Für meine Frau Ines, die als Rückhalt und durch ihr Verständnis, auch angesichts ständiger Wochenendabwesenheiten, diesen Lauf möglich machte.

Mein längster Tag

Deutsche Meisterschaft im 24-Stunden-Lauf 2008

2. Selbst-Transzendenz 24-Stunden-Lauf in Berlin,
Veranstalter: Sri Chinmoy Maraton Team

Meine Schritte sind winzig, mehr Schlurfen, aber sie gehen nach wie vor als Laufschritte durch. Noch zwei Stunden … Nicht lang für einen Ultraläufer, aber endlos für einen, der schon 22 Stunden ohne Pause trabt. ‚Ich kann bald nicht mehr ...’ Der Satz schießt mir durch Kopf. Wie oft schon? Fünfzig Mal, hundert? Es stimmt und stimmt nicht. Ich möchte mich jammernd auf den Boden schmeißen vor Schmerzen und lasse es doch nicht zu. Lauf weiter! Halt durch! Nicht stehen bleiben! - In den letzten Wochen hegte ich keinen Zweifel, was mich erwartet, auch gestern Vormittag nicht …

Angst essen Seele auf

Es sind nur ein paar Schritte vom Hotel hinüber auf die andere Straßenseite, über den Parkplatz bis zum Ort des Geschehens. Eine unübersichtliche Ansammlung von Autos, Zelten, Campingmöbeln und Pavillons erwartet uns. Ines schlängelt sich hindurch, ich folge ihr, sehe mich verstohlen um. Pylonen in Orange-weiß markieren jenseits dieses „Campingplatzes“ den Verlauf der Strecke. Ungefähr in diesem Moment rutscht mein Herz ein ziemliches Stück tiefer Richtung Hose, denn klar und abrupt steht mir meine Unbedarftheit vor Augen. Die wissen alle, was sie tun, was auf sie zu kommt und bereiten sich entsprechend vor! Dieses Heerlager dient dem Zweck der individuellen Versorgung. Versorgung mit Essen und Trinken, wohl auch mit einem Lager zum Ruhen. Ruhen? Ich hab nicht vor zu ruhen, weder sitzend, noch auf einer Matratze ausgestreckt. Ich will die 24 Stunden durchlaufen. Aber genau das ist der Punkt: Geht das überhaupt? Haben die Stuhl- und Zeltbesitzer schon erlebt, was mich spätestens heute Nacht, im Zustand völliger Erschöpfung, einen Fleck zum Hinsetzen suchen lassen wird? - Beeindruckt und eingeschüchtert strebe ich mit Ines der Anmeldung entgegen.

Vor der hat sich gegen 9:45 Uhr eine Schlange gebildet. Quälend langsam rücken wir vor. Sich während der zwanzig Minuten Wartens in Geduld zu fassen fällt mir schwer. Die Mehrzahl der Läufer ist angemeldet, also warum dauert das so lange? Die Sonne treibt mir zeitweilig Ströme von Schweiß den Rücken hinunter, wenn sie zwischen den Wolken durchsticht (‚Warum hab ich Depp die kurze Hose nicht angezogen?’). Das Mithörenmüssen der Dialoge vor und hinter uns steigert meine Unruhe. Blanker Psychoterror für Udo! Was die schon alles erlebt und erlaufen haben! Gestandene Ultras, mehrfach über 12 und 24 Stunden unterwegs gewesen, viele andere läuferische Knochenjobs erledigt, alles asketisch anmutende Typen. Und alle kennen sich irgendwie, tingeln wohl seit Jahren durch die Ultraszene im In- und Ausland. Und da kommt einer wie ich, sozusagen von „ganz unten“, von der lächerlich kurzen Marathonstrecke, mit nur wenig Ultraerfahrung, lediglich einem „popligen“ 12h-Lauf, Null 24h-Erfahrung und will hier was reißen! Jetzt isses angekommen, mein Herz, in der Hose … Immerhin bewahre ich mir meinen Humor und bemerke mit einem Grinsen im Gesicht zu Ines: „Hier fällt einer wie ich nicht weiter auf. Unter diesen Leuten isses nix Besonderes 20 Marathons und Ultras im halben Jahr zu laufen!“ Zum Glück wird mir nicht bewusst, dass dieser Spruch rein gar nichts von einem Scherz an sich hat, weil er schlicht die Tatsachen wiedergibt.

Dann bin ich endlich dran und wundere mich nicht länger über die Verzögerung. Die einzelnen Frühstücke, Mittag- und Abendessen für Läufer und ihre Begleitung werden abgefragt, per Hand in eine Liste eingetragen, ein Preis wird berechnet und beglichen. Erst dann geht’s um sportliche Belange, Ausgabe der Startnummer und eine Kurzeinweisung. Ich halte meine Hinterleute kaum auf: Kein Essen, weder für mich noch für meine Begleitung gebe ich zu Protokoll und nach einem erstaunten „Wirklich gar nichts?“ werden die Kästchen hinter meinem Namen mit Kuli und Lineal durchgestrichen. Ich rücke zur Nebenfrau vor, erhalte dort meine Startnummer und auf einen Zettel mit kopierter Handskizze des Wettkampfbereiches malt sie ein großes „V“. „Das ist dein Zähler!“ meint sie zu mir und dass ich mich etwa 15 Minuten vor dem Start bei ihm melden soll. Ich kapiere gar nix, bin viel zu aufgeregt und verstört. Immerhin gelingt es der Geduldigen mir zu vermitteln, dass wohl mehrere Zähler am Werk sein werden und ich dem meinen mein Gesicht vorab bekannt machen soll. Ich sehe Ines nicken und lächeln. Falls ich nicht alles regelgerecht begriffen haben sollte, meine Ines hat’s kapiert. Also bedanke ich mich und werde mit Glückwünschen von der Offiziellen entlassen. Startnummer „99“ wurde mir zugeordnet, eine sympathische Zahl. Ines schaut mir ins Gesicht, nimmt mich am Arm und meint: „Die 99 ist ein gutes Omen! Du wirst das schaffen!“ Natürlich kann sie das nicht wissen, so wenig wie irgendein anderer Sterblicher auf diesem Planeten. Aber es geht mir dennoch durch und durch, hievt mein Herz wieder ein Stück weit höher. Meine Frau glaubt an mich! Braucht der Hasenfuß nur noch an sich selbst zu glauben …

Ein Gespräch mit Franz schließt sich an. Franz kenne ich als erfahrenen Ultra, lernte ihn vor Wochen beim 12-Stunden-Lauf kennen, traf ihn noch einmal anlässlich des Immenstadt Marathons. Überraschend die Mitteilung, dass er die 80 km von Karlsruhe gleichfalls zur Generalprobe nutzte und ich weder vor Ort noch in den Ergebnislisten über ihn „stolperte“. Vor allem interessiert mich der Ausgang seines „Ungarn-Abenteuers“, der Plattenseeumrundung, 212 km am Stück. Er berichtet, wegen Problemen mit der gereichten Verpflegung nach 125 km abgebrochen zu haben. Er wird seine verkorkste Generalprobe verkraften, schließlich ist das nicht sein erster 24-Stunden-Lauf. Zugleich mag ich mir nicht ausmalen, welche düsteren Vorahnungen von Scheitern und Untergang solches Missgeschick in mir ausgelöst hätte. Nach Schulterklopfen, Glückwünschen, sowie etwas Galgenhumor in Rede und Gegenrede trennen wir uns: „Wir sehen uns noch!“ - „Wird sich kaum vermeiden lassen!“

Flucht nach vorn

Betont langsam, jeden Handgriff sorgsam ausführend - als wäre es das erste Mal - mehrfach und konzentriert die Vollständigkeit aller Details überprüfend - als hinge davon mein Leben ab - beende ich meine Vorbereitungen. Eine Dusche gönnte ich mir noch, immerhin werde ich einen Tag lang im eigenen Saft schmoren. Ines aufmunternde Blicke machen mir Mut. Sie fühlt, wie es um mich bestellt ist und sicher spiegelt mein Gesichtsausdruck dieses ungute Gefühl in der Magengrube wieder. Diesmal peinigen mich keine diffusen Versagensängste. Die letzten Testwettkämpfe sahen mich im Aufwind, überzeugten viele (vor allem mich selbst) ausreichend für die finale Prüfung konditioniert zu sein. Was denn dann? Der 12-Stunden-Lauf, Ende Mai, markiert in meiner Vorbereitung das jähe Ende der Sorglosigkeit. Die damaligen, mental schier unerträglichen Stunden Drei bis Sechs, unter zehrender Aussichtslosigkeit und heftigen inneren Kämpfen überstanden, hinterließen Ahnungen, was mir auf doppelt so langer "Zeitreise" droht. Ich fürchte mich vor der depressiven Gewalt mutmaßlicher Empfindungen, die meinen Kopf beherrschen werden. Und ich habe Angst vor Erschöpfung und Schmerz - zum ersten Mal überhaupt in meiner Zeit als Wettkämpfer. Ich werde mir massiv körperlich weh tun, um meine Ziele zu erreichen. Zweifelsfrei steht fest: Diese Pein wird alles übersteigen, was ich kenne und sie wird mich stundenlang in ihren Fängen fesseln - weil ich es so will und mir kein Nachgeben gestatte!

11:35 Uhr: Ich schultere meine Tasche und vertausche die relative Geborgenheit des bequemen Hotelzimmers mit der Ausgesetztheit des Wettkampfrunds. Zunächst gilt es einen Platz für die Sporttasche zu finden, rasch zugänglich und doch sicher vor Regen. Ines trägt unseren großen „Paraplü“, den ich - Oh Einfalt dein Name ist Udo! - im Falle himmlischer Güsse über die Tasche spannen möchte. Die Frage, was wohl geschähe, wenn sich die Niederschläge mit starken Winden verbünden, verdränge ich einfach. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Angesichts des dichten, in Doppelreihe entlang der Laufstrecke geschlossenen Kordons aus Autos, Zelten und Camping-Utensilien spekuliere ich auch ein wenig unter fremdem Schutzdach zu „schmarotzen“. Glück muss man haben! Just an jener Stelle, wo Franz seinen „Claim“ absteckte, betrete ich das Wettkampfrefugium. Meiner Bitte wird entsprochen und so finden meine Habseligkeiten ihre zeitweilige Heimat hinter Franz’ Auto. Sollte es zu regnen beginnen, wird seine Frau die Tasche im Wageninneren verwahren. Damit wäre das Stützpunktproblem gelöst, jenes mit meinem Selbstwertgefühl keineswegs. Mit meinem „Täschlein“ (Hoffentlich merkt niemand, dass ich mit einer Tennistasche rum fuhrwerke …) komme ich mir vor wie David unter hundert Goliaths.

Manche ziehen mit einem wahrhaft riesigen Tross in die bevorstehende Schlacht: Helfer in Kompaniestärke, eigene Gulaschkanone und ausgedehntes Heerlager zum Ausruhen. Da fehlt es an nichts. Und hier kommt Klein-Udo mit seinem flotten „Tennisranzen“. Lachhaft! Ines fühlt sich unwohl: „Wenn ich das so sehe, habe ich ein richtig schlechtes Gewissen, dich nachher allein zu lassen!“ Aber ich beruhige sie: „Lass mal! Du kannst hier nichts tun, außer dich langweilen!“ In Wahrheit sehe ich keine Notwendigkeit für ein weitergehendes Aufgebot von Material und Personal. Ich habe nicht die Absicht zu rasten und - von Energiegels einmal abgesehen - werde ich von der vom Veranstalter gedeckten Tafel „speisen“. Was also sollte Ines 24 Stunden lang hier tun? Schlimmer noch: Nach jeder Runde in besorgte Augen zu blicken, wenn das sichere Martyrium mich zu zeichnen beginnt, stelle ich mir zusätzlich belastend vor. Ines wird heute Nachmittag shoppen (kurz hab ich erwogen alle Cash-Karten ganz tief im Tennisranzen zu vergraben. ;-) ) und am Abend mit Freunden die Vorstellung des „Cirque du Soleil“ besuchen. Da bin ich schon ein bisschen neidisch. Aber ich hab ja hier meine eigene Manege, eine Aufführung mit Überlänge (länger als die Opern von Richard Wagner ;-) ) und bin sogar Darsteller (Rollenfach „tragischer Held“?).

Wir schlendern die paar Meter zum Startbereich, passieren das noch leere Buffet des Verpflegungsstandes und kommen zum lang gestreckten, überdachten Pult der Zähler, von A bis Z mit jedem Buchstaben des Alphabets markiert. Mein Zähler hat es nicht eilig hinter dem „V“ Platz zu nehmen. Also tippele ich ein wenig hin und her, warte. Fast Mittag. Eine eifrige Sonne hat die Luft erwärmt, zwischenzeitlich dürften 20°C deutlich überschritten sein. Sonnenschein und zeitliche Nähe des Startes tun mir gut. Nervosität und Magendruck weichen. Ich stelle mich meinem Zähler vor, wir drücken uns die Hände. „Du trägst ein auffälliges Shirt, das ist gut!“ (Farbe „Signal-Orange“, Lohn meines Madrid Abenteuers) Darüber hinaus bittet er - besonders am Anfang - um deutliches Handzeichen nach Absolvieren jeder Runde. Darauf kann er Wetten abschließen! Kaum jemand wird mehr darauf erpicht sein als ich, keine der erkämpften Runden dem Vergessen preiszugeben. Mich beruhigt die Tatsache der wenigen Zettel auf seinem Tisch. Vier bis fünf Schäfchen hat er zu zählen. Aber bitte nicht einschlafen beim „Schäfchenzählen“!

Die letzten Minuten tröpfeln dahin. Ich umarme Ines, bin froh nicht ohne ihren Beistand diese „Reise anzutreten“. Erst als der Organisationsleiter über Lautsprecher auf die weiß abgestreute, dennoch unscheinbare Fuge im Asphalt als „Startlinie“ hinweist, formiert sich das Läufervolk. 24-Stunden-Läufe haben ihre eigenen Gesetze: Wo sonst die vermeintlich Schnellsten sardinendicht drängeln, die Fußspitze nur Mikrometer hinter der weißen Linie, den Oberkörper erwartungsvoll gebeugt, steht man locker beisammen, schaut demonstrativ gelangweilt in die Gegend oder plaudert, scherzt. Und nach dem Kommando setzt sich der Schwarm mit Zurückhaltung in Bewegung … 12 Uhr, ich laufe, lächele und grüße für Ines in die Kamera. Ich hab sie angetreten, die Flucht nach vorn.

Die erste Runde

Wenige Meter hinter der Startlinie knickt die Route im 90°-Winkel nach rechts. Auf betonierter Piste ca. 240 Meter geradeaus, zwischen Bäumen hindurch. Scheinbare Abzweige enden auf verwildertem, mit Gräsern, Büschen und Bäumen überwuchertem Brachland. Hier legte schon lange niemand mehr pflegende Hand an. Seltsam, denn auch nach der Wende nutzt man die Gesamtanlage für vielfältige Zwecke des Sports. Dann wieder eine 90°-Kurve, ab hier treten die Füße auf Asphalt, vorbei an zwei Kunstrasenplätzen, mit massivem Ballfangzaun von unserem Weg getrennt. Weitere 220 Meter ohne Richtungsänderung, dann schneidet der Kurs die dritte Ecke des Vierecks auf 35 Metern ab, passiert dabei einen Grill- und Kinderspielbereich jenseits des Zaunes, vollendet letztlich doch nur den dritten 90°-Knick. Es folgen 150 Meter zwischen mannshohem Zaun, der grünem, verfilztem Wildwuchs Halt gibt, und einer Sandkuhle auf der rechten Seite, offensichtliche „Spielwiese“ für Beachvolleyballer. Sodann bringt die Rundung einer Art „Damm“ etwas Abwechslung in den Kursverlauf. Für 150

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Meter schmiegt sich der Laufweg seiner Grasböschung an. Zu „Lebzeiten“ der DDR verbarg sich hinter dem Wall ein Open-Air-Radstadion. Nach der Wende füllte man die Vertiefung auf und ersetzte die Radarena durch einen Rasenplatz mit Tartanbahn. Wissen, das ich meiner Neugier vor dem Lauf verdanke, denn von hier „unten“ ist der „Tafelberg“ nicht einsehbar. Nun folgen 130 Meter entlang des „Campingplatzes“, auf dem sich das „ruhende Volk“ mit Versorgen der Läufer und den drei „S“ die Zeit vertreibt (Schwätzen, Sitzen, Schauen). Auf den letzten 100 Metern passiere ich zunächst das „Läuferbuffet“, danach die „Gasse“ zwischen offizieller Uhr und Phalanx der Zähler. Summa summarum 1025 m liegen erstmalig hinter mir.

Das erste Wiedersehen mit „meinem“ Zähler gerät zum bewegenden Moment. Schon auf den letzten zwanzig Metern suche ich Blickverbindung. Noch richten sich seine Augen auf die Zettel vor ihm. Unversehens „ortet“ er mich, strafft sich, reckt den Arm und ruft: „Hab dich Udo! Super!“ In seiner Attitüde verkörpert er Aufmerksamkeit, Hilfe und Ansporn. Eine Aura, die ich empfange, die mir durch und durch geht, als ich um Registrierung heischend, mit erhobener Hand an ihm vorbei laufe. Für mich der Beginn einer besonderen Beziehung …

Die Tücke des Objekts

Das Startnummernband sitzt auf der Hüfte - theoretisch. Laufpraktisch rutscht es mir schon während des ersten Umlaufs Richtung Bauch, unter gleichzeitigem Auswandern der Startnummer zur rechten Körperseite. Also zerre ich den widerborstigen Gurt in Position, die er flugs, Richtung oben rechts, wieder verlässt. Mistding! Beim 12-Stunden-Lauf saß das Band anfangs zu locker. Heute zu straff? Wie sollte es, hab’s seither nicht verstellt. - Wo ist Ines abgeblieben? Auf der Betonpiste und der zweiten langen Geraden längs der Kunstrasenfelder kann ich sie nicht entdecken. Sie wollte eine Runde komplett abgehen, dabei die ausgebrachten Motivationsbanner ablichten und natürlich von ihrem „24-Stunden-Helden“ ein paar Aufnahmen schießen. „Heroisches Aussehen“ und verrutschtes Startnummernband gehen nicht zusammen! Ergo halte ich Ausschau nach meiner Frau und korrigiere alle paar Meter den Sitz der „99“. Rasch stellt sich Routine ein, zumindest erscheint der verhasste Gurt auf den Bildern nahezu perfekt sitzend …

Sollwerte

Meine Ängste schrumpfen auf Bedenkenformat und verkrümeln sich im Verlauf der ersten halben Stunde in hintere Gehirnwindungen. Ich habe schlicht keine Zeit mich weiter zu fürchten. Außerdem gibt das anfänglich völlig unbeschwerte Dahingleiten Sicherheit. Neben der Rolle als „Germans Next Top Model on the Run“, gilt es vordringlich das Wettkampftempo zu justieren, das sich aus dem Wettkampfziel ableitet. Was also will ich erreichen? Um zufrieden nach Hause zu fahren, möchte ich dreierlei verwirklichen:

Erhebt sich die Frage nach der Wettkampftaktik, um 200 Kilometer in den Bereich des Möglichen zu rücken. Zwei gefährliche Gegner werden versuchen diese Absicht zu vereiteln, wachsende Ermüdung und Dämonen des Geistes. Zwei kritische mentale Phasen erwarte ich am frühen Abend und gegen Mitternacht. Am frühen Abend, wenn nach sechs, sieben Stunden Abnutzung eindeutige Signale von verbrauchter Energie und schmerzenden Beinen künden, aber noch eine schier unüberbrückbare Zeitspanne vor mir liegt. Gegen Mitternacht, weil nach 12 Stunden die Belastung sicher bereits in Leiden umgeschlagen ist. Und weil ich eben Laufen in der Dunkelheit nur schwer verkrafte. Zweifelsfrei ließe ein über den Gesamtzeitraum gleichmäßiges Tempo, physiologisch betrachtet, den größten Erfolg erwarten. Aber bei solchen Extremläufen ist die Psyche gleichrangig! Deshalb will ich nach der halben Zeit, gegen Mitternacht, bereits deutlich mehr als die halbe Zieldistanz geschafft haben. Den 12-Stunden-Zwischenstand peile ich zwischen 110 und 120 Kilometern an. Vermessen, bedenkt man mein 12-Stunden-Ergebnis von Ende Mai mit gerade mal 110 Kilometern, wonach ich fix und fertig war, allerdings inmitten härtester Trainingsbelastung.

Um diese Taktik umzusetzen, will ich Runden mit 6 min/km drehen und dieses Tempo stundenlang konservieren … Auf den „1025-Meter-Orbit“ umgerechnet, ergibt das eine Rundenzeit von genau 6 Minuten und 9 Sekunden. Natürlich liege ich anfänglich drunter: Nach Runde 2 noch erheblich, wonach ich mich zwinge verhaltener zu traben. Doch auch in der Folgezeit bleibe ich meist ein paar Sekunden unter der Vorgabe. Ich lasse mich gewähren. Weder Gleichgültigkeit, noch Schludrigkeit und schon gar nicht Abenteuerlust stecken dahinter. Dazu ist mein Respekt vor der Aufgabe zu gewaltig. Ohne es greifen zu können, durchzieht mich die Überzeugung, für hier und heute genau das Richtige zu tun. Lauf so Udo! Genau so!

Sri Chinmoys way of motivating Runners

Das „Sri Chinmoy Marathon Team Deutschland (SCMT)“ steht als Veranstalter für diesen Wettkampf gerade. Mein Wissen über Ziele und Hintergrund dieser Gemeinschaft strebt im freien Fall gegen Null. „Sri Chinmoy“ war ein 2007 verstorbener indischer Guru, dessen Lehre mir völlig unbekannt ist. Geht’s womöglich um Ausdauerexzesse unter den Fittichen einer auf Rekrutierung neuer Anhänger bedachten Sekte? Den vom „SCMT“ ausgerichteten Laufveranstaltungen eilt indes ein anderer Ruf voraus: Keinerlei Anwerbeversuche, dafür in allen Details akribisch und perfekt durchgeplante Abläufe. Bislang fand ich diese Überlieferung bestätigt. Kurz vor dem Start erbat der Organisationsleiter ein „Schweigeminütchen“ zu Ehren des großen Gurus, der im Vorjahr „seinen Körper verlassen“ habe. Die verordnete Andacht fiel wohl eher läuferischer Selbstbesinnung anheim, denn „mystischer Kontemplation“. Überhaupt vermittelten alle Funktionellen, die mir bisher dienlich waren, den Eindruck fester „Installation im Weltlichen“. Offensive Verbreitung einer Heilslehre vermag ich nirgendwo zu erkennen. Dergleichen hätte die Deutsche Ultra Vereinigung (DUV) kaum durch Verknüpfung mit der deutschen Meisterschaft geadelt. Und deshalb laufe ich hier im Rahmen des „2. Selbst-Transzendenz 24-Stunden-Laufes“. Was ist Transzendenz? Wahrscheinlich irgendein Esoterikkram, in jedem Falle ein Fremdwort, das zu übersetzen ich bislang nicht gezwungen war. Im Mathe-Unterricht behandelten wir „transzendente Funktionen“, was sich allerdings im tiefen Dunkel meiner schulischen Vergangenheit verliert.

Sei es wie es sei: Udo „transzendiert sich also gerade selbst“, ohne zu wissen, was er da tut und wird sicher noch etliche Stunden damit zubringen. Gar nicht esoterisch, weltfern, oder religiös entrückt präsentieren sich dagegen die gleichmäßig entlang der Runde verteilten Plakate mit „Lehrsätzen“ des Gurus. Soweit sich ihr Sinn meinem eingeschränkten Englisch erschließt, lese ich nichts Neues. Vielmehr gehabte Erfahrungen und daraus destillierte Überzeugungen, allerdings auf Spruchlänge komprimiert und treffsicher formuliert. Wie etwa diese: „The soul’s willpower can easily change the body’s destiny” - Die Willenskraft der Seele kann auf einfache Weise das Geschick des Körpers verändern. Und nicht zu vergessen einen der wichtigsten Glaubenssätze meines läuferischen Weltbildes: „All athletes should bear in mind that they are competing not with other athletes but with their own capacities. Whatever they have already achieved, they have to go beyond.” - Alle Athleten sollten sich vor Augen halten, dass sie nicht mit anderen Athleten wetteifern, sondern mit ihren eigenen Fähigkeiten. Was immer sie erreicht haben, sie müssen darüber hinausgehen.

Der Schilderwald bietet auch allgemein Lebensphilosophisches: „Enthusiasm is energy!“ - „Begeisterung ist Energie!“, oder „Never give up!“ - Gib niemals auf! - „Aufgeben!?“ Diese Vokabel existiert in allen Sprachen, gehört also zum menschlichen Erlebensspektrum. Ich mag sie nicht und bin erst nach langem, zähem Ringen bereit die Waffen zu strecken. Einfach kapitulieren kommt nicht in Frage. Nicht auf der Laufstrecke und auch sonst. Erwartet mich heute, was mir in all den Läuferjahren erspart blieb? Werde ich irgendwann in den nächsten Stunden GEHEN müssen? Oder erreiche ich gar die physische Grenze, kann mich zu vorgerückter Laufstunde nicht mehr auf den Beinen halten?

Darum sorge ich mich indes weniger, als um mein geistig-seelisches Wohlergehen - Nachwirkungen jener düsteren Stunden des 12-Stunden-Laufes. „Friede beginnt, wenn Erwartung endet.“ verspricht ein weiterer Anschlag. ‚Stimmt! Und deswegen werde ich keinen Frieden finden, bevor die 24 Stunden um sind!’ Ich richte hohe Ansprüche an meinen „Auftritt“ hier, möchte meine bisherigen Grenzen überwinden. Mein Ziel ist eben exakt jene „Selbst-Transzendenz“, die der Lauf propagiert! Auch wenn mir der Begriff „Transzendenz“ in diesen Stunden nur als Umschreibung, in der Form „Überschreiten von Grenzen“, zur Verfügung steht. Obgleich offensichtlich, stoße ich mich nicht am widersprüchlichen Wesen der Veranstaltung. Ihr Reglement weist sie als „Wettkampf“ aus, der weltanschauliche Hintergrund fordert dagegen Miteinander und Selbstüberwindung. So gesehen passe ich gut hierher. Dieselbe Ungereimtheit manifestiert sich in mir selbst - zumindest was Absichten und Entschlossenheit für die nächsten Stunden angeht …

Ein Preis für die meisten Schritte

Sie reicht mir nur bis zur Kinnspitze, läuft im kurzen, schwarzen Röckchen und tippelt mit unglaublich hoher Schrittfrequenz. Ihr Tempo weicht kaum von dem meinen ab, weshalb wir uns mehrfach gleichauf befinden. „Du bist klein und leicht, das ist ein Vorteil! Aber du machst so viele Schritte, das ist anstrengend!“ scherzt der Läufer neben ihr. „Ich kann einfach keine größeren Schritte machen.“ stellt sie kurz und bündig fest, lächelt dabei. „Wenn’s einen Preis für die meisten Schritte gäbe, wärst du konkurrenzlos.“ fügt jener noch spitzbübisch an, wonach die für Sekunden stabile Konstellation wieder auseinander driftet. Marika Heinlein heißt die Angesprochene. In diesem Moment ist mir noch nicht bewusst, wen ich da vor mir habe. Sie wird die Damenkonkurrenz mit deutlichem Abstand gewinnen …

Liveticker nach 2 Stunden:

Zu dieser Zeit, mir nicht bekannt, zudem nicht von Interesse, führt mich die Zwischenliste der DUV (Deutsche Ultravereinigung) auf Platz 28.

Rundendrehen macht Spaß, ist unterhaltsam, auch wenn viele das nicht begreifen. Das Tempo strengt mich kaum an, die Beinmuskulatur weist eine angemessene Spannung auf. Die üblichen Verdächtigen der Abteilung „Kraftübertragung“ melden sich nacheinander zu Wort. Da ächzt es ein wenig um die Kniescheiben und die Achillessehnen erheben den bekannten Zeigefinger. Die nach wie vor Unbekannte in der Hinterbacke oben rechts setzt ihrerseits einen, allerdings zahmen Akzent in der Protestbewegung. Alles in allem vertraute Klappergeräusche eines „angejahrten“ Autos, die seine dauerhafte Gebrauchsfähigkeit eher unterstreichen als in Frage stellen. Der Himmel spielt mit, erwärmt die Luft bis höchstens 25°C. Immer häufiger und länger spenden größere Wolkenformationen Schatten. Unter diesen Bedingungen kann ich gut leben … äh … laufen.

Die Konkurrenz gebärdet sich ähnlich rätselhaft wie anlässlich meiner 12-Stunden-Lauferfahrung. Ein kleinerer Teil besteht aus weitgehend mit derselben Geschwindigkeit umlaufenden Trabanten, zu denen sich meine Position allenfalls in Trinkpausen verschiebt. Eine andere Gruppe von Satelliten rauscht mit unverständlichen Ungestüm vorbei, mich ein ums andere Mal überrundend: ‚Kann man das 24 Stunden durchhalten?’ Ein drahtiger Pole ist darunter, dem man einiges zutraut, aber auch ein mittelgroßer, stämmiger, recht junger Kerl. Äußerlichkeiten sind nur bedingt aussagekräftig im Laufsport, doch bei diesem „Springinsfeld“ passen sie nun mal überhaupt nicht zum vorgelegten, aberwitzigen Tempo. Was immer er vorhat, es muss schief gehen … Die Mehrheit aller Mitstreiter bewegt sich deutlich langsamer. Und wieder bin ich erstaunt, wie schon auf dem Rennsteig und während des 12-Stunden-Laufes, als einige bereits in der Anfangsphase gehen. Meine besondere Aufmerksamkeit erregt ein Kauz, den ich vor Wochen schon 12 Stunden lang beobachtete. Weniger das zerfurchte Gesicht oder die lichte, graue Kopfbehaarung fallen auf. Dafür seine für einen Läufer untypische Bekleidung: Kniebundhose und Baumwollshirt, drauf ein bierseliger Spruch. Ist er überhaupt Läufer? So sehr ich auch im Gedächtnis krame, in keiner Szene sehe ich ihn laufen.

Essen und trinken!

Bloß nicht austrocknen und immer so viele Kalorien im Magen haben wie der Körper vermutlich aufnehmen kann! Also frühzeitigen Raubbau an Körperwasser und Muskelenergie vermeiden! Darauf findet jeder Ultra seine eigene Antwort. 100 Läufer haben hundert verschiedene Mägen und Verdauungssysteme. In meiner Tasche warten 20 Beutel mit Energie-Gel auf ihren Verzehr. Die will ich mir nach und nach einverleiben und auf den jeweils folgenden zwei Runden mit je einem Becher Wasser verdünnen. Dazwischen werde ich zu Iso oder Cola greifen und sehen, was das „Läuferbuffet“ an gut Verdaulichem sonst noch hergibt. Nach jeder Runde schnappe ich mir einen Becher, forme eine „Trinkschnute“, schütte und schlucke den Inhalt binnen zweier Sekunden - in der Bewegung versteht sich. Während der ersten Stunden funktioniert das weitgehend „verlustfrei“, die Konzentration ist noch maximal. Später schwappt schon mal ein wenig des klebrigen Gesöffs daneben. Dann grapsche ich bei nächster Gelegenheit einen Schwamm und mache mich wieder „frisch“.

Als ich innerhalb der ersten zwei Stunden zum dritten Mal unter „meine“ Birke ausschere, trinke ich für eine Weile nur noch bei jedem zweiten Umlauf, hege aber Bedenken wegen entgangener Kalorien. Darum „werfe“ ich mehrfach ein Stückchen Banane oder ein Viertel Keks ein. Ich vertraue meinem Pferdemagen, hoffe, dass er die Mischung goutiert.

Blumenkinder

Ein bisschen „Flower Power Flair“ atmet die ganze Sache schon. Die mit bunten Farbtupfern hinterlegten, handgemalten Banner vermitteln ihn: „Peace“, „Smile“, „Run“, „Victory“ oder Mehrzeiliges wie „Ein Augenblick der Liebe kann und wird die Welt vollkommen machen“. Ebenso nährt die etwas naiv anmutende Verzierung eines Zaunes am Startbereich mit bunten Windrädern, Girlanden und Luftballons den Verdacht, dass zumindest einige „Blumenkinder“ den Niedergang der Hippiebewegung überlebt haben.

Liveticker nach 4 Stunden:

Mit unverändertem Tempo - knapp 6 min/km - drehe ich meine Runden, die Beinmuskulatur hat sich erwartungsgemäß etwas verhärtet, nennenswerte Beschwerden spüre ich nicht. Meine Furcht vor mir selbst war einstweilen unbegründet. Ich kann ohne „Systemabsturz“ den Gedanken „Jetzt sind es noch 20 Stunden!“ zulassen. Trotzdem bin ich auf der Hut: ‚Es wird schon noch passieren! Sei erst mal 6, 8, 10 Stunden unterwegs! Dann wird dich der Horror schon noch anspringen!’ Etwa 41 Kilometer habe ich inzwischen auf dem Konto und es macht noch immer Spaß. Leider nicht ungetrübt, zu groß ist die Ungewissheit.

Zu dieser Zeit, mir nicht bekannt und noch immer nicht von Interesse, notiert mich die Zwischenliste der DUV mit Aufwärtstrend an Platz 18.

In sechsminütigem Turnus begegne ich meinem Zähler und mit jedem Umlauf wächst die Bedeutung dieses Moments. Dabei geht es mir beileibe nicht nur um die Registrierung. Ich melde mich per Handzeichen oder rufe, falls er sich gerade abwendet. Manchmal stupsen ihn seine Nachbarn an: „Da schau! Der Udo!“ Dann streckt sich mir sein Arm entgegen, ich höre ein „Hab dich Udo!“ oder mindestens „Super Udo!“ Das hält er stundenlang durch, Begeisterung und Ansporn müssen folglich echt sein. Und sie motivieren mich. Zunächst traf die Aussicht, „manuell“ gezählt zu werden, auf wenig Gegenliebe. Ich hatte eine elektronische Rundenzählung erwartet. Inzwischen betrachte ich die kurze Spanne unserer ewig gleichen Zwiesprache als beträchtlichen Motivationsvorteil.

Am Ende der zweiten, langen Geraden, jenseits des Zaunes ist eine Art Kinderfest im Gange. Vor zwei großen Hallen (Schwimmhallen?) wird gegrillt, da stehen ein Trampolin und eine riesige, aufgeblasene Wasserrutsche. Schon von weitem hört man das aufgedrehte Quieken wild spielender Mädchen und Jungen. Zu dreien, vieren hüpfen sie hinter dem Schutzgitter des Trampolins um die Wette oder balgen sich im Bassin der Rutsche. Wieder andere versuchen das schier Unmögliche, wollen auf der glatten, federnden Schräge nach oben, rutschen ab, versuchen es erneut. Stundenlang geht das so, und alle paar Minuten entlockt es mir ein Lächeln …

Da kommt sie wieder, die „Gegenläuferin“. Sicher Ehefrau oder Freundin eines der hier im Orbit kreisenden Verrückten. Unermüdlich und scheinbar ohne Pause marschiert sie uns entgegen, spendet jedem ein anerkennendes Nicken oder ein gerade noch hörbares „Bravo!“. Vielleicht sollte gerade ein Dauerkreisläufer diese Frage nicht stellen, aber ist das nicht bohrend langweilig, immer dieselben tausend Meter abzuschreiten, dabei ständig zu nicken und zu murmeln?

Liveticker nach 6 Stunden:

Nach einem Viertel der Zeit schon spüre ich die Anstrengung. Meine Schritte haben an Selbstverständlichkeit und Schwerelosigkeit eingebüßt. Laufen, SO weiter laufen, gerät mehr und mehr zum Willensakt. Ich bin keiner der sich Illusionen hingibt, einfacher wird es nicht werden. Aber vielleicht unterstützt mich bald der „Rennsteig-Effekt“. Dort und in Schwäbisch Gmünd, anlässlich der 12 Stunden, überwand ich nach langer Zeit einen „toten Punkt“, konnte fortan mit weniger Malaise laufen, einfach leichter. Und heute? Mal sehen. Wenig des heutigen Szenarios erinnert an gehabte Wettkämpfe. Der Laufsport erfindet sich für mich gerade neu. Ja genau: So war’s noch nie! Und wundersame aber begrüßte Fügung des Schickals: Wo bleiben die inneren Dämonen? Wieso ertrage ich diesen gähnenden Abgrund zwischen bereits gefühlter Abnutzung und verbleibender Zeit ohne Anflug von Verzweiflung? ‚Warte bis es dunkel wird, das kommt schon noch!’ hallt es in mir nach …

Zu dieser Zeit, vor mir verborgen - ein klitzekleines bisschen tät’s mich nun doch interessieren - rangiere ich im Zwischenergebnis weiter an Position 18.

6 Uhr abends: Meine Gedanken fliegen über Berlin. In diesen Minuten trifft sich Ines mit unseren Freunden zum Essen. Ich wär’ gerne dabei, aber das hier ist eben kein 6-Stunden-Lauf … Meine „Ernährung“ ist weniger raffiniert und bedeutend flüssiger: Nach jeweils zehn Runden, das entspricht noch immer etwa 10 Kilometern, steuere ich kurz meine Tasche an und entnehme ihr einen Beutel Gel. Hab jede verfügbare Geschmacksrichtung im Angebot. Im Grunde schmecken sie alle scheußlich, sind aber genießbar. Nur zu den Tütchen mit Brombeergeschmack muss ich mich regelrecht zwingen. Widerliches Zeug! Noch beschränkt sich der Taschen-Stopp auf Bücken und Greifen. Aufreißen und „Genießen“ geschieht bereits wieder im Antraben, auf dem Weg zur Tränke. Wasser hinterher, zwei, drei Schlucke, leeren Becher in den Einkaufswagen schmeißen. - Wieso in einen Einkaufswagen? Der steht auf halbem Weg zwischen Verpflegungs- und Zählerzelt, zweckentfremdet als Becherdeponie. Meine Kindheit liegt ein paar Tage zurück, aber ich weiß noch, dass in seinem Alter beinahe jeder Gegenstand zum Spielen taugt. Ein Junge, vielleicht zehn, müht sich eisern alle eingeworfenen Becher ineinander zu stecken, die Stapel senkrecht in die Wagenecke zu stellen und auf diese Weise „Ordnung“ in seiner Miniwelt zu schaffen. Zweimal hätte ich den laufenden Meter fast umgerannt. Zum Glück passierte nichts und so haben wir beide die „Selbst-Transzendierung“ unfallfrei überstanden …

Immer wieder einmal schießt er vorbei, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Anfangs mit einer gewissen Regelmäßigkeit, später eher sporadisch. Ich erwähnte ihn bereits mit den Attributen jung, stämmig und äußerlich wenig einem leistungsstarken Läufer ähnelnd. Was ist das für ein Spinner? Ok, es geht mich nichts an, s’ist sein Lauf den er hier vergeigt. Aber in gleichem Trikot mit Vereinsbezeichnung kreisen hier noch ein paar, Ältere, Erfahrenere, beiderlei Geschlechts. Wieso gibt ihm keine (-r) einen Rat? Ein noch größeres Rätsel gebe ich mir allerdings selbst auf, wenn er grad mal wieder mit Nachbrenner vorneweg donnert: Wieso nervt mich der Typ? (Nachträgliche Analyse auf Basis der DUV-Zwischenlisten: In den ersten vier Stunden platzierte sich die laufende Unvernunft in der Spitzengruppe, um nach sechs Stunden in Richtung erstes Drittel abzusacken und am Ende einen der hinteren Ränge zu belegen.)

The Show must go on!

Bin ich beim Open Air? Zumindest einige Elemente mehrtägiger Festivals unterhalten mich in Minuten-Intervallen: Es gibt eine ziemlich lange Bühne auf der sich Akteure bewegen, einen Zuschauerbereich, der eher an einen Campingplatz erinnert, Orte an denen Pausenverpflegung gereicht wird und nicht zuletzt diese beiden, bis in die Haarspitzen mit sprühender Begeisterung aufgeladenen Damen. Schon nach wenigen Runden und Studium einer Liste, wollten sie meinen Namen bestätigt haben: „Und du bist der Udo! Richtig?“ Meinem zu dieser Zeit noch kräftigen Bejahen folgt sogleich ein „Und der Udo hat schönes Hemd an!“. Selbst Stunden später, nachdem ich mich des leuchtend orangefarbenen Trägershirts entledigte, ist mir in vielen Runden ihre Unterstützung sicher. Während die Stunden sich ziehen wie Kaugummi, entwickele ich in Höhe ihres Standortes einen Reflex: Stelle instinktiv Blickverbindung her, heimse anerkennende Worte ein, Ansporn, Klatschen, zumindest ein freundlich aufmunterndes Nicken. Ich bin dankbar dafür.

Und das ist noch nicht alles. Laute, zumeist rockige Klänge - ‚läuft da nicht gerade ein alter Titel der „Stones“?’ - schallen aus ihrem „Ghettoblaster“. Im Takt der Musik unterhalten sie das Defilee der Ultras mit Spontanchoreografie: Wippen mit dem Kopf, schütteln sich, klatschen rhythmisch, steppen von einem Bein aufs andere oder schnellen wie Sprungfedern in die Luft. Runde für Runde springt der Funke über, zündet einen angenehmen Gedanken, unterstützt ein paar Schritte.

Und das ist immer noch nicht alles. Zeitgemäße Unterhaltung kommt nicht ohne Quiz daher. Irgendwann am Abend hängt der Computerausdruck an der Rückenlehne eines Stuhls: „Wie hoch ist der Kölner Dom?“ Noch in Hörweite erreicht mich die gutgelaunte Anweisung: „Los! Alle mitraten! Einfach schätzen!“ - Tatsächlich kann ich da nur spekulieren und gebe einen Umlauf später meine Mutmaßung kund: „110 Meter!“ Runden später dann die Auflösung: 157 Meter! ‚Ziemlich daneben!’ denke ich nur und trabe meines Weges. Ein, zwei weitere Umkreisungen vollendend, sehe ich mich mit der zweiten Frage konfrontiert: „Wie hoch ist das Völkerschlachtdenkmal?“ Leise Läuferstimme hinter mir zum Nachbarn: „Na in Leipzig! Die Völkerschlacht war in Leipzig!“ So viel weiß ich auch, immerhin trabte ich vor wenigen Wochen, der Route des Leipzig Marathon folgend, an eben diesem Denkmal vorbei. Klotzig, düster drohend, thronte es auf seinem Hügel. Aber die Höhe des hässlichen Steinhaufens kann ich wieder nur schätzen. „50 Meter!“ hauche ich der Quizmasterin hin. Wie es scheint bin ich notorischer Tiefstapler, denn wenig später lese ich „Das Völkerschlachtdenkmal ist 91 Meter hoch.“ Die Läuferbefragung zieht sich über Stunden hin, nötigt mir bei den meisten Aufgaben jedoch keine Antwort ab. Als zu dürftig erweisen sich meine jeweiligen Kenntnisse. „Welche berühmte Persönlichkeit wurde nur 42 Jahre alt und starb am 16. August 1977?“ - Vielleicht wäre ich im Vollbesitz aller Geisteskräfte auf ihn gekommen: The one and only Elvis! Aber eben nicht nach acht, neun Stunden stumpfen Rundensammeltrabs. Oder: „In welcher Stadt starb Ludwig van Beethoven?“ Immerhin geistern „Bonn“ und „Wien“ durch mein Oberstübchen, wovon ich ersteres zu Protokoll gegeben und mit letzterem ins Schwarze getroffen hätte. - Nach dem lachend hingepfefferten Vorwurf eines Läufers „Ihr habt’s ja nur mit Toten!“, wechseln die Quizmasterinnen das Thema. „Von wem stammt der Spruch »Quäl dich, du Sau!«?“ Beschämt gestehe ich mir ein, diese Maxime häufig gehört, gelesen, mich ihr vielfach intensiv unterworfen und dennoch nicht den Schimmer einer Ahnung zu haben, wessen Geist die Zote zeugte. So bildet sich während einiger Umkreisungen sogar ein wenig Spannung in meinem abgestumpften, zunehmend an rein gar nichts mehr interessierten Kopf. Bis ich lese: „Udo Bölts sagte das zu Jan Ullrich bei der Tour de France 1997.“ Also egal wie mein sportliches Abenteuer hier ausgeht, zumindest diese Wissenslücke bleibt von nun an geschlossen.

Signalfarbe

„Hallo Udo! Dein Laufshirt blendet einen wahnsinnig! Ich hab dich erst nicht erkannt!“ Ich kenn ihn, keine Frage. Wir sind uns vor nicht allzu vielen Wochen begegnet. Nur wo? Zwanzig mal Marathon und Ultra, von Husum bis Madrid, zig Bekanntschaften aufgefrischt und neue gemacht. Wo soll ich ihn hinstecken? „Woher kennst du mich?“ frage ich drum ein wenig peinlich berührt. „Na vom Rennsteig natürlich! Ich bin Burkhard!“ kommt es postwendend zurück. Über ein paar Sätze tauschen wir uns aus, dann gibt er ein wenig Fersengeld, läuft außer Sicht.

Runden später von hinten: „Mensch Udo! Das Shirt kann man echt nicht länger als ein paar Sekunden ertragen!“ Spricht’s, überholt und zieht wieder davon. Das nehm’ ich nun als wichtigen Hinweis. Die fast blind machende Madrid-Trophäe in grell leuchtendem Orange werde ich fürderhin in mein strategisch-taktisches Arsenal als verwirrende Psychowaffe aufnehmen. Und wenn nicht im Wettkampf eingesetzt - auch Trainingsläufe auf befahrener Route wollen überlebt sein.

Hundefänger

„Ich suche den Besitzer eines schwarzen, großen Rottweilers!“ - ‚Sind die nicht immer schwarz und groß?’ Die Frau in mittlerem Alter steht vor der ersten Kolonie des „Zeltplatzes“ und wiederholt ihre „Durchsage“ in gleichmäßigen Abständen, den vorbei schlurfenden Läufern zugewandt. ‚Ja glaubt die denn einer von uns Dauerläufern ließe seinen Hund frei rumlaufen oder hätte ihn schlecht gesichert irgendwo hinterlassen?’ Etliche Schritte weiter, nachdem meine behinderten Bio-Algorithmen die Information sinnvoll verarbeitet haben, rehabilitiere ich die Dame. Sie versteht natürlich nicht, was hier „abgeht“, sieht halt einige Damen und Herren in meist vorgerücktem Alter ein paar Runden drehen. Und so einer hat möglicherweise seinen Vierbeiner nicht ordentlich vertäut. - - - Runden später, hab die Anekdote längst vergessen, erblicke ich zwei Polizisten hinter dem Zählerzelt. Sie stehen neben ihrem Streifenwagen, beobachten scheinbar das Wettkampfgeschehen. ‚Wollen sicher ihren langweiligen Dienst ein wenig kurzweiliger gestalten und ein paar Irren auf dem Anstaltshof beim Rundendrehen zugucken!?’ So oder so ähnlich denkt’s in mir und schon hab ich die Streife wieder vergessen. - - Einen oder zwei vollende Zirkel danach treffe ich in Höhe der Kunstrasenplätze auf die Polizisten. Der eine hält einen mehrere Meter langen, metallisch glänzenden Stock in der Hand. Aus dem Ende der Vorrichtung entspringt eine weit geöffnete Schlinge. Weder bekam ich die vier Pfoten des Anstoßes zu Gesicht, noch könnte ich einen Erfolg der beiden Jäger an diesem Abend vermelden. Insgeheim hoffe ich, das Tier gelangte ohne Schaden anzurichten und zu nehmen, unbehelligt nach Hause …

Liveticker nach 8 Stunden:

Fortgeschrittene, erfüllte Beziehungen bestehen zwischen Partnern, die sich nur noch selten gegenseitig überraschen, dennoch ihr Zusammensein genießen und nicht selten das Wiedersehen herbei sehnen. Insofern könnte ich mit meinem Rundenzähler an dieser Strecke alt werden. Meine stete Laufweise, verlässlich wie der Wechsel von Tag und Nacht, entlockte ihm schon mehrfach ein anerkennendes „Super Udo! Schön gleichmäßig! Weiter so!“. Wir stellen Blickverbindung her, strecken einander die Arme entgegen und mittlerweile kenne ich sein volles Repertoire an Ermunterungen. Seine Aufmerksamkeit, sein buchstäbliches Aus-sich-heraus-gehen, wenn er mich der Registrierung versichert, möchte ich nicht missen. Seltsames Ritual. Ob er das ähnlich wahrnimmt?

Tempo unverändert, knapp über 80 Kilometer in den Beinen. Das gibt Befriedigung, stärkt mein Selbstvertrauen. ‚Noch zwanzig, dann hab ich schon 100 weg!!’ Nur geht der Rest an Laufspaß allmählich zur Neige. Willen holt sich erste Unterstützung beim Kampfgeist, um Schrittlänge und -frequenz zu halten. Dennoch kein Anflug von Depression oder Hoffnungslosigkeit. Woran liegt das? Wieso in Schwäbisch Gmünd in den Stunden Drei bis Sechs und heute nicht? Wieder und wieder lege ich mir diese Frage vor, finde keine Antwort. Liegt es an den körperlichen Rückmeldungen, die zwar bereits müde und schmerzende Beine signalisieren, aber eben auch Reserven für viele Stunden? Allein bin ich mit dieser inneren Wahrnehmung durchaus nicht: „Langsam wird’s hart! Es tut schon weh und noch kein Ende abzusehen!“ Ich kenne den Läufer nicht, der das vor einiger Zeit anmerkte, als wir wieder einmal auf gleicher Höhe trabten.

Zu dieser Zeit, ohne Kenntnis der Zahlen, habe ich mich in der Rangliste der DUV auf Position 11 verbessert.

Wieder schweben meine Gedanken über Berlin, wenden sich Richtung Ostbahnhof, in dessen Nähe das Zelt des „Cirque du Soleil“ stehen soll. In diesen Minuten beginnt die Vorstellung. Ich wäre gerne dabei, nur ist das hier kein 8-Stunden-Lauf. Selbst Darsteller einer recht langatmigen und für Zuschauer sicher ermüdenden Aufführung, bleibe ich noch ein Weilchen in meiner Umlaufbahn …

Der Krug geht so lange zum Brunnen bis er (er-) bricht

Kurz vor 20 Uhr sendet mein Magen Notsignale. Schwache zunächst, wodurch meine Fehleinschätzung, was nun Not täte, verständlich wird. Diese Situation ist für mich neu. Zwar kämpfte ich schon einmal, bei einem Berglauf, mit Übelkeit, doch war zu jenem Zeitpunkt mein Magen so gut wie leer und Auslöser war ein brachialer Schlussanstieg, mit dem ich nach fast 40 Kilometern nicht mehr rechnete. ‚Vielleicht gibt sich das flaue Gefühl in der kurzen Pause, wenn ich den ohnehin geplanten Trikotwechsel vorziehe!?’ spekuliere ich und bremse kurz nach Acht an meiner Tasche. Startnummernband lösen, nasses Shirt runter. ‚Mist!’ Über der linken Brustwarze hat sich eines der kreuzweise geklebten Pflaster gelöst! Also wegreißen und ein neues vorbereiten. Zwischendrin immer wieder trocken tupfen, Pflaster klebt schlecht auf feuchter Haut. Scheint zu halten! Neues Shirt drüber (Jeder soll sehen, dass ich auch mal in Biel war …), nasses in die Plastiktüte, Tüte verankern, falls Wind aufkommt. Und nun hätte ich einfach loslaufen sollen. Stattdessen begehe ich verhängnisvolles „Verdauungs-Harakiri“. Gelbeutel rausfischen, wieder antraben, aufreißen, Glibber in den Mund drücken, schlucken, die volle Widerwärtigkeit süßer Energie schmecken, Wasser hinterher schütten. Mit der Bemerkung „Ich hab mich umgezogen!“ und auf mein Hemd deutend, will ich am Zähler vorbei und in der Kühle des Abends abtauchen. Doch der ist in heller Aufregung. Sein bisher konstant zirkulierender Satellit blieb aus: „Hast du eine Pause gemacht Udo?“ Ich bestätige noch einmal den Trikotwechsel, nicke auch zur Zusatzfrage: „Dann hast du für diese Runde doppelt so lange gebraucht wie sonst?“ Für Sekunden bin ich gerührt, doch dann fordert der Oberbauch volle Aufmerksamkeit …

Mir kommt dieser blöde Schlagertext in den Sinn: ‚Mir ist so komisch zu Mute …’ Mein Magen zeigt mir ’nen Vogel, Meter um Meter verstärkt sich das Unwohlsein. Lange Gerade eins: ‚Vielleicht hilft’s, wenn ich eine Weile deutlich langsamer laufe!?’ Lange Gerade neben dem Kunstrasen: Es hilft nicht. Im Gegenteil, aus „unwohl“ wird „übel“. Lange Gerade entlang der Beachvolleyballfelder: Ich werde noch langsamer und die Übelkeit verstärkt sich. Ein paar Schritte später zwingt’s mich an den Wegrand. Ich huste einmal, zweimal. Dann entledigt sich mein Bauch eruptiv des „Problems“. „Armer Kerl! Das kenne ich!“ umfängt mich Mitleid eines vorbei trabenden Mitstreiters.

Nach einer Minute bin ich sicher, die „Sache“ überstanden zu haben und setze mich wieder in Bewegung. Ein Anflug von Panik erwischt mich: ‚War’s das jetzt?’ Ich sehe meine Felle davon schwimmen: ‚Was, wenn ich meinen Magen nicht mehr in den Griff kriege? Ohne zu Trinken geht’s nicht! Nicht 16 Stunden lang!!!’ Recht schnell weicht Konfusion nüchternem Überlegen. Wodurch entstand in meinem Magen ein so „explosives“ Gemisch? Zu viel durcheinander: Gel, Cola, Wasser, Iso, Kekse, Banane, zweimal sogar ein paar Erdnussflips, wegen des nicht süßen Geschmacks. Inzwischen haben wir die 20°C unterschritten und ich beschließe jetzt zwei Runden gar nichts mehr zu trinken. Dann einmal Wasser, danach ein Gel, weil ich die immer sehr gut vertrug, auch bei weitaus höherem Tempo. Und dann „schaun’ mer mal“.

Die Taktik bringt den gewünschten Erfolg. Nach Wasser und Gel greife ich auch wieder zu Cola, rühre nichts anderes mehr an. Die Übelkeit bleibt einmalige Episode. - „Geht’s dir wieder besser?“ erkundigt sich Marika Heinlein, die spätere Erstplazierte bei den Frauen. „Ja, ich denke ich konnte meinen Magen wieder stabilisieren.“ gebe ich zur Antwort. Sie fügt noch ein lakonisches „Schön!“ an, dann trabt jeder seiner Wege …

Schichtwechsel

Mein Zähler hat gewechselt. Der „Alte“ macht mich „en passant“ mit dem „Neuen“ bekannt. ‚Oh weia! Das ist ja ein verschlafenes Kerlchen!’ denke ich nach den ersten drei Runden, bis mir klar wird, dass der Nachfolger sich in seinem „Job“ erstmal orientieren musste. Danach entwickele ich zu ihm ein gleichermaßen „inniges“ Verhältnis. Überhaupt gilt es das gesamte Spalier der Rundennehmer (-innen) zu loben. Ihr lang gezogenes „Udooooo …!“ schiebt mich von A über V bis Z. Sie geben mir mentale Kraft. Das steht außer Frage. Ob sie in anderen auch den Eindruck erwecken nahezu alleinig ihn oder sie anzufeuern?

Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden.

Musische Erbauung wird uns am Spätnachmittag geboten. Zunächst ließ sich ein Sitar-Spieler ausgangs der ersten Geraden nieder. Unterm Baldachin, mit elektronischer Verstärkung durch ein altes Kofferradio (oder war das ein Kassettenrekorder, der die rhythmische Begleitung einspielte?), begann er sein Instrument zu stimmen. Sodann wurde der laufende Tross, Umlauf für Umlauf, mit fremdartig klingenden Weisen unterhalten. Anfangs empfänglich zuhörend, entwickele ich mit fortschreitender Anstrengung ziemliche Gleichgültigkeit gegen das esoterische Gezupfe. Irgendwann am Abend packte er zusammen und verschwand.

Ein paar Meter weiter steht ein anderes Duo, ausgestattet mit Akkordeon und Steel Pan (Steel Drum). Zwei, drei Runden lang höre ich dem Geklimper auf Blechfass und Harmonika unentschieden zu, dann beginnt es mir gehörig auf den Wecker zu fallen. Irgendwie klingt alles gleich langweilig. Dankbar registriere ich spät abends, dass auch diese Musikanten ihre Darbietung einstellten.

Uns bleibt auch nichts erspart! Ein Trompeter postierte sich vorm Stadionrund und schmettert Bekanntes. Nur leider mit vielen schrägen Tönen, die entsetzlich ins Trommelfell schneiden. Fanfare um Fanfare entlässt er in den unschuldigen Abendhimmel und mit wachsender Dauer seines Spiels vermehren sich die Misstöne. ‚Der sollte einfach mehr üben!’ denke ich peinlich berührt. Andere empfinden’s anders. Ein begeisterter Läufer bricht gar aus dem Orbit aus, um dem Genuss zu lauschen und den Bläser in ein Gespräch zu verwickeln. Runde xx: ‚Ah! Schön! Dem Herrn ist nun auch die Puste ausgegangen!’

Nach und nach legt sich Stille über den 1025 Meter Rundkurs …

Liveticker nach 10 Stunden:

Die 100er-Ehrenrunde steht an! Mit den Worten „Udo, es ist mir eine Ehre!“ händigt mir mein Rundenzähler das 100-Km-Fähnchen aus. Soll ich zugeben, dass Ehre mir zur Last gerät? Das flatternde Ding durchs Rund zu führen kostet Kraft. Aber die krieg ich vielfach zurück. Kaum einer der überholten Mitkämpfer schweigt. Ihr „Bravo!“, „Super!“, „Klasse!“ begleitet mich auf einem Kilometer. Auch im inzwischen nur noch spärlich besetzten Bereich des „Campingplatzes“ gibt’s Beifall. Und vor der lauthals jubelnden Schar der Rundenzähler gebe ich meine Auszeichnung wieder aus der Hand …

Trotz der Einbuße infolge Unpässlichkeit und Trikotwechsels gelingt mir der Hunderter planmäßig nach 10 Stunden. Mein Tempo hat sich nur leicht reduziert. Von der Übelkeitsattacke blieb nichts übrig, Ober- und Unterbauch fühlen sich vollkommen normal an. Aber ich kämpfe jetzt. Der Wunsch aufzuhören wird stärker. Müde bin ich, außerdem tun mir alle Laufknochen weh. Der Körper wehrt sich vehement gegen den Willen zu laufen. Aber es hat keine mentalen Konsequenzen in Form von Niedergeschlagenheit oder schwindender Hoffnung. Warum nur? Trat da eine psychische Schutzschaltung in Kraft, weil ich stundenlange Verdrossenheit einfach nicht ertragen könnte? Hat das 12-Stunden-Erlebnis meine Emotionen abgehärtet? Meine Entschlossenheit den Wettkampf fortzusetzen ist jedenfalls nicht im Mindesten angekratzt.

Plötzlich stand es hinter der großen Uhr, das „Leader Board“. Die führenden 7 Weiblein und Männlein stehen darauf verzeichnet. Hinter Rang, Startnummer und Name stehen die geleisteten Kilometer. Meine Wahrnehmung entpuppt sich als schon sehr lückenhaft. Automatisch gehe ich davon aus dort die jeweils ersten zehn aufgelistet zu sehen. Erst spät in der Nacht wird mir klar, dass die Liste bei Platz sieben endet. Zwei, drei Runden brauche ich, um die Namen durchzugehen. Instinktiv bin ich sicher, ziemlich weit vorne zu rangieren. Allerdings weist mein momentaner Zwischenstand etwa drei Kilometer zu wenig aus, um auf dem Bord zu erscheinen. Zumal mir anfangs die Aktualität des Anschlags nicht klar ist. Von wann datieren diese Zahlen?

Zu dieser Zeit, nur mit der ungewissen Bord-Info versorgt, verzeichnet mich die Rangliste der DUV auf Position 10.

Hinterm Zaun, vor den Hallen und auf dem Trampolin hat vollkommene Stille Einzug gehalten. Die Wasserrutsche liegt schlaff und zusammen gesunken am Boden. Nach und nach verschwanden Eltern und Kinder. Zuletzt lugten noch ein paar Sprösslinge über den Zaun, wollten einfach wissen, was wir hier tun. Einmal hörte ich, wie sich das für Außenstehende Unglaubliche einem Echo gleich fortpflanzte. Aus einem Läufermund: „24 Stunden“. Kinder an die Eltern: „24 Stunden!“. Die Erwachsenen untereinander ein wenig fassungslos: „Was? 24 Stunden?“ …

Es werde Licht.

Wir haben einen viel versprechenden Sonnenuntergang hinter uns. Über viele Minuten färbte sich der Himmel von gelb nach rot, malerisch auch ein paar eingelagerte Wölkchen. Mehrfach hob ich den Kopf, um dieses Schauspiel zu sehen. Rechte Freude kommt nicht auf. Sie ist da, ich bin sicher. Nur überdeckt der quälende Prozess monotonen Laufens inzwischen alles. Auch die Tatsache, längst mit dauer-gesenktem Kopf unterwegs zu sein, spricht Bände. Mehrmals rüge ich mich dafür, versuche meine Haltung zu korrigieren. Irgendwann akzeptiere ich es dann, habe einfach das Gefühl auf diese Weise besser laufen zu können.

Schon am Nachmittag begannen ein paar Helfer damit den Kurs an jenen Stellen für die Nacht vorzubereiten, wo die Straßenbeleuchtung Lücken aufweist. In Höhe der Kunstrasenfelder steht ein starker Strahler, diverse andere Passagen wurden mit Glühlampenketten versehen. Ab etwa 23 Uhr hebt sich das Kunstlicht deutlich vom Restlicht am Himmel ab.

Was macht meine Ines? Die Vorstellung wird jetzt vorbei sein. Sie wird sich noch auf ein Gläschen mit den Freunden zusammensetzen. Erst weit nach Mitternacht erwarte ich sie zurück …

Gegen 23 Uhr überlaufe ich eine meiner Bestmarken. 110,089 Km waren die weiteste, bisher bewältigte Entfernung. Freude? Fehlanzeige. Die geht im harten Kampf unter. Aber es spornt mich an. Durchhalten!

Liveticker nach 12 Stunden:

Kurz nach Mitternacht ist es soweit: 120 Kilometer sind geschafft! Mein Zwischenziel ist erreicht! Mit verschiedenen Überlegungen beeindrucke ich mich selbst: ‚Beim 12-Stunden-Lauf erlief ich in derselben Zeit fast zehn Kilometer weniger und kann immer noch laufen. Ein Ende ist nicht abzusehen! Volle 12 Stunden Zeit bleiben mir für die restlichen 80 Kilometer! Das muss doch zu packen sein! Das ist zu packen!’ Balle ich entschlossen die Faust‚ als ich denke: ‚Ich schaffe das! Es geht!’? - Kopfrechnen: 80 Kilometer geteilt durch 12 Stunden. Ergibt deutlich unter 7 km/h! Es wäre sogar zu packen, wenn ich längere Abschnitte stramm marschierte …

Noch trennen mich ein, zwei Kilometer vom Ende des „Leader Boards“. Auf der nachträglich eingesehenen DUV-Liste stehe ich nach 12 Stunden auf Platz 8, mithin unmittelbar hinter der letzten Bordposition. Das hätte ich gerne gewusst, mich davon beflügeln lassen, denn jedes Quäntchen positiver Wahrnehmung hilft durch die Nacht.

Vielleicht liegt es am steten Kilometerzuwachs!? Oder das planmäßige Erreichen des Zwischenzieles „120“ „programmiert“ positives Denken. Überraschend macht mir die Dunkelheit nichts aus. Überhaupt nichts. Nicht mal ansatzweise schleicht sich das zuletzt auf Schwarzwald-Nachtkurs erlebte, ekelhafte Gefühl von Verlorenheit ein. Streckenbeleuchtung und der über einer Metropole wie Berlin nicht völlig dunkle Himmel spielen sicher eine Rolle. Jedenfalls bin ich heilfroh nicht zusätzlich inneren Teufeln wehren zu müssen. Der Lauf an sich ist schwer genug.

Wie schwer? Der Stoffwechsel muss unausgesetzt Energie zur Muskelbewegung mobilisieren. Diesen steten Energiefluss spüre ich physisch als ein nicht enden wollendes, schmerzhaftes Ziehen im ganzen Körper. Leiden, das schwach genug ist, um ertragen werden zu können. Aber doch so einschneidend, dass ich unheimlich gerne stehen bleiben würde. Darein mischen sich Klagen hoch beanspruchter Sehnen, Gelenke und Muskeln. Vielleicht gibt es Läufer, die auf diesem Level, irrsinnig lange im eigenen Grenzbereich laufend, noch Freude empfinden. Ich gehöre nicht dazu. Es ist einzig Kampf, den ich so wollte. Jetzt stelle ich mich ihm und halte durch.

Zwischen Vergehen und Werden

Irgendwann in der 13. Stunde wurde mir bewusst, dass meine zweite bisherige Bestmarke fiel. Ich laufe länger als 12 Stunden! Ein schöner Gedanke, Anreiz zum Weitermachen, doch beinahe rascher aufgezehrt, als er sich entwickeln konnte …

1 Uhr: Noch immer keine Spur von Ines. Ich kann mir den ungefähren Weg vorstellen, den sie mit S-, U-Bahn und Bus durch den Moloch Berlin nehmen muss. Vielleicht keimt deshalb ein wenig Sorge auf. Immer wieder wische ich unnütze Bedenken zur Seite. Aber Gedanken lassen sich noch weniger aufhalten als mein seit 13 Stunden laufender Körper: ‚Was mach’ ich, wenn sie ausbleibt? Ich wär’ völlig hilflos. Wo sollte ich suchen? Und mein Handy hat sie mitgenommen.’ Lauf weiter und brüte keine ungelegten Eier aus!

Dennoch bin ich heilfroh, als sie kurz darauf freudestrahlend am Streckenrand auftaucht! Rasch berichte ich von 131 gelaufenen Kilometern, dass es schwer ist, aber immer noch einigermaßen geht. Ich frage nach ihrem Abend. Toll war’s, wie erwartet! Dann verschwinde ich in der Dunkelheit. Sie schießt noch ein Foto und zieht sich mit guten Wünschen in unser Hotelzimmer zurück. 133 Kilometer stehen zu diesem Zeitpunkt zu Buche und das „Leader Board“ lockt …

Mitten in der Nacht beginnt man die Beleuchtung zu ergänzen. Die Ecken zwischen den langen Geraden lagen bisher in tiefem Dunkel. Das schien undramatisch, da es keine großen Unebenheiten auf der Strecke gibt. Und nun werden just in diesen Zonen weitere Leuchtkörper aufgestellt. ‚Wieso erst jetzt?’ frage ich mich. Eine Läuferin hinter mir kommentiert’s auf ihre Weise: „Früher gab’s gar kein Licht und es ist trotzdem nix passiert!“ Hat ihr das lange Laufen geschadet oder warum redet die einen solchen Blödsinn? Irgendwie bin ich froh nicht zu wissen, wer dergleichen Unfug absondert. Dabei weiß ich zu diesem Zeitpunkt nicht mal, dass es einen Unfall auf der Strecke gab. Marika Heinlein stürzte und erlitt schauerlich aussehende Blessuren im Gesicht. Nachdem man sie verarztete konnte sie gottlob den Lauf fortsetzen.

Mein Tempo hat sich reduziert, liegt nun merklich über 6 min/km. Gegen 2 Uhr stehen 138 Kilometer in der Liste des Rundenzählers. Ach ja, der Rundenzähler! Was für ein Verbündeter in der Nacht! „Super Udo! 138 Kilometer! Schön gleichmäßig! Weiter so!“ Nicht einmal, nicht mehrfach, wirklich bei jeder Runde bekomme ich eine Ansage, ernte Lob, werde mit Aufmunterung in den nächsten Umlauf geschickt. Fantastische Unterstützung! Und das lang gezogene „Udooooooo! Bravooooooo!“ zwischen Platz A bis Z tut ein übriges. Was hätte ich von einem Chip am Fuß? - Könnte mich jederzeit nach meiner Position erkundigen, hätte völlige Sicherheit keine Runde zu verlieren. Aber die hab ich auch so. Durch die fortlaufende Ansage kann gar keine Runde verloren gehen, ich würde es merken. Und die Erkundigung des Zählers, als ich mein Trikot wechselte, bestätigt dessen Aufmerksamkeit. Nein, das hier ist besser als jede Elektronik! Menschen die mich wahrnehmen, die mich unterstützen, anspornen, deren Begeisterung mich stückweit trägt!

140 Kilometer geschafft! Nur noch 60 bis 200! Einmal mehr rechnet mein Kopf und kalkuliert, dass nicht mal mehr 6,5 km/h im Schnitt erfordlich sind. Gewaltmarschtempo! Im Grunde bräuchte ich jetzt nur noch einen kleinen Teil zu laufen und könnte den Rest zügig gehen … Ich werde es schaffen! Aber ich werde auch versuchen nicht zu gehen!

Bei jedem Passieren des Bords steigt meine Spannung. Inzwischen besteht keine Kilometerdifferenz mehr zu Position Sieben! Aber wie aktuell sind die Zahlen auf dem Bord? ‚Dicht dran! Du bist ganz dicht dran!’

Im „Campingbereich“ regt sich kaum mehr Leben, man hat sich zum Schlafen in die Zelte und Wohnmobile zurück gezogen. Ein paar standhafte Betreuer und Betreuerinnen harren aus. Franz’ Frau zum Beispiel, dick verpackt in warme Klamotten, sitzt neben einer ebenso vermummten Bekannten im Campingstuhl. Also muss Franz auch noch unterwegs sein!? Irgendwann am Nachmittag / Abend sprach ich mit ihm, erfuhr von Schwierigkeiten. Wie’s ihm wohl geht?

2:30 Uhr: Schon beim Herannahen ruft mir der Mann am Leader Board, mein vormaliger Zähler, die frohe Kunde zu: „Udo, du bist jetzt auf Platz 6 am Bord! Supergut! Mach weiter so!“ Mein Zähler setzt noch eins obendrauf „Bravo Udo! Jetzt am Bord! 142 Km!“ Ein wenig betäubt biege ich auf die lange Gerade, schlüpfe in die Nacht. Natürlich arbeitet es in meinem Kopf: ‚Ich hab’s doch gewusst! Die ganze Zeit schon! Und gleich an Platz 6 eingestiegen!? Dann müssen gleich zwei Läufer eine Pause eingelegt haben!’ Ein bisschen Aufregung, willkommene Abwechslung! Und mehr: Befriedigende Bestätigung, es tatsächlich auch mal auf das Bord geschafft zu haben, dort den eigenen Namen zu lesen. Nur ziehe ich ganz selbstverständlich in Betracht, demnächst dort wieder zu verschwinden: ‚Irgendwann kommen sie zurück, dann war’s das! Schade, dass Ines das nicht sehen kann!’

3 Uhr nachts: Über den Bäumen zeigt sich schwacher Lichtschimmer. ‚Kann das schon die Morgendämmerung sein?’ Ich erwarte sie viel später. Runde um Runde hellt sich der Himmel auf bis kein Zweifel mehr möglich ist: Die Nacht wird bald hinter mir liegen! ‚Immer noch 9 Stunden zu laufen. Wie soll ich das nur schaffen?’ Meine Erschöpfung ist weit fortgeschritten. Laufen hat absolut nichts Schönes mehr an sich, ist vom Vergnügen so weit entfernt wie die Erde von der Sonne. Es tut einfach nur noch weh. ‚Aber es muss gehen! Ich kann es schaffen! Hab eine Riesenchance die 200 zu packen! Einfach nur weiterlaufen! Einfach nicht stehen bleiben!’

Ob man spürt, dass mir Zuspruch gut tut? Immer wieder bekomme ich auch ein Wort des Ansporns von anderen Satelliten im Orbit, wenn ich sie überhole. Angemessen leise natürlich, müssen ihre Kräfte auch einteilen: „Bravo!“, „Toll!“, „Super!“ Auch ich verteile Lob mit gedämpfter Stimme, wenn mal wieder eine oder einer mit dem 100-Kilometer-Fähnchen seine Ehrenrunde dreht.

4 Uhr: Noch acht Stunden, zwei Drittel liegen hinter mir. Der nahende Tag spendet bereits so viel Licht, dass man gut und gerne jegliche Beleuchtung ausschalten könnte. Ausschalten! Wenn ich jetzt einen Wunsch frei hätte, würde ich meine Gefühle ausschalten. Nicht mehr diese wehen Füße und Beine spüren müssen. Wenigstens ein paar Stunden dieser irren Anstrengung entfliehen. Ich will aufhören! Aber ich will auch weiterlaufen! ‚Ich kann bald nicht mehr!’ ich gestatte mir diesen Satz, immer wieder. Warum nicht innerlich ein bisschen jammern. „Bald nicht mehr!“ Keine Ahnung wann „bald“ sein könnte. Irgendwann, aber eben jetzt noch nicht …

158 Kilometer auf dem Konto! Mein Zähler hat’s bestätigt. Sie haben wieder getauscht, der Mann vom Bord übernimmt erneut die Rundenvermerke. Noch 42 Kilometer, um die 200 voll zu machen. ‚Jetzt „nur“ noch ein Marathon und ich hab die 200!’ Ich hoffte von dieser Aussicht einen Schub zu bekommen, hab den Moment in den letzten Runden herbei gesehnt. Aber es geht kein Antrieb davon aus, wie vor Wochen beim 12-Stunden-Lauf. Ich bin einfach schon zu ausgelaugt. Dort war ich vergleichsweise frisch und hier gehe ich schon länger auf dem Zahnfleisch.

Irgendwann das Shirt gewechselt. Bin jetzt in Himmelblau-Ärmellos unterwegs. Plötzlich schien mir das Biel-Hemd zu warm. Bleib ehrlich Udo! War’s nicht auch die Aussicht auf zwei Minuten technische Pause, die dich in Versuchung führte? Egal was den Ausschlag gab, richtig war’s auf alle Fälle. Erneut musste ich ein Pflaster ersetzen, das sich unbemerkt löste.

160 Kilometer: Ich rechne wieder. Unter zähem Ringen bilden sich Zahlenfolgen im Kopf, arithmetisches Kombinieren verzehrt den Rest meiner Geisteskraft. Überlanges Laufen bindet Intelligenz. In der Endphase sicher und hoffentlich nur so lange es währt … Brauche zwei lange Geraden für die Logik, dann liegt das hoffnungsvolle Ergebnis vor: ‚Von jetzt an könnte ich es mit schnellem Gehen packen! 6 km/h würden genügen!’ Natürlich ist das Schiff bis kurz vorm Hafen in Gefahr zu sinken. Ich schließe nicht aus, irgendwann keinen Fuß mehr vor den anderen setzen zu können. Die Ungewissheit bleibt. Über Körper- oder gar Laufgefühl, das mir eine verlässliche Prognose gestattet, verfüge ich nicht. Dennoch wächst mein Optimismus die Aufgabe zu lösen. Nur noch 40 Kilometer bis dahin! ‚Nur noch 40!“

Und es ward Abend und es ward Morgen …

5:15 Uhr: Durch die Baumwipfel über den Kunstrasenfeldern blitzen und stechen erste Sonnenstrahlen. Ein wohltuender, ein hoffnungsvoller Augenblick, untermalt von der gewohnten Gefühlsskala, wenngleich mit flacher Erregungskurve, nicht annähernd so impulsiv wie sonst. Was fehlt ist das übliche Quantum Freude. „Sich freuen“ scheint einen hohen inneren Energiebedarf zu haben. Und Energie brauche ich samt und sonders für meine Beine. Immer wieder versuche ich mich an Durchhalte-Prognosen, stelle dazu Vergleiche an. Wie fühlte es sich vor zwei Stunden an, vor vier, um Mitternacht und wie schwer fällt es mir JETZT? Aber das ist sinnlos. Die Ermüdung greift schleichend um sich und die vergangenen Stunden existieren nur als Erinnerungsbrei in meinem Kopf. Es tat vor zwei, vier, sechs Stunden schon „schweineweh“ und daran hat sich nichts geändert. Wie lange noch? ‚Vielleicht halt’ ich es nicht durch, aber ich will! Ich will laufen, nicht gehen! Laufen!’

Läufers Herrlichkeit liegt vor der Nacht. Was hier kreist ist ein Schatten seiner selbst. Ein wenig läuferischer Sachverstand und schon fügen sich Indizien zu schlüssigem Tathergang. Da ist die Prozedur der Verpflegung. Lange her, dass ich Becher im reduzierten Trab leerte und den Inhalt von Gelbeuteln in der Bewegung zu mir nahm. Das geht so nicht mehr! Ich bringe nicht mehr die Kraft auf zwei Prozesse gleichzeitig zu koordinieren. Auch die Willenshürde, auf die paar Sekunden Stehen oder Gehen zu verzichten, ist zu hoch. Selbst das Wissen um den unsäglichen Wiederanlaufschmerz, dieser Schrei aus allen Fasern nach Ruhe, wiegt da gering. Nacht und Morgen sind kühl, nicht nach jeder Runde darf ich trinken. Ein Entschluss, nach dem nächsten Umlauf nicht zu trinken, spaltet mich für Momente. Die gequälte Mehrheit stöhnt, fühlt sich um ihr gerechtes Sekundenpäuschen betrogen. Aber Vernunft verlangt’s und ungebrochene Sturheit setzt’s durch.

Auch ein Blick auf meine Laufhaltung, die ich tatsächlich wahrnehme, als sähe ich mich von außen, spricht Bände. Den Kopf fast auf der Brust, Oberkörper leicht nach vorne gebeugt. Ausgeruht laufe ich mit fast senkrechter Körperachse. Jeder Korrekturversuch endet als Rückfall. Ich bereue inständig, Krafttraining (Rücken vor allem, Bauch, Hüften, Gesäß) zugunsten von noch mehr Trainingskilometern geopfert zu haben. Es geht nicht darum „besser auszusehen“, noch würde es sich leichter anfühlen. Nur wäre dieser Lauf mit optimiertem Halteapparat insgesamt besser durchzustehen …

6 Uhr: ‚Verdammt! Noch immer sechs Stunden zu laufen! Ich kann bald nicht mehr …’ Hab mir inzwischen etwas mehr als 170 Kilometer erkämpft und immer wieder gerechnet. Zweifel an den „200 Km“ sind längst zerstreut. Vielleicht, weil zweifeln auch Kraft kostet. Vor allem, weil jede meiner Bruchrechnungen ein geringeres „Resttempo“ ergab. Mittlerweile reichten mir bereits 4,5 km/h. Rechnen ist überhaupt ein nettes Steckenpferd, wenn man Stunden geistiger Untätigkeit zu füllen hat. So versuche ich auch den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem die 200-Kilometer-Marke fällt. Eine Gleichung mit zumindest einer Unbekannten: Wie entwickelt sich mein Tempo? Ich tippe auf 10 Uhr! Unmerklich reduzierte sich meine Laufgeschwindigkeit in den letzten Stunden. Ich nahm’s als unaufhaltsam hin. Erstens reicht das Tempo, zweitens triebe mich Gegenwehr in frühzeitige Erschöpfung. Das kann ich mir nicht leisten, will dieses „Ding“ laufend beenden.

Am Himmel: Die Sonne hat ihr Versprechen gebrochen. Schon kurz nach jenem verheißungsvollen Blinzeln, versteckt sie sich hinter einer geschlossenen Wolkendecke. Heute bin ich ihr nicht gram, bedanke mich gar für die andauernde Morgenfrische. Auf dem „Campingplatz“: Da rührt sich wenig. Wer ausharrte, sitzt müde und steif, die Mehrheit schläft. Schlaf! Wie wär’ das schön! Im Hotel: Ines schläft auch noch. Will ein paar Kilometer mehr vorweisen können, wenn ich sie wieder sehe. Im Startbereich: Unermüdlich werden Becher gefüllt, Portionen auf dem Läuferbuffet angeordnet. Viele Hände werkeln. Andere zählen und schreiben. Hab wieder einen Neuen. Gleichermaßen quick wie die anderen, versorgt er mich ständig mit Runden- und Kilometerwerten, lobt, feuert an. Jedes Quäntchen Aufmerksamkeit sauge ich auf wie ein trockener Schwamm, transformiere es in Durchhalten. Das „Leader Board“ entwickelt sich zum Motivations-Dauerbrenner. Entgegen meiner Erwartung abzurutschen, verbessere ich mich sogar auf Platz fünf und irgendwann auf vier. Dennoch erfasse ich nicht den eigentlichen Wahnsinn dieser Anzeige. Das hier ist die deutsche Meisterschaft. Nur taucht der Begriff „Deutsche Meisterschaft“ in meinen spärlichen, ungelenken Gedanken gar nicht auf. Alle paar Minuten sehe ich meinen Namen auf dem „Leader Board“ und alle paar Minuten blickt mir der Mann am Bord entgegen. Er tauscht die Endziffer gegen einen höheren Wert, liest mir das Erbrachte vor und verpasst mir einen Nachbrenner: „Weiter so Udo! Super!“

‚Ob ich mich auf dem Bord halten kann, bis Ines mit der Kamera kommt?’ Im Nachhinein mag diese Überlegung all jenen einfältig vorkommen, die mich schon vorab auf über 200 Kilometer taxierten. Für einen reichlich entkräftet kreisenden Wettkämpfer ist der innewohnende Zweifel nötig. Zwar liegen die nächsten beiden Konkurrenten nahezu konstant zwei Runden hinter mir. Das heißt aber nicht weniger, als dass sie mit ebensolcher Stetigkeit ihre Umläufe vollenden wie ich. Da kann noch viel passieren und ich will mich vor Enttäuschungen wappnen.

7 Uhr: Situation unverändert. ‚Oh Mann, noch elend lange fünf Stunden. Wie soll ich das nur schaffen. Ich kann bald nicht mehr …’ Bin ich schwach, weil ich innerlich wehklage, oder bin ich stark, weil ich trotzdem unausgesetzt Laufschritte aneinander reihe? Ich weiß nicht mehr was ich bin. Aber was ich bin, wird immer weniger, verbraucht sich, schrumpft. Dennoch gibt es mich noch. Die anderen sind mein Spiegel. Warum geben sie mir immer mal wieder ein Wort der Bestätigung mit auf den Weg, wenn ich vorbei trabe? Ein tolles Völkchen diese Ultras. Dann ist da noch Burkhard. Zunächst unerkannt, einer der vielen bunten Flecken vor und neben mir. Differenzierendes Sehen war gestern. Sobald wir uns begegnen spricht er mich an. Fragt nach dem Befinden, unterstellt mir den bevorstehenden Erfolg, lobt, spornt an. Ich antworte mundfaul, nichts härter als jetzt reden. Beschränke mich nach Möglichkeit auf Gesten.

Noch mal das Shirt gewechselt! In den letzten Stunden will ich „Flagge“ zeigen, meinem Verein Reverenz erweisen. Alle sollen sehen für welchen „Stall das Pferdchen“ rennt. Unumwunden gebe ich zu, dass das Minutenpäuschen den inneren Jammerlappen erfreute. Umso härter trafen ihn die ersten Schritte danach. Fast eine Runde brauche ich, um wieder auf gewohnte Touren zu kommen.

8 Uhr: Die Gegenläuferin ist wieder da. Hat wohl ausgeschlafen, macht ihren Morgenspaziergang. Wieder anerkennendes Nicken, leise hin gehauchte Bestätigung. Hoffentlich steht sie auf extrem lange Morgenspaziergänge …- ‚Ob Ines schon aufgestanden ist?’ - Noch immer auf dem Bord, noch immer auf Platz 4, noch immer mit zwei Runden Abstand zum nächsten. - Auf dem „Campingplatz“ regt sich Leben, scheinbar kriecht man aus den Schlafsäcken. - Die Tortur ist konstant. Objektiv betrachtet sollte mich das „freuen“, konstant bedeutet eben auch nicht schlimmer. ‚Kann’s noch weher tun? Ach, was weiß denn ich! Denk nicht, lauf!’ - 187 Kilometer sind mein! ‚Noch dreizehn, nur noch dreizehn!’

Der „nervige Unverstand“ hat die Nacht auch überlebt. Laufen sah ich ihn nicht mehr. Gehend murmelte er Unverständliches, wenn ich ihn überholte. Einen Satz verstehe ich dann doch: „Ich könnte heulen!“ Spontane Gedanken hätte ich mir gar nicht mehr zugetraut, aber es drängt sich eben auf: ‚Heul doch!’ Ich sag’s nicht, denk’s nur. Wer einen 24-Stunden-Lauf so - pardon - dämlich, fast im Marathontempo, angeht, sollte sich anderntags nicht beklagen.

Die Sonne geht auf

8:50 Uhr: Plötzlich steht Ines an der Strecke. Meine Stimmung vollführt einen winzigen Luftsprung - was halt noch geht. Einen Moment bleibe ich stehen, genieße ihr Lachen, sprudele das Wichtigste staccato heraus: „Hab 194! Schwer! Fotografier mal das Bord! Steh drauf!“ Und dann will ich wenigstens einmal das ganze Leiden an jemanden hinjammern: „Ich kann bald nicht mehr!“ Ihre ganze Haltung, das Lächeln im Gesicht, noch mehr die Stimme versprühen Optimismus: „Ist nicht mehr lang! Das schaffst du jetzt auch noch! Ganz sicher! Halt durch!“ Sekunden, Worte, die ich gebraucht hab, es geht ein klein wenig besser. ‚Aber immer noch über drei Stunden!’

Zwei Runden unterstützt sie mich mit ihrer Nähe, lichtet mich ein paar Mal ab. „Hast schon gefrühstückt?“ will ich wissen. „Nein. Ich geh’ jetzt zurück ins Hotel.“ Sie erwartet unsere Freunde zum gemeinsamen Frühstück und wird sie dann mitbringen.

9:30 Uhr: Mit riesigem Hallo zelebrieren Zählergemeinde und „mein“ Mann am Bord den wichtigen Moment. Unter geradezu frenetischem Jubel vom Zählertisch überreicht er mir das Ehrenfähnchen „200 Km“. So aufrecht wie irgend möglich mache ich mich auf den 1025 Meter langen Ehrenweg. Bin ständig darauf bedacht, mit dem flatternden Stoff möglichst wenig Windwiderstand zu erzeugen. Wenn ich noch die Kraft hätte, würde ich es in vollen Zügen genießen: Das Wissen die eigene Vorgabe geschafft zu haben, sogar zweieinhalb Stunden vor der Zeit! Das ständige verbale Schulterklopfen der überholten Mitleidenden. Ausnahmslos anerkennen sie den vollbrachten Gewaltakt. Keiner kann besser beurteilen, mitfühlen, was hinter 200 Kilometer unausgesetztem Kreisen steckt als sie … Noch einmal den Jubel vom Zählertisch, ein Blick auf’s Bord - 200 Km! - dann in die nächste Runde …

Was jetzt? Seit über 22 Stunden war ich auf diese eine Zahl fixiert: „200“. Fixpunkt, fixe Idee, Fixum für einen Tag Laufen. Ganz schnell muss für das zweite Ziel „Nicht Gehen!“ eine neue Taktik her. Noch bin ich nicht am Ende, fühle mich aber dicht dran. Jetzt setze ich auf Sicherheit, wenngleich es bedeuten kann vom Bord zu fliegen. Lauftempo so weit reduzieren, dass es gerade noch als „Laufen“ durchgeht! Fortan tippele ich vor mich hin. Nie zuvor, weder im Wettkampf, noch im Training, lief ich derart langsam! In steilen Anstiegen natürlich, aber nicht in brettflachem Gelände. ‚Lauf langsam! Werd’ nicht schneller! Halt durch!’ Immer wieder ertappe ich mich dann doch bei verlängerten Schritten, zwinge mich zu bremsen. Noch nie dehnte sich eine Stunde, eine Minute dergestalt in die Länge. Die Zeit scheint manchmal still zu stehen. Zeit ist relativ.

Im Grunde ist mir egal, wie viele Kilometer jetzt noch zusammen kommen. Mein neuer, alter, jetzt einziger Fokus heißt „Laufen, nicht gehen, auf keinen Fall gehen!“ Also tippele, schlurfe, tappe ich weiter im Rund. Das kann nicht gut aussehen. Das muss sogar nach baldigem Umkippen aussehen. Burkhard liefert mir die Bestätigung, macht sich Sorgen, erkundigt sich, rät zur Einsicht: „Komm Udo, geh ein Stück! Es ist keine Schande mal zu gehen!“ Eine Schande ist es sicher nicht, aber auch nicht mit meinem Ziel vereinbar. Und ich gebe erst auf, wenn die Umstände mich zwingen. „Geht schon!“ hab ich wohl gebrummelt.

Irgendwann muss ich mal, schere auf der ersten langen Geraden zwischen die Bäume. Erledigt. Zurück auf die Betonstraße. Will nach rechts, schaue kurz nach links. Blicke in ein gezeichnetes Gesicht. „Was hast DU denn gemacht?“ frage ich Marika Heinlein bestürzt. Abschürfungen, blaue Flecken, Pflaster verunstalten mehr als eine Gesichtshälfte. „Bin in der Nacht mit einem Läufer zusammen gestoßen und gestürzt.“ Dann ist sie vorbei und ich nehme wieder Fahrt auf. Pure Folter! Wahnsinn, wie weh das tut! Komme kaum in die Gänge, brauche fast eine Runde, um so etwas wie „Laufrhythmus“ zu finden …

Der Sitar-Spieler hat wieder unter seinem Baldachin Platz genommen, entlockt seinem Instrument neuerlich fremde Klänge. Soll er doch. Es ist mir ganz und gar und von Herzen „wurscht“.

Ein seltsamer Zweikampf ist entbrannt. Kontrahenten sind die Herren auf Platz 4 und 5 am Bord. Seltsam aus zwei Gründen. Der Udo kämpft eigentlich gar nicht gegen den Verfolger, tippelt stoisch vor sich hin. Der Verfolger scheint Udo unbedingt einholen zu wollen, sein Abstand beträgt mal eine, mal zwei Runden. Nur unternimmt er das auf eine Weise, von der Udo meint, damit werde der „Gegner“ sich früher oder später selbst aufreiben. Rast los, rast vorbei, rast ein Stück voraus, rast außer Sichtweite … Wenig später trabt Udo wieder an seinem gehenden Verfolger vorbei. Und dieses Spiel wiederholt sich Runde um Runde, sicher länger als eine Stunde. Der am Bord dokumentierte Abstand verkürzt sich unterdessen nicht …

10:30 Uhr: ‚Noch anderthalb Stunden … Ich kann bald nicht mehr!’ Und doch schleppe ich mich weiter. Halte Platz 4. Es bleibt kühl. Trotzdem trinke ich jetzt nach jeder Runde. Der Wunsch kurz stehen zu bleiben, einen Becher zu greifen, zu leeren, ist übermächtig. Meine Bundesgenossen am Leader Board und unterm Dach des Zählerstands jubeln sich die Seele aus dem Leib. Jede vollendete Runde wird gefeiert, als wär’s ein neuer Weltrekord. Stellt euch deren Leistung vor, denn dieselbe Aufmerksamkeit wird auch anderen zuteil …

Meiner Brust entringt sich ein gequältes Stöhnen: „Oh nein! Nicht das auch noch!“ Mein zufälliger Nebenmann und ich sind ihm schutzlos ausgeliefert. Der Herr mit Blechfass klimpert munter vor sich hin. Ist das nervig! Ihn und seinen Harmonika-Kompagnon hatte ich so was von „gefressen“. Und nun ist der Typ wieder da. Kann es schlimmer kommen? Klar: Eine Runde später dudeln sie im Duett. Dieselben unerträglich langweiligen Melodien wie gestern Abend. Hoffentlich ist es bald vorbei …

11:15 Uhr: Ines ist wieder da, hat unsere Freunde Petra und Lothar im Schlepptau. Wir winken uns zu. 212 Kilometer hab ich mittlerweile abgespult. Und nun gebe ich das verhaltene Tippeln auf, kehre zu längeren Schritten zurück. ‚Die verdammte Dreiviertelstunde packe ich auch so!’ Es geht! Es fällt mir nicht mal schwerer als der lahme Schlappschritt. Im Gegenteil, ich fühle mich wohler dabei, es laufen zu lassen. Am Bord hat sich was verändert. Mein Verfolger hat sich wie erwartet selbst besiegt, fiel einen Platz zurück. Dafür scheint mich ein anderer vom vierten Platz verdrängen zu wollen. Es dauert eine Weile, bis ich ihn identifiziert hab. Zeitweise beträgt der Abstand nur eine Runde. ‚Und wenn schon. Platz 5 ist ohnehin mehr als erträumt!’

Es tut unendlich weh. So weh, dass ich mich augenblicklich zu Boden werfen möchte. Ich bin müde, irrsinnig erschöpft. Woher holt dieser Körper nur die Kraft noch immer die Füße voreinander zu setzen. Ich fasse es nicht. Und nicht der allerallerleiseste Anflug eines Krampfes. Kein Schwindel, kein Wanken, nur Müdigkeit … Ines kreist gegenläufig, schießt Bilderserien mit der Spiegelreflex, setzt sie ab, lächelt. Dieses Lachen! Nichts könnte mich jetzt mehr beflügeln. Das ist einfach schön. Freuen geht nicht, Freuen kommt später. Jetzt erst zu Ende leiden …

Wieder mal am Bord springt mich jäh ein Monster an: Kampfgeist! Wo um Himmels Willen kommt dieses Mistvieh jetzt noch her? Plötzlich wäre ich mit dem Fünften nicht mehr zufrieden. Jetzt will ich Platz 4 verteidigen und werde schneller. Nur minimal, aber immerhin. Unfassbar! Was geht hier ab? Jetzt bleibe ich auch nicht mehr stehen, trinke nichts mehr. Laufe, laufe, laufe … Ein klarer Kopf hätte es früher erkannt, schon gegen halb zwölf ist mir der vierte Platz nicht mehr zu nehmen. Auch wenn er sich noch so anstrengt, zwei Kilometer macht keiner in 30 Minuten wett, der schon einen Tag lang läuft. Zwei, drei Runden vor Schluss kapiere ich: Ich werde auf dem vierten Platz finishen. Ich lasse mir sogar noch mal Zeit, schnappe mir einen Becher, verweile kurz bei Ines am Verpflegungszelt, hole mir einen Kuss ab …

Die letzte vollständige Runde. Ich halte kurz an meiner Tasche, greife mir ein trockenes Shirt, will’s sofort nach dem Ende wechseln. Da rennen ein paar mit blau-weißen Fahnen rum. Versteh ich nicht. Nimmt’s jemanden Wunder, so fertig wie ich bin? Am Zelt der Rundennehmer bietet man dann auch mir die Flagge an. ‚Soll wohl ein nettes Bild abgeben, wenn alle mit Fahne ’rum rennen!? Egal. Trag ich das Ding halt ein Stück spazieren.’ Ines hat mir das Hemd aus der Hand genommen, begleitet mich auf der letzten Runde. Rennt ein Stück voraus, fotografiert. Kommt hinterher, rennt wieder voraus, schießt weitere Bilder. Mehrfach mein Blick auf die Uhr: Noch vier Minuten, noch drei … Ines überholt grad wieder. Jetzt darf ich stöhnen, mich gehen lassen: „Oh Mann, immer noch zwei Minuten!“ Noch einmal um die Böschung des Stadions und kurz vom Startbereich, kommt das stundenlang ersehnte, das erlösende - Endlich! Endlich! - das Schlusssignal! Völlig außer mir bleibe ich stehen, reiße die Arme hoch, schreie mir allen Schmerz von der Seele …

Freuen kann ich mich nicht. Noch nicht. Ein wahrer Ozean der Erleichterung schlägt über mir zusammen. Dann erste Regungen von Zufriedenheit. Sie kommt mit den Glückwünschen. Freude? Ja, als Ines mich umarmt und nach ein paar Minuten verhalten einsetzend. Tom vom Forum mit seiner Frau gesellt sich zu uns. Ich kann schon kommentieren, werten, erklären. Wie das? Ich hab’s doch überhaupt noch nicht begriffen. Noch ein Gespräch mit Burkhard. Ich bedanke mich für seine Unterstützung. Dann setze ich mich auf eine Treppenstufe und warte auf das Messrad. Ohne Ines hätte ich’s heute noch nicht kapiert: Am Stiel der Fahne klebt ein Zettel mit meiner Startnummer und dem Namen. Also einfach liegen lassen und gehen …

Die sportliche Seite der Medaille

Etwa drei Tage lang schmerzten meine Beinmuskeln. Kein Muskelkater, denn die Beschwerden traten auch in Ruhe auf. Klarer Nachweis, dass ich mein Limit nicht nur voll ausschöpfte, sondern ein gehöres Stück darüber hinausging. Vom Drittplatzierten trennen mich 10 Kilometer. Vielleicht hätte ich bei klügerem Handeln (Erbrechen nach 8 Stunden vermeiden, keine Temporeduzierung in der Schlussphase, weniger Trinkpausen, geringeres Anfangstempo), ein, zwei, drei Kilometer mehr erzielen können. Eine bessere Platzierung war jedoch ausgeschlossen, denn jenseits der 200 Kilometer bedeuten weitere 10 einen Klassenunterschied. Im Übrigen kann in einem 24-Stunden-Wettkampf wohl kaum jedes Detail gelingen. Also beherrscht mich volle Zufriedenheit.

219,273 Kilometer, 4. Gesamtplatz, Deutscher Meister in M55, 24 Stunden ohne Pause gelaufen. Alle Ziele nicht nur erreicht, sondern unerwartet deutlich übertroffen. Dieser Absicht habe ich ein halbes Lebensjahr gewidmet. Sicher wäre es auch mit weniger Wettkämpfen zu stemmen gewesen. Deren Zahl rührt von anderen Saisonzielen, die ich bereits erfüllte oder in einem Fall noch anstrebe. Ich wollte meinen 50. Marathon in Heilbronn laufen. Zudem erfahren, wie sich das anfühlt, wenn man über mehrere Monate jedes Wochenende Marathon oder Ultra läuft.

Das Saisonziel 24-Stunden-Lauf wurzelt wie viele andere Vorhaben in meinem Interesse an Grenzerfahrungen. Ich wollte wissen, ob man 24 Stunden am Stück laufen kann, wie weit ich dabei komme, wo mit 54 Jahren mein Limit liegt. Das weiß ich jetzt. Insofern bleibt unentschieden, ob die 24 Stunden je wieder reizen - zumindest auf diesem für mich brutal hohen Level.


                     Zur Kurzkritik



Ergebnis Deutsche Meisterschaft im 24-Stunden-Lauf Berlin 2008
Zurückgelegte Distanz: 219,273 km
Platzierung DM: 4. von 74
Platz M 55: 1. von 7, damit Deutscher Meister in der AK
Platzierung gem. Veranstalter: MS1 (50-59 Jahre): 1. von 22