlen sich seltsamerweise immer wohl. Auch vorhin im eisigen Wind, dem ich sie ungeschützt aussetzte. So seltsam das klingen mag: Es fühlt sich einfach gut an in kurzer Hose zu laufen, auch wenn mir der Frost schmerzhaft in Gesicht und obere Extremitäten „beißt“.

Jetzt zieht es wieder „wie Hechtsuppe“ und zwar genau von vorn. Ich steuere auf Egglfing zu, jenen Ort in dem ich vor 30 Jahren kurzzeitig wohnte. „Herr Schneuz“ hat sich wieder ein paar Schritte abgesetzt. Von nun an wird die Distanz zwischen uns langsam, aber stetig wachsen. Am Ortsausgang von Egglfing tauchen wir per Fußgängertunnel unter der Staatsstraße durch. Die zwanzig Meter Anstieg hinter der Röhre gehen schon merklich in die Beine. Die Waage zwischen Bangen und Hoffen bekommt noch mehr negative Neigung. Vielleicht fragst du dich zum wiederholten Male, „warum läuft er denn nicht langsamer, wenn die Gefahr einzubrechen so groß ist?“ Ein paar Gründe am hohen Tempo festzuhalten hab ich bereits dargelegt. Ein weiterer findet seinen Ursprung in zwei total widersprüchlichen Erfahrungen aus mehr als dreißig solcher Langdistanzläufe. Eine umfasst jene Empfindungen, die mir anzeigen, dass ich zu schnell unterwegs bin. Deutlicher beschreiben kann ich dieses von gewissen Symptomen begleitete Überlastungsgefühl nicht. Dem widerspricht die Erfahrung von Prag, Regensburg, Venedig, und anderen scharf gelaufenen Wettkämpfen. Teils musste ich dort schon nach 10 Kilometern heftig kämpfen, um den Energiestrom aufrecht zu halten. Obschon mein Laufgefühl mir minütlich einen Misserfolg suggerierte stand am Ende das glückliche Finish, fand der Einbruch nicht statt. Der Grat zwischen zu schnell und gerade noch machbar ist verdammt schmal. Darum: Wer kämpfen kann, der kämpft und glaubt trotz wachsender Müdigkeit an den Erfolg …

Die letzten Meter der ersten Runde: Ich schwenke auf die Zielgerade, werde von schussbereiten, langläufigen Fotokanonen erlegt und wähle links den Durchlaufkanal für die Marathonis. Just beim Passieren der Ziellinie holt mich im benachbarten Einlaufkanal ein Halbmarathoni ein. Nach unwillkürlicher Blickwendung bekomme ich mit, wie er im Endspurt lautlos die Arme zum Zeichen seines persönlichen Sieges hochreißt … Ein bisschen Sehnsucht, es ihm in gut anderthalb Stunden gleich zu tun, nehme ich mit auf die zweite Runde.

Blick zur Uhr: Aufgerundet 1:36h lese ich da. Verdoppeln kann jeder und findet auf diese Weise zu denselben Schlussfolgerungen: Erstens bin ich auf den letzten Kilometern schon etwas langsamer geworden, was auch die ungefähr hundert Meter Rückstand auf „Herrn Schneuz“ erklärt. Dieses „Erstens“ lässt „Zweitens“ an mich heran: Es wird schwer werden die 3:15h zu schaffen! An Besseres zu denken bringe ich auch noch zustande, das ist dann aber jeweils von völlig irrationalen Hoffnungen begleitet. So was wie ein „plötzliches Erschließen brach liegender Kräfte“ oder das berühmte „Runners High“. Doch in keiner dieser metaphysischen Sphären durfte ich mich je bewegen.

‚Was willste eigentlich? Vor und hinter dir läuft kaum jemand, so flott biste unterwegs! Und das ohne völlig ausgeruht zu sein und sechs Wochen nach Beginn eines zwar umfangreichen, aber durchaus unspezifischen Trainings. Das ist doch toll!’ - Sicher ist es das. Nur verfängt diese Psychoeigenmassage nicht nachhaltig, wenn die Bewegungen sich bereits leicht unrund anfühlen, man nach dem nächsten Kilometer wieder ein paar Sekunden Rückstand hinnehmen muss und zu allem Überfluss die zweitplatzierte Frau „wie nix“ und „gazellenfüßig“ an einem vorbei springt. „Zweite Frau im Feld.“ Irgendwer hat’s ihr zugerufen und es scheint sie zu motivieren. Unwiderstehlich zieht sie davon. Was ich in diesem Moment noch nicht weiß: Sie wird den Lauf gewinnen!

Der Vorgang wiederholt sich fortan hinter beinahe jeder Kilometermarke: Die Uhr meldet, dass ich gegenüber meiner ursprünglichen Zeitrechnung zu langsam bin und so beschleunige ich meine Schritte. Manchmal funktioniert das ganz gut, vermutlich weil ich just in einem Abschnitt mit minimalem Gefälle renne. Dann keimt Vertrauen auf ein triumphales Ende. Jeweils ein Strohfeuer für einige Sekunden, dem wieder der langsamere Trott folgt. Die Uhr beweist es einen Kilometer später und neuerlich treibe ich mich an … Dass „Schneuz“ nur noch manchmal und sicher bald einen halben Kilometer vor mir zu sehen ist, wirkt auch nicht gerade anspornend. Sei’s drum! Noch laufe ich und trotz allen Unkens sogar recht schnell. Wie überhaupt der Eindruck bei meinen Lesern aufkommen könnte, neben dieser Unbill wäre kein schönes Lauferlebnis möglich. Heftiger Widerspruch! Im Grunde genieße ich es, laufend an diesem milden, überaus sonnigen Februarmorgen in dieser reizvollen Landschaft unterwegs zu sein.

Die manchmal so „unerträglichen“ Kilometer zwischen zwanzig und dreißig, wenn der Körper schon längst „Katastrophenalarm“ auslöste und das Ziel noch Lichtjahre entfernt scheint, heute fliegen sie einfach so vorbei. Einmal stelle ich erstaunt fest, schon „26“ zu lesen (oder war’s „27“?). Dessen ungeachtet wird der Kampf immer heftiger, mein Bewegungsapparat schwerer. Es fühlt sich langsamer an, als ich tatsächlich laufe. Warum ist das so? Die gefühlte Müdigkeit redet mir Schneckentempo ein. Heute kommt mir der Gedanke, dass da noch ein weiterer Umstand mitwirkt. Ich horche immer wieder ein paar Schritte in mich hinein, registriere meine Bewegungen. Welche Sensoren das auch sein mögen, sie künden von unsauber, nicht völlig kontrolliert ausgeführten Bewegungsabläufen. Dieser schlechte „neurologische Befund“ verstärkt die Wahrnehmung von „Schneckentempo“. Auch ohne wissenschaftlichen Beweis bin ich mir dessen sicher - hier zwischen Aigen und Irching oder Holzhäuser und Egglfing …

„Nobody ist perfect!“ - Auch du nicht Petrus, sonst bliese mir nicht dieser beständige Schwall immer noch eisiger Luft ins Gesicht. Der Wind stemmt sich gar mit noch etwas mehr Gewicht entgegen, als beim ersten Durchgang. Die Tafel mit der „32“ liegt hinter mir. Noch reichlich zehn Kilometer! Hochrechnung: Ich addiere 48 Minuten (45 für die ursprüngliche Pace, 1 Minute für die letzten 195 Meter vorm Ziel und 2 Minuten Verlust …) zur Anzeige der Uhr und bin bei … 3:15h. Was bedeutet das? Ganz einfach: Wenn ich zum Schluss richtig einbreche, wird’s ’ne Zwanziger Zeit und damit wär’ ich nicht zufrieden. Die 3:15h sind nur zu schaffen, wenn es beim „schleichenden Siechtum“ bleibt. ‚Lauf! Das packst du! Lauf einfach!“ - Und wieder werde ich für etliche Schritte schneller und verschaffe mir damit Hoffnung.

Von meiner Ernährung muss ich noch schnell berichten, bevor mich das Ziel alles vergessen lässt: Ich hab doch diese vier Gelbeutelchen in der Gesäßtasche. Von vorneherein war klar, dass es mit Handschuhen schwierig sein würde, den Reißverschluss der Tasche zu öffnen. Drum hab ich den gleich offen gelassen. Das Fingern nach dem Beutel war so erträglich, ebenso das Abreißen der Verschlusslasche mit den Zähnen. Das Zeug möglichst vollständig in den Mund zu pressen, gestaltete sich in Handschuhen als wahrer Dressurakt, den ich weder virtuos noch zirkusreif zustande brachte. Wirklich nervig war jedoch, dabei unkonzentriert und kurzatmig den Laufrhythmus zu verlieren. Zweimal vermieste ich mir auf diese Weise den Lauf. Die letzten beiden Kraftportionen erreichten daher unangetastet das Ziel. Was mir die lächerlichen paar Kalorien an Tempokonstanz bescherten, vermag ich nicht einzuschätzen, wohl aber die verlorenen Sekunden bei dieser vermaledeiten Art der „Nahrungsaufnahme“. Fazit: Nie wieder Gelbeutel mit Handschuhen!

Noch 7, noch 6 Kilometer: Immer wieder steht am Ende der Gleichung 3:15h! ‚Bleib dran! Lass nicht nach!’ Aber es wird mit jedem Schritt härter. Das Leiden hat längst begonnen. In solcher Minute hilft die Gewissheit leiden zu können. ‚So oft hast du das schon erlebt und ausgehalten und immer bis zum Schluss! Es geht! Es geht!’ Egglfing in Sicht, noch drei Kilometer. Von unten kommen zunehmend schmerzhaftere und dramatischere Signale. Zugleich habe ich das Gefühl mein eigenes Laufen immer weniger kontrollieren zu können. Die Einheit von Wollen und Können zerbricht. Der Prozess „Laufen“ hat seine Selbstverständlichkeit eingebüßt. Ich muss mit aller Macht schnelles Laufen von mir fordern, bewusst und willensstark daran denken. Diese Anweisung schicke als Impuls nach innen. Dort wird er aufgefangen und umgesetzt. Die Beine bewahren das Tempo. Wie lange noch?

Die letzten Tränken habe ich ignoriert. Wasser brauchte ich keins, ich schwitzte wenig. Und „Iso“ gab’s nicht, als ich es gebraucht hätte. In Egglfing strecken sich mir die letzten Hände mit Bechern entgegen. ‚Nicht für mich, jetzt nicht mehr, weiter, weiter, …’ Hinter der Fußgängerröhre, am Ende der jetzt hypersteilen Rampe steht ein freudig erwartetes Schild: „40 km“! Nur noch zwei winzige Kilometerchen, wenig mehr als nichts, im Training Ein- und Auslaufdistanz. Sie geraten mir zum irdischen Fegefeuer. Für Sekunden lenkt mich ein Überholmanöver ab. Ich passiere eine Dreiergruppe mit orange-bedresster Läuferin. Zweierlei Erkenntnis dringt noch durch: Diese Amazone führte des Feld der Frauen lange an, brach ein und wurde irgendwo von jener „Gazelle“ überholt, die mir kurz nach der ersten Runde ihre Fersen zeigte. Zweite Schlussfolgerung: Ich bin gar nicht langsam. Langsam ist anders, in etwa so wie das Tempo dieser drei, an denen ich jetzt geradezu „pfeilschnell“ vorbei ziehe. Das schiebt! Und wie das schiebt! Und wie sehr ich das jetzt brauche im Fegefeuer! Die Beine sind dick und butterweich zugleich. Das selten so brutale Empfinden von Schwäche breitet sich in Sekundenschnelle im ganzen Körper aus. ‚Komm! Reiß dich zusammen! Höchstens noch anderthalb Kilometer!’

Ich gebe jetzt alles, letzte Reserven, die mir willentlich zugänglich sind. Rücksichtslos peitsche ich mich Richtung Ziel. Andere Interessen, zum Beispiel das Wissen in der kommenden Woche wieder intensiv trainieren zu wollen, völlig ignorierend. Quälend langsam wird das braune Täfelchen größer: „41 km“. Die letzte Hochrechnung: Die 3:15h sind mir sicher. Nur nicht umfallen! Nur noch tausend Meter, nur noch durch diese Häuser, dahinten sehe ich schon das Johannesbad und weiß das Ziel davor. Ich gebe Gas. Mit weichen Beinen, trotz wachsenden Schwächegefühls, gebe ich noch mal Gas. ‚Jetzt schütten die Muskeln mehr Laktat aus’ denkt es in mir und zugleich frage ich mich woher so überflüssige Feststellungen kurz vor dem Zusammenbruch rühren mögen. Eine letzte 90°-Linkskurve, zweihundert Meter bis zum Ziel. Seit ein, zwei Minuten fühle ich eine nicht lokalisierbare Übelkeit in mir aufsteigen. Nicht dramatisch, aber konkret. Egal jetzt, die letzten Meter, nichts kann mir diesen Sieg mehr nehmen … Links erkenne ich Ines mit der Kamera, lächle ihr zu, hebe sogar die Hand, bin vorbei und … im Ziel. Geschafft! Wunderbar! Und schon baumelt auch die Medaille um meinen Hals.

Ich wende mich ein paar Schritte abseits und dann vollzieht sich ein brachialer Überfall. Mehrmals, bald eine Minute lang, schafft es mein Körper drei Funktionen absolut zeitgleich auszulösen, die unter normalen Umständen gar nicht synchron ablaufen können. Ich niese, huste und würge in einem Aufbäumen! Virtuos, zirkusreif, aber beileibe nicht sehenswert.

 

Ergebnis: 3:15:11, Platz 51 von 268 Finishern, Platz 2 in M55 von 18
Runde 1: 1:35:25
Runde 2: 1:39:46

Ines beim 10 km-Lauf

Ines geht es gut, nein eher supergut! Abwechslungsreiche, schöne Landschaft, frische, klare Luft und Sonnenschein machen Laune und ihr Beine ... Auf dem Schlussteil der Strecke überholt sie Läufer um Läufer. Trotz Trainingsrückstand und damit unwartet bleibt sie unter einer Stunde. Bad Füssing ist auch für einen 10 km-Lauf eine kleine Reise wert.

Ergebnis: 56:38, Platz 125 von 230 Läuferinnen, Platz 22 in W35 von 31

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