Leiden und Erleben  -  Alb Marathon Schwäbisch Gmünd 2008

Hab ein bisschen rumgetrödelt. Erst drei Minuten vor 10 Uhr finde ich meinen Platz in dichtem Gedränge. Stehe seitlich versetzt, dafür keine fünfzehn Meter hinter der Startlinie. Nettozeit gibt’s heute keine, aber wen „kratzen“ ein paar verlorene Sekunden, wenn 50 Kilometer und 1.080 Höhenmeter zu bewältigen sind? Rasch fotografieren; Forerunner auf „00:00:00“; will für Sekunden Stimmung aufsaugen … Es bleibt beim Versuch. „Sind Sie auch Läufer?“ bohrt sich eine schwäbelnde Stimme mit Schärfe in mein Ohr. Ich beschränke mich auf ein knappes „Ja!“ statt die Dame zu fragen, welchen Grund mein hochsommerlicher Auftritt bei höchstens 3°C an einem Oktobersamstagmorgen sonst haben könnte. „Hier ist der Walker Start! Läufer stehen dort drüben!“ meint das resolute Weibsbild anklagend. Ihre Tonlage lässt erkennen, dass sie auch sonst im Leben „klare Ansagen“ macht. Verdutzt mustere ich zunächst meine Vorderleute: Allesamt Läufer. Blicke flugs zur Mitte des Marktplatzes mit versammeltem Hauptfeld, von dem mich ein paar unüberwindliche Absperrungen trennen. Suche überdies irgendwelche Hinweistafeln, die die behauptete „Aufstellordnung“ verlangen, finde jedoch keine. Fazit: Hinüberwechseln geht gar nicht, wäre zudem blanker Unfug. Wie sollten Läufer, die vor den Walkern stehen, jene behindern? Der geht’s ums Prinzip, um Ordnung der Ordnung zu Liebe. Meine Entgegnung klingt nach Schuldeingeständnis, im Grunde kann sie mir gestohlen bleiben: „Wie soll ich da jetzt noch rüber kommen?“ Was mir Augenblicke später auf der Zunge liegt, wird sie nie erfahren. Und meine Leser auch nicht, weil wohlerzogene Läufer in gesetztem Alter dergleichen auf keinen Fall aussprechen …

Schon wieder eine Anordnung! Im „Ländle“ haben sie’s mit der Ordnung: „Los! Alle zählen die letzten Sekunden mit!“ Meine Seele „mordet“ grad noch jenes mit Stöckchen bewehrte Individuum hinter mir, verweigert den Zählbefehl komplett. Und ab! Langsam strömt die Masse durchs Starttor, erste, von Stockungen mehrmals gehemmte Laufschritte gelingen. „Das reißt ja gar nicht mehr ab!“ meint einer der Zuschauer fünfzig Meter nach der Startlinie. Offensichtlich wohnte er noch nicht vielen Massenstarts mit rund 900 Läufern bei, ist vom vorbei flutenden Feld beeindruckt. Zwei Drittel gehen auf 50 km-Kurs, die restlichen werden bei der halben Distanz aussteigen.

Kilometer 1 und 2 sehen uns auf weitgehend unbelebten Schwäbisch Gmünder Straßen. So könnten sich allenfalls Mitläufer über meinen etwas widersprüchlichen Aufzug wundern: Trägershirt über kurzärmligem Unterhemd, Kurztight, dazu Handschuhe aus Fleecematerial. Ein paar Mal war ich schon versucht mich in langärmliges Zeug zu hüllen, um es damit der Mehrheit im Feld gleich zu tun. Aber harte Anstiege drohen und die Sonne wird sich mühen mir einzuheizen. Andererseits fror ich oft noch an den Händen, wenn bereits Ströme von Schweiß über den Rücken rannen. Die ersten Kilometer geben mir Recht, ich fühle mich exakt richtig angezogen.

Durch ausgestorben wirkende Wohngebiete auf hübschen Ahornalleen verlassen wir die Stadt in westlicher Richtung. Ein Hof mit Pferdekoppeln bildet die letzte Ansiedlung, bevor uns empfindliche Kälte im nahen Wald empfängt. Auf diesen Metern überholt mich ein gelb-schwarzer Läufer. Zunächst kann ich seinen neugierig musternden Seitenblick nicht einordnen. Seinem freundlichen „Hallo!“ begegne ich mit ebensolchem Gruß, bestimmt mit ein wenig Verwunderung in der Stimme. Schritte später verstehe ich. „Team TOMJ, Augsburg“ steht auf seinem Rücken. Also wollte er das Konterfei des im Dress der „TG Viktoria Augsburg“ laufenden Mannes sehen. Und wenn man in ein Gesicht blickt, kann man schwerlich auf einen Gruß verzichten.

Der Waldweg macht Laune mit herbstlichen Farben und gutem Untergrund. Erste sanfte Wellen gilt es zu überwinden. Kein Problem, ich fühle mich ausgeruht und voll aufgetankt. Um die 5 min/km pendelt mein Tempo auf diesem Abschnitt. Die erste Kilometertafel entdecke ich bei Kilometer 3. Die alte Geschichte: So lange man nicht weiß wie sie aussehen, übersieht man die Markierungen. An- und abschwellend dringt Fahrzeuglärm durch die Baumreihen rechts von uns. Eine Waldschneise erlaubt den Blick auf die vierspurig ausgebaute, stark befahrene Bundesstraße 29. Ich horche in mich hinein, versuche im leichten Auf und Ab der Anfangskilometer Trainingszustand und Tagesform zu taxieren. Vier kapitale „Buckel“ gilt es zu bezwingen, bei 17, 25, 30 und 35 Kilometern. Kein Fehler wäre da fataler, als auf den leichten Anfangskilometern übermäßig Kraft zu investieren.

Vom Waldweg biegen wir auf ein Waldsträßchen ab. Durchaus willkommen, denn Asphalt spart Energie und ab jetzt geht es sanft, aber unablässig aufwärts. Am ersten Versorgungspunkt trinke ich schwach gesüßten Tee. „Iso“ wäre mir lieber, gibt’s aber nicht. Mein Verpflegungskonzept für heute ist schnell umrissen: Je ein Beutel Energiegel bei 0, 10, 20, 30 und 40 Kilometern und zur Verdünnung Wasser. Dazwischen nach Möglichkeit isotonisch. Vom Diktat knapper Budgets einmal abgesehen, fehlt mir jegliche Erklärung für die häufig zu beobachtende, unzureichende „Bestückung“ der ersten Verpflegungsstationen. Energie und Körperwasser verliert der Läufer vom ersten Meter an. Schon die Zeit vor dem Start und die erste Laufstunde sind entscheidend, um bestmöglich „nach zu tanken“. Vielen Freizeitläufern mag dieses Wissen fehlen, bei Veranstaltern sollte man es allerdings voraussetzen. Vor allem, wenn sie ihre „Klienten“ über 50 km und mehr als 1.000 Höhenmeter schicken …

Aufwärts, immer weiter aufwärts, Tempo vorsorglich reduziert. Nun werde ich Zeuge eines sympathischen Dialogs. Die beiden unterhalten sich auf Hörweite hinter mir, nähern sich langsam und ich verstehe kein Wort. Auf Italienisch scherzend ziehen sie rechts und links an mir vorbei. Warum sympathisch? Weil ich Italiener mag und in die ausdrucksstarke Melodie ihrer Sätze geradezu vernarrt bin. Außerdem genoss ich bereits mehrfach die Gastfreundschaft italienischer Marathons. Nicht immer ist alles so perfekt und spektakulär aufgezogen wie in Rom, doch ausnahmslos stimmt die Einstellung bei Aktiven, Zuschauern und Veranstaltern. Und für dein Startgeld schütten sie dich zu mit Betreuung, Verpflegung und Erinnerungsstücken. Letzte Sätze sind gewechselt, das italienische Tandem trennt sich, der Jüngere zieht davon, der kleinwüchsige Ältere bleibt kilometerweit in meinem Blickfeld …

Dünne Rinnsale von Schweiß ziehen glänzende Streifen über den kahl rasierten Schädel, versickern im Nacken unter dem Laufshirt. Langärmlig, ganz in Schwarz gekleidet, gibt er mir die Sicherheit mit entblößten Armen heute richtig zu liegen - anfänglichem Frösteln zum Trotz. Und wenn mir die Handschuhe lästig fallen, stecke ich sie einfach in die Hose.

In Höhe eines einsamen Gehöfts öffnet sich der Wald, erstmals ist zu erkennen, dass wir in einem Tal aufwärts traben. Unbelebte Weiden - Pferdekoppel links, Elektrozaun rechts - werden nach Minutenfrist wieder von dichtem Wald abgelöst. Der ist keineswegs eintönig. Mal unterhält er mit herbstlichen Farben, hie und da von frühen Sonnenstrahlen zum Leuchten gebracht. Anderenorts rankt sich wilder Efeu an schlanken Stämmen gen Himmel. Dann das pinkfarbene Täfelchen mit der „10“ und ein gespannter Blick zur Uhr: 51 Minuten sind um. Unwillkürlich kommt mir ein vorhin aufgeschnappter Gesprächsfetzen in den Sinn. „Seinerzeit lief ich die ersten zehn Kilometer in 50 Minuten. Das war eindeutig zu schnell!“ meinte einer zu seinem Nebenmann. Was ist mit mir? Bin ich auch zu schnell? Diesen Anstieg nehme ich mit etwa 5:20 min/km. Zu heftig? Zweifel waren in vielen meiner Wettkämpfe Dauergast, auch bei einfacheren Aufgaben. Deutlich steht mir der im Vorjahr „vergeigte“ Voralpenmarathon in Kempten vor Augen: Knapp 46 km, mit etwas mehr Höhenmetern als heute und einigen brutalen Hängen gewürzt. Für meine damalige Tagesform lief ich erheblich zu schnell an, rieb mich an den Anstiegen auf und „kroch“ als Häufchen Elend über die letzten Kilometer. Das darf sich nicht wiederholen!

Der Wald ist zu Ende und entlässt uns auf eine in der Sonne liegende Hangwiese. Darüber thront klein und ein bisschen klotzig eine … ein … ja was eigentlich? Für eine Burg zu klein, für ein Schloss zu grobschlächtig gestaltet. Aber „sehr alt“ ist die Anlage auf jeden Fall. Wir traben langsam unterhalb vorbei und bald ist das Gemäuer meinen Blicken entzogen. Wie so oft, bringt erst anschließende Internetrecherche Aufschluss: Es handelt sich um „Schloss Wäscherburg“, möglicherweise Stammsitz des Kaisergeschlechts der Staufer.

Im Augenblick „himmelwärts“ strebend und ziemlich „erdverbunden“ sind andere, denn geschichtliche Fakten wichtig: Zum Beispiel das Ortschild „Wäscherhof“, hinter dem das vorläufige Ende dieser „ewigen“ Steigung winkt. Überdies lockt ein weites, von der Sonne durchflutetes Alb-Plateau. Hinter den letzten Häusern des Dorfes erfasst mich der nächste, höchst italienische Moment dieses Laufes: In leicht geschwungener Linie, entlang des Radweges, reiht sich eine Kette ziemlich „toskanisch“ anmutender Baumgestalten. Und linkerhand, hinter Morgendunst und gleißendem Licht verborgen, ahne ich eine Hügelkette. Südländisches Flair wohin man blickt. Allein die herrschende Kälte will mit meinen Erinnerungen keine Verbindung eingehen.

‚Wir könnten schneller laufen!’ schlagen meine Beine vor. Ein wenig lasse ich sie gewähren, es macht ihnen Spaß in dieser herrlichen Umgebung zu laufen, zudem verführt nun der Kurs mit leichtem Gefälle. Tief stehende Morgensonne und letzte Nebelschleier verleihen der Landschaft eine zauberhafte Wirkung. Ich will mehr davon sehen, viel mehr!

Erste ernsthafte Buckel holen mich runter von „Wolke sieben“. Wieder ganz „erdverbunden“ kämpfe ich mich auf schmalem Betonsträßchen vorwärts. Das beschreibt eine weite S-Kurve zwischen Wiesen und frisch gepflügten Feldern. Dann und wann ein Obstbaum mit letzten, halb welken Blättern, voraus ein weiteres Wäldchen. Zwei Reiter kommen entgegen, nutzen Feldrain und Wiese, gewähren den Läufern Vorfahrt. Ein kleines, dickes Etwas hetzt hinterdrein. Größe und Fellzeichnung weisen das kugelige Wesen als Jack Russell Terrier aus, andere Rassemerkmale gehen in Fettleibigkeit unter. Pure Tierquälerei, wenn man mich fragt …

Kilometer 15: Dort vorne wartet der erste Berg, der Hohenstaufen! Kein Zweifel. Aus dieser Entfernung sieht er harmlos aus, nicht mehr als eine Kuppe mit Bäumen drauf. ‚Wird schon nicht so schlimm werden!’ Meine heutige Grundstimmung und der Naturrausch rings umher lassen nur Positivdenken zu. Noch immer auf der Betonpiste aufwärts. Dann links ab auf grasigem Hang steil bergwärts. Hunderte Füße waren vorher da, haben den schmierigen Pfad ausgetreten. Ein ums andere Mal rutsche ich weg. Weiche seitlich aus, muss an gehenden Läufern vorbei, finde festeren Halt auf Gras, tippele, steppe nach oben. Kraft ist da, kein Problem. Waldsaum erreicht, der Weg wird besser, hohe Bäume, Laub unter den Füßen, fester Halt, Puls beruhigt sich ein wenig … Rauf, rauf, rauf. „Links laufen!“ steht auf dem Schild, denn Läufer kommen entgegen. Ein offensichtlich gnadenloser Streckenplaner jagt uns per Wendeschleife auf den Gipfel. Links tragen mich Trippelschritte bergan, rechts rast man in weiten Sätzen zu Tal. Links Keuchen, rechts entspanntes Atmen. Links Ströme von Schweiß, rechts höchste Konzentration, ein Fehltritt hätte schlimme Folgen. Schon dringt blauer Himmel durch kahle Äste, noch eine Serpentine, gleich geschafft. Es geht, mein Puls bleibt unter Kontrolle. Bin oben, der Weg wird flacher, voraus bildet ein dicker Baumstamm den Wendepunkt.

Wetze drum rum, schnappe mir heftig atmend einen Becher Trinkbares. Der Puls beruhigt sich nur langsam. Becher zum Mund, schütten und verschütten, nur ein Teil kommt im Magen an. Abwärts. Aufpassen! Der Weg ist brauchbar, aber Stolpertücken lauern immer. Trotzdem wage ich es ein paar Fotos zu schießen. Kann halt nicht anders. Jetzt kommt der Abzweig, wir müssen in spitzem Winkel abbiegen. „Vorsicht! Ich überhole links!“ tönt es just an dieser Stelle. Ich weiche aus, bekomme fast die Kurve nicht, stochere mit dem rechten Fuß am Abhang, drei, vier Schritte lang drohe ich abzurutschen, fange mich gerade noch ab. ‚Dämliches Überholmanöver! Dem nächsten Heini weiche ich nicht aus! Soll sehen wie er vorbei kommt!’

19 Kilometer gelaufen, der Hohenstaufen liegt hinter mir. Die Route verläuft auf weithin sichtbarem Höhenrücken. Daraus aufschießend, vielleicht drei Kilometer entfernt, unsere nächste Prüfung, der Rechberg. Zunächst moderat abwärts mit Gelegenheit zur Erholung, dann und wann treibt eine Hügelkuppe den Puls in die Höhe. Das beruhigende Gefühl ausreichender Energiereserven hält an, wenngleich mir der Hohenstaufen heftig in die Beine fuhr. Bergab meckerten die Knie, besonders das rechte. Das ist weniger beunruhigend, als erstaunlich, kenne es nicht in dieser Form. Also beobachten! Sorgenvolles Grübeln hat heute keine Chance. Ständig drehe ich den Kopf, schaue, sauge auf, genieße, kann die herrlichen Bilder kaum fassen. Ein grandioser Herbsttag in einer unvergleichlich schönen Landschaft. Mein Tempo? Keine Ahnung, ich schaue nicht mehr zur Uhr. Welchen Sinn sollte das haben in diesem Profil? Solche Abschnitte läuft man nach Gefühl; am Ende bricht ein, wer keins hatte oder einem trügerischen vertraute …

Kilometer 22: Vor mir liegt der Rechberg, eine wieder ziemlich harmlos wirkende, von Laubwald gekrönte Erhebung. Die ersten Häuser eines Ortes ducken sich an den Hang. Diesmal nehmen wir ihn nicht frontal, umlaufen ihn fast einen Kilometer zu seinen Füßen. Der Gipfelsturm beginnt mitten im Ort. In spitzem Winkel abbiegend, zunächst sanft nach oben. Vorbei an einer Blechbläser-Trommler-Gruppe. Entsetzlich! Ohrenbetäubend! Grässlich wie das scheppert und schauerliche Dissonanzen sind unüberhörbar. 24 Kilometer vorbei. Auf bestem Asphaltsträßchen mache ich geradezu spielerisch Höhenmeter gut. Eine Burganlage unweit voraus weist den Weg. Anwohner scherzen, halten ein Plakat: „Noch 80% Steigung“. Kann mir keinen Reim drauf machen - noch nicht. ‚Ist doch „easy“ hier rauf zu traben!’ Ein Buchenwald, schon aller Blätter ledig, säumt den weiteren Weg. Der Gipfel scheint nicht mehr weit. Dann bleibt die Burganlage querab zurück, der Weg schwenkt scharf nach rechts und … wird steiler. Vor mir gehen alle. Ich nicht. Will nicht. Schritte schrumpfen zu Schrittchen - zum Glück auf Asphalt. Kein Problem also, aber doch heftig. Ich nähere mich dem höchsten Punkt, mein Puls auch. Ich passiere Stationen eines Kreuzweges, das lange Leiden vor der Kreuzigung: „Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern.“ Wie sinnig! Noch mehr Steigung, die Fersen hängen in der Luft. Es tut jetzt weh. Aber Kraft ist da, kein Grund zur Besorgnis. Beißen! Das 25 km-Ziel schiebt sich ins Blickfeld, mit ihm das Versprechen flacheren Terrains.

Geschafft! Bin oben! Berg zwei gehört mir. Halbzeit bei 2:17h. Vorbei an einer Kirche (Wohin sonst sollte ein Kreuzweg führen?), einem gehenden Läufer auf den Fersen. Der marschiert auf den Friedhof zu, spürt einen Verfolger im Nacken und erkennt dessen Fehler. „Da lang! Da geht’s lang!“ ruft er und weist mir den Weg. Der führt vorm Friedhof auf einen Pfad und alsbald brachial in die Tiefe. Das sind Abstiege wie ich sie fürchte. Unmöglich in derart steilem Gelände Zeit gut zu machen. Bremsen, nur bremsen. Die Beine verrichten ungewohnte Arbeit. Meine Knie schreien vor Schmerz. In diesen Minuten wandelt sich Vermutung zur sicheren Erkenntnis. Die leichten Knieprobleme der letzten Wochen sind meinem Bergtraining geschuldet und zwar ausschließlich dem jeweiligen Runterweg. Jedes Mal zwischen 600 und 800 Höhenmeter innerhalb kurzer Zeit. Das war ein Fehler, den ich jetzt büße. Ich bremse, um nicht zu straucheln. Ich bremse aber auch, um die Schmerzen unter Kontrolle zu halten. Fünf Minuten, dann ist der Spuk vorbei, das Gelände wird flacher und die Knie spielen wieder mit.

Viel Zeit zur Erholung bleibt nicht, Berg Nummer drei, der Stuifen, wölbt sich bereits über grüne Grasrücken. Zuversicht und Kraft sind ungebrochen. Das tolle Wetter, die satten Farben wirken daran mit. Der gelb-schwarze Augsburger Läufer vom Team TOMJ schiebt sich gerade mal wieder vorbei. Seine Verpflegungsstopps dauern länger, außerdem nimmt er steile Anstiege gehend, holt dafür in flacherem Gelände wieder auf. Zwei Läufer, zwei Taktiken. Welche wird gewinnen?

Kilometer 28: Bin am Fuß des Stuifen. Der Aufstieg wird eine Weile vertagt. Zunächst umrunden wir den Berg, schauen weit hinaus auf das in nördlicher Richtung vorgelagerte Schwabenland. In Senken eingebettete Ortschaften, der Horizont verschwimmt im Dunst, ein Traum in Grün und Blau, keine Zeit bevorstehende Härte zu fürchten. Abrupt endet die Träumerei, der Aufstieg beginnt. Vom Weg wechseln wir auf einen Pfad. Unangenehm: Wurzelwerk bricht den Rhythmus, treibt den Puls nach oben. Aber es geht, ich pack das. Vom Pfad auf schlechten Waldweg. Räder von Traktoren zogen tiefe Furchen. Auf der Internetseite stand was von „abschnittsweisem Cross-Charakter wegen Waldarbeiten“. ‚Wird schon nicht so schlimm werden!’ - Wird es dann aber doch. Über selten benutzte, schmierig pappige Pfade aufwärts. Ich lasse Unmengen von Energie. Rutsche, gleite, stolpere, steppe, keuche voran. Es tut so weh. Leiden pur. ‚Halt durch! Der Sch…buckel ist bald vorbei!’ Cross ist meine Sache nicht. So viel steht mal fest. Hohe Atemfrequenz, Puls rast, Füße schlingern. Rauf, rauf, rauf. Es will kein Ende nehmen. Ich hab jetzt Angst. Angst davor gleich gehen zu müssen. Ich kämpfe dagegen an, gebe alles. Und immer wieder dieses vermaledeite Wegrutschen auf glitschig feuchtem Grund. Vorbei an einem Läufer - nein Geher. Und noch einer. Immer höher wölbt sich die Kuppe vor mir. Will da rauf, muss da rauf … Unerbittlich scheint der Streckenplaner. Geplante Folter. Blut rauscht im Kopf … Und dann ist es plötzlich vorbei. Der Weg wendet sich nach links und leicht abwärts, bleibt aber rutschig. Noch ein Stück Wendestrecke! Läufer kommen entgegen. Was soll das denn? Trassenband trennt Hin und Her. Fünfzig Meter, bis zu einem Aussichtsplateau. Diesmal bildet eine Grillstation die Wende. Außer Atem registriere ich einen Offiziellen der Startnummern vorliest. Er spricht in ein Diktaphon und zur Sicherheit schreibt ein Zweiter mit.

Runter, runter, runter. Zum dritten Mal geht’s unbarmherzig steil nach unten. Ich kann nicht laufen, wie ich möchte, muss Schritte finden, die meine Knie vertragen, verliere Zeit. Egal. Weiter. 31 Kilometer sind geschafft und der letzte Berg ist nur ein „Hopser“. Das macht Mut. Zurück in der Sonne, zwischen Wiesen, in sanfterem Auf und Ab. Was ist mir Laufen heute? Leiden in herrlicher Landschaft, Erleben inmitten wunderschöner Natur. Grad noch mehr das eine, jetzt wieder schon wieder das andere.

Der dritte Buckel hat mich gebeutelt. Das so verlässlich scheinende Gefühl von Stärke ist verschwunden, aufgerieben am Stuifen. Ich hänge durch, ziemlich sogar, muss mich jetzt auch in ebeneren Passagen mühen. „Gegenverkehr“ auf schmalem Asphaltband, wieder eine Wendeschleife, diesmal länger angelegt. Warum sehen diese schnellen, asketischen Typen alle so frisch aus und ich fühl mich zerschlagen? Egal. Ich pack das! ‚Mein Gott, ist das schön hier!’ Trotz Schwäche vermag ich mich dem Reiz dieses Fleckchens Erde nicht zu entziehen. Kilometer 33: Leicht abschüssige Straße, von rechts, aus dem Wald streben schnellere Läufer auf Gegenkurs vorbei. Ein, zwei Kilometer weiter, nach vollendeter Schleife, werde ich selbst aus dieser Richtung kommen. Einstweilen geradeaus, immer noch mit leichtem Gefälle. Und nun nach rechts auf einen steinigen Weg und … wieder rauf. Alle gehen. Nur der selbstquälerisch sture Udo demonstriert Unbeugsamkeit, meint hier laufen zu müssen. Manchmal hasse ich den Kerl. Hühnereigroße, lose Steine bohren sich mit ihren Ecken in die Sohlen, spielen den Füßen übel mit. Der Sch…weg wird immer steiler. Ich bleibe auf den Ballen, steppe, eiere nach oben, werde immer langsamer. Wie egal mir die Landschaft jetzt ist. Nichts ist mehr schön. Tortur pur. Rauf, will rauf. Nur das. Hoffnung: Noch dreißig Meter. Ist das jetzt wirklich so steil oder bin ich schon so kaputt? Noch zehn Meter. Flacher, der Pfad wird flacher. Weniger Steine, leichteres Traben. Erholen, tief atmen, Puls runter. Traben. Mein Innenleben normalisiert sich, mein Lauf verdient diese Bezeichnung wieder. Leiden ebbt ab, erleben ist wieder möglich: Ein knorriger, alter Baum bringt mich sogar zum Stehen. Ich drehe mich um und warte einen Moment, bis ich einen Mitläufer unter den ausladenden, dick bemoosten Ästen ablichten kann. Sch… auf die verlorenen Sekunden! Seit hunderten von Jahren steht dieses staunenswerte Exemplar von einem Baum an dieser Stelle. Was wiegen dagegen ein paar verschenkte Laufsekunden?

Eine Weggabelung. Was ist das jetzt wieder? Am Streckenposten müssen wir nach links. Aus dieser Richtung kommen Läufer entgegen. Eine Wendeschleife in der Wendeschleife! Nach etwa fünfhundert Metern zirkele ich um eine Wendemarke und renne zurück, erreiche die Wegegabel ein zweites Mal. Jetzt endlich durch den Wald, hinunter und Richtung Straße. 35 Kilometer gepackt!

Das Ende der großen Schleife ist erreicht und ein vergleichsweise kurzer, unbedeutender Anstieg offenbart, was ich noch für Reserven habe: Zero! Wie es scheint setzt sich meine Hinfälligkeit fort. Aber jetzt geht’s tendenziell nur noch runter! ‚Ab Kilometer 35 kannst du es laufen lassen!’ Wie ein Echo hallte dieses Versprechen des vorab studierten Profils während der harten Anstiege durch meinen Kopf. Nur leider muss ich mich jetzt auf nur drei Kilometern etwa 200 Meter in die Tiefe „stürzen“, womit meine Knie einmal mehr überhaupt nicht einverstanden sind. Ich könnte versuchen „die Zähne zusammen zu beißen“, den Schmerz ertragen. Aber diesen Raubbau an der Gesundheit wiegt ein bisschen Zeitgewinn nicht auf. Nicht den Fehler im Training durch einen weiteren im Wettkampf verschärfen! Also laufe ich verhalten, wähle Schritte, die Druck von den Kniescheiben nehmen.

Bei Kilometer 38 wird der Weg flacher, der Wald tritt zurück. Wir folgen einem Radweg durch einen Geländeeinschnitt, laufen zwischen Pferdekoppeln und Buschwerk. Am Hang galoppieren drei prachtvolle Appaloosa Pferde, schlagen einen Haken, dann noch einen. Alle drei schmückt die gleiche, hübsche Fleckenzeichnung an Kruppe und Hüfte. Vorbei an weiteren Pferden - braune, gescheckte, gefleckte - erreichen wird die „Ranch“. Jedenfalls steht das über dem Eingangstor. Da hat sich jemand seinen Traum vom „Wilden Westen“ erfüllt. Mein Traum vom „Laufenlassen“ erfährt dagegen eine abrupte Unterbrechung. Bei Kilometer 41, in einer Ortschaft, geht der Weg noch einmal in Steigung über. ‚Na und!? Nur noch 9 Kilometer! Endlich einstellig!’ Ein knapper Kilometer Schufterei, dann ist auch diese letzte Hürde Erinnerung.

Kilometer 42,195!!! Was für ein netter Service, die Erfüllung der Marathondistanz auf dem Weg zu markieren. Exakt 3:56:56 meldet mir der Forerunner an dieser Stelle. Gar nicht übel, bedenkt man die vielen Höhenmeter. Längst hab ich Hochrechnungen auf meine Zielankunft angestellt. Unter 4:40h ist realistisch, gilt mir fortan als Norm …

Fantastisch! Genauso brauch ich das jetzt. Wir folgen einem glatt asphaltierten Radweg, mit nahezu gleich bleibendem, schwachem Gefälle. Trotz fortgeschrittener Erschöpfung kann ich hier Zeit gut machen, erreiche wieder ein Tempo knapp unter 5 min/km. Unfassbar: Auf fünf Kilometern ändert sich nichts an diesem Idealzustand. Laufen, laufen, laufen, während in der Senke rechts von mir schon die Straßen von Schwäbisch Gmünd vorbei ziehen. Bei jeder Kilometermarke erneuere ich die Hochrechnung, träume bereits von 3:37h … Noch ein „Sprung“ über die Bundesstraße, eine letzte stark abschüssige Rampe, scharf rechts ab, nunmehr eben dahin. Schlagartig spüre ich meine schweren Beine, Erschöpfung durch und durch. Noch 2 Kilometer! Ich nehme etwas Tempo raus, will mich bis zum Ziel durchbeißen … Aber ausnahmslos alle Fehler rächen sich auf langen Strecken! Anderthalb Kilometer vor dem Ziel rebelliert mein Magen. Binnen Sekunden wird mir übel. Zu viel Gehaltvolles getrunken! Zwischen Energiegel mit Wasser hätte ich mir das Durcheinander von Tee, „Iso“ und Cola verkneifen müssen. Hab’s ein paar Mal gespürt danach, die Warnung aber ignoriert. Jetzt krieg ich die Quittung. Tempo runter, langsam traben. Will mich nicht so kurz vor dem Ziel übergeben müssen. Ja, ja, ich weiß, das sieht jetzt aus, als ginge mir auf den letzten Metern die Kraft aus. Ist mir wurscht. Läufer um Läufer trabt vorbei, auch der gelb-schwarze vom Team TOMJ. Also ziehe ich am Ende doch den Kürzeren. Egal. Lass ihn laufen, lass sie alle laufen. Bloß nicht noch … Schon gar nicht hier in der Fußgängerzone von Schwäbisch Gmünd. Noch fünfhundert Meter, dreihundert, hundert … Ich seh’ das Ziel. ‚Mann ist mir schlecht!’ Die letzten Meter - noch langsamer - Beifall - Zeitmessung passiert - sofort stehen bleiben, bücken. Ich huste, würge einmal, zweimal, sabbere wie ein Kleinkind. Bitte nicht! „Hallo Udo! Alles ok?“ keine Ahnung wer das ruft. Ich stehle mich erst einmal in uneinsehbaren Winkel davon. Huste wieder, würge noch mal … langsam klingt die Übelkeit ab …

Drei Minuten später stehe ich bei Flo, kann schon wieder fachsimpeln und Sprüche klopfen. Irgendwer hängt mir die Finishermedaille um den Hals. Dann gesellt sich Kraxi zu uns. Kraxi der Titan! Knapp 3:35h auf dieser Strecke, Gesamtplatz 6, unglaublich. Und das ist noch nicht alles. Mit diesem Lauf erreicht er in der Gesamtwertung des Europacups der Supermarathons Platz 3! Auch Flo strahlt übers ganze Gesicht. Er lief heute zum ersten Mal 25 km weit und blieb auf dieser Strecke mit etlichen Höhenmetern unter zwei Stunden. Drei rundum zufriedene Läufer strahlen um die Wette …


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