Gedanken  zum  Laufsport

Donnerstag, 16. April 2020

Gedanken zum Laufsport  -  Teil 2 der "Corona-Edition"

In Teil eins der Corona-Texte gab ich so etwas wie ein Versprechen. Ich wollte mich einer Frage widmen, die mich schon länger beschäftigt: Was macht einen Läufer aus? - Oberflächlich betrachtet keine schwierige Frage, da doch das Subjekt der Betrachtung, der Läufer, in jedermanns Vorstellung ein klares Bild zeichnet. Wer jedoch nach einer Antwort sucht, wird diverse Anläufe nehmen und dabei straucheln, weil ihm immer wieder ergänzende, abweichende, teils sogar gegensätzliche Gedanken zwischen die Beine kullern. Und deshalb brauche ich mehr Zeit.

Mit "Sein oder Nichtsein" des Läufers ringend, lief ich fast jeden Tag. Einige der Erfahrungen auf diesen Kilometern will ich vor dem Dunkel des Vergessens bewahren. Vor allem für mich selbst versteht sich. Diesem Zweck dient die folgende kleine Erzählung.


Vom Osterhasen, widerhallender Stille und plötzlicher Wehmut

Ostersamstag, später Nachmittag. Eine dünne Wolke schiebt sich vor die schon tief stehende Sonne. Ein paar belanglose Minuten weit laufe ich im Schatten - wenn ich mich recht entsinne der erste seit Tagen. Tage, in denen mein Lieblingsstern sich nach Kräften mühte, die Welt in lauer Luft und Licht zu ertränken. Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte ... Platt und abgedroschen dieser Vers? Ich empfinde das nicht im Geringsten so. Die Zeile passt "klimatisch" und schmuggelt sich - wie stets zu dieser Jahreszeit - beim Laufen in meine Gedanken. Mehr noch: Sie markiert das Umschlagen meiner läuferischen Grundstimmung von winterlich "grau schraffiert" zu frühlingshaft "bunt gefleckt".

Es geht mir ausgesprochen gut heute. Meiner mittelprächtigen Ausdauerverfassung zum Trotz ging ich fröhlich gestimmt in diesen Jogg. Für einen, der mit überschäumenden Emotionen fremdelt, beinahe schon auf Stufe "freudig erregt". Und ich werde in den vor mir liegenden Laufminuten alles unterlassen, was meine Laune eintrüben könnte. Werde nicht zu schnell und auch nicht zu weit laufen. Zehn Kilometer in mittlerem Tempo sollen mich auf angenehme Weise ermüden. Morgen mehr, weiter, vielleicht bis zur Erschöpfung. Heute ausschließlich genießen.

Zu meiner jeweiligen Verblüffung entdecke ich hin und wieder mir verborgen gebliebene, hübsche Flecken in relativer Nähe zu meinem Wohnort. Und das, obschon ich in diesem Landstrich bereits seit mehr als vier Dekaden ansässig bin und mit wachsendem Laufradius umher streifte. Hierher, zu diesem verwunschen wirkenden Abschnitt am Flussufer, lockte mich der Bericht meiner Frau. Sie erschloss sich die Idylle anlässlich eines Spaziergangs. Rasch ändert sich der Charakter des am Rande eines Auwaldstreifens verlaufenden Feldweges. Zunehmend von Gras überwuchert sät das Geläuf Zweifel, ob ich mein Zwischenziel, ein asphaltiertes Sträßchen, etwa zwei Kilometer südwärts von hier, tatsächlich erreichen werde. Doch ich halte an meiner Absicht fest, weil die verkrautete Spur mir Alleinsein verheißt. Seit Tagen die ersten joggend verbrachten Kilometer, auf denen ich nicht ständig Spaziergängern und Radlern ausweichen muss. Letztere nicht selten mit E-motion-al unterstützter Rasanz vorbei brausend. Ganz so, als wären sie allein auf der Welt, hätten nicht hinter der nächsten Biegung mit Überlebenswerten auf Kollisionskurs zu rechnen.

Hier dagegen, unter hohen, alten Bäumen, bin ich allein, höre nur die Stille. So laut, dass sie in meinem Läuferherzen widerhallt. Geräuschlos sogar die eigenen Schritte auf grünem, dämpfendem Polster. Vogelstimmen schallen aus dem Auwald herüber, vollenden den österlichen Frieden ... ... ... Dabei ist noch gar nicht Ostern, morgen erst. Kurz hebe ich den Blick, spähe in Laufrichtung. Ein Feldhase hockt auf meinem Weg, keine hundert Meter voraus. Tatsächlich die Silhouette eines Hasen oder eine optische Täuschung? Wieder und wieder fixiere ich das graue, starre Etwas im Gras, erlange rasch Gewissheit tatsächlich auf einen Feldhasen zuzuhalten. Auf einen Feldhasen und nicht etwa ein Wildkaninchen, wovon die langen "Löffel" des Tieres Zeugnis ablegen.

Eine kurze Weile wittert das Tier vollkommen reglos in meine Richtung. Praktiziert instinktiv eine der Schutz versprechenden Strategien, die Mutter Natur den Kleinen und Schwachen unter ihren Geschöpfen empfiehlt. Wer sich nicht bewegt, bleibt vielfach unsichtbar. Wer unsichtbar bleibt, den gibt es nicht. Und wen es nicht gibt, der wird nicht gefressen! Labiles, häsisches Sicherheitsempfinden hält nur Sekunden vor. Zu flugs nähert sich der Zweibeiner, wird größer, überhasen-, schließlich riesengroß. Meister Lampe erkennt das Aussichtlose seiner Taktik und bedient sich des letzten verbliebenen Schutzreflexes, der Flucht. Prescht in weiten Sätzen über bäuerlich bestelltes Erdbraun davon, dass es nur so staubt.

Vielleicht ist das ja der Osterhase!?

Die Vorstellung überfällt mich ohne Vorwarnung und ich lasse sie zu: Der Osterhase hat es eilig, will zum Fest viele Kinder erfreuen. Nicht zuletzt meine Enkelinnen, die mich jetzt vorm geistigen Auge anlächeln. Sie leben eine Dreiviertelstunde mit dem Auto von hier entfernt. Zufällig in der Richtung, in die ich derzeit laufe. Vier, fünf Stunden in diesem Tempo und ich könnte die Süßen in meine verschwitzten Arme schließen ... Ein weiter Weg für den vielbeschäftigten Osterhasen. Weit genug, um sein atemloses Hoppeln zu rechtfertigen. Morgen früh muss er seine bunte Schokoladenfracht im seit Tagen vorbereiteten Osternest abgelegt haben. Dort, hinter dem Horizont, weit im Süden, nahe der Berge ... für Großeltern mit Tabu belegtes Land in diesen Tagen. Sah Fotos vom fertigen Osternest, die uns per WhatsApp erreichten. Fotos vom Nest und von blauen, vor Erwartung leuchtenden Kinderaugen. Kein gewöhnlicher Feldhase also, der sich mit wilden Sprüngen entfernt und alsbald hinter einer Bodenwelle meinem Blick entzieht.

Wen ich da erschreckte, war zweifelsohne der Osterhase!

Warum sollte ich nicht (wieder) an den Osterhasen glauben? Nur weil ich inzwischen schon schnapstrunkene 66 Lenze um Verstehen und ein bisschen Weisheit ringe? Dein Appell an meine Vernunft wird erfolglos bleiben! Zu wissen, dass es ihn nicht gibt, ist nicht Grund genug seine Existenz zu leugnen. Schon gar nicht am Auferstehungswochenende, da sich die Christenheit im Glauben an Fleisch gewordene Erlösung übt. Auf Gottes Segen hofft, von dessen Wirken an ach so vielen Orten in dieser Welt und in ungezählten Herzen nicht einmal homöopathische Spuren nachweisbar wären. Sich an Heilsgeschehen und -versprechen erinnert, niedergeschrieben als Geschichtensammlung in einem dicken Buch. Etwa ein Märchenbuch? Ist es nicht vielmehr so: Wahr ist, woran wir glauben!

Außerdem: Nichts in diesem Universum ist so unwahrscheinlich, dass es mit Gewissheit auszuschließen wäre. Denk an das, was gerade um dich her geschieht. Was dir zustieß, wie sich dein Leben binnen weniger Tage auf den Kopf stellte. Wie hättest du über mich geurteilt, wenn ich dir vor Wochen ein Osterfest 2020 in den tristen Farben weitgehender Isolation ausgemalt hätte? Vermutlich hättest du an meiner Verstandeskraft gezweifelt. Schlimmer noch: Vermutlich hätte ich mich selbst geistiger Zerrüttung bezichtigt. Und doch wurde wahr, was eigentlich nicht wahr sein kann ... Noch nie verbrachten Ines und ich Ostern in den eigenen vier Wänden. Jedenfalls so weit ich mich entsinne ... Entweder feierten wir mit der Familie oder schweiften als Urlauber in die Ferne. Ostern allein zu Haus? Das ist nahezu ausgeschlossen und damit ähnlich wahrscheinlich wie die Existenz des Osterhasen!

Schließlich erreiche ich das asphaltierte Sträßchen und füge meiner Sammlung von Streckenabschnitten einen neuen, reizvollen hinzu. Notiere zugleich im Geiste Umstände, unter denen ich ihn tunlichst meiden sollte: Beispielsweise gegen Ende eines langen, erschöpfenden Laufes im Sommer. Weil dann das Gras höher stehen und jeder Schritt im weich gedämpften Geläuf dreifache Kraft kosten wird. Oder nach Regengüssen, so ich nasse Füße vermeiden will.

Die wohltuende Stille überlebt den Szenenwechsel akustisch, optisch stirbt sie augenblicklich. Radfahrer vor mir und zwischen den Feldern. Was soll's? Ich setze weiter frohgemut Schritt auf Schritt. Nach kurzer Zeit biege vom Sträßchen auf einen Feldweg ab. Will noch etwa zwei Kilometer in südliche Richtung traben und dann einen Osterhasen-mäßigen Haken schlagen. Zurück zum Auto auf alternativer Route, alsbald auf der anderen Flussseite. Ich kenne mich hier ziemlich gut aus, weiß, welche Abschnitte ich aneinander reihen muss, um die gewünschte Stunde Laufspaß zu sammeln.

Weitere drei Kilometer weiter, unmittelbar am Flussufer laufend, verendet die Stille auch akustisch. Überlaut miteinander quatschende Radler überholen mich, setzen einen Witz kinoreif in Szene, über den Udo schon als junger Mann schallend lachte:

Zwei Radfahrer fahren auf schlechter Wegstrecke hintereinander her. Das Schutzblech (früher war dergleichen aus Blech gefertigt!) des Vordermannes ist locker und klappert nervtötend.

Hinterer zum Vorderen: "Du! Dein Schutzblech klappert!"

Vorderer ohne sich umzuwenden: "Was hast du gesagt?"

Hinterer wiederholt, deutlich lauter: "Dein Schutzblech klappert!"

Vorderer, sich halb umwendend: "Verstehe nicht, was du sagst!"

Hinterer erneut, nun brüllend: " D - e - i - n     S - c - h - u - t - z - b - l - e - c - h     k - l - a - p - p - e - r - t  ! "

Vorderer resignierend: "Tut mir leid! Ich kann dich nicht verstehen! Mein Schutzblech klappert so laut!"

Das Gute an Radlern: Visuell wie phonetisch schrumpfen sie rasch im Bildausschnitt ... Minuten nach dieser Begegnung kommt die erwartete mit Holzbohlen belegte Stahlbrücke in Sicht. Gelegenheit das Flussufer zu wechseln. Obschon behelfsmäßig und wenig stabil wirkend, ist das Brücklein für den öffentlichen Verkehr freigegeben. "Verkehr" klingt allerdings irreführend. Diesen Übergang abseits geschäftiger Routen nutzen nur wenige Motorisierte. Bauern etwa, die ihre Felder oder Wiesen hüben wie drüben bestellen wollen. Oder Bewohner von Schloss Guggenberg - dieser Tage ein Gutshof -, das sich auf der Anhöhe jenseits des Flusses zwischen altem Baumbestand verbirgt. Dann und wann auch Lieferanten oder Kunden des "Schlossherren", gelegentlich Angler, nicht selten Spaziergänger, die tiefer ins Ländliche vorrollen wollen, bevor sie sich ihrer Füße zur Fortbewegung entsinnen. Hinter der Brücke wende ich mich nach rechts, bleibe im Auwald und folge dem Ufer - begleitet von Vogelgezwitscher und neuerlich Radfahrern. Deren Dichte nimmt allerdings rapide mit dem Sonnenstand ab. Spätnachmittag oder schon früher Abend? Noch etwa zwei Kilometer ...

Weshalb erst jetzt und nicht schon früher am Tage? Unvermittelt springt mich die Erkenntnis an: Heute ist Samstag, der Samstag vor Ostern. Wenn nicht alles anders gekommen wäre, als es sich nun mal (schicksalhaft?) ereignete, dann säße ich jetzt im Auto. Befände mich auf dem Rückweg und hätte 42.195 Meter Berliner Ostermarathon in den Knochen. Spürte meine erschöpften, schmerzenden Beine, zugleich die wundervolle Zufriedenheit nach errungenem Finish. Freute mich auf einen Abend im Kreis der Familie. Unaufhaltsam wie Wasser aus geplatzter Leitung sprudeln die Gedanken: Was für ein Kaiserwetter wir heute auf der Runde um die Havel genossen hätten!!! Wehmut, schließlich tiefes Bedauern macht sich breit. Nicht allein, was mir entging, schmerzt, mehr noch wer. Dieses "Wer" ergibt sich aus dem "Wir". Wir hätten einen wunderschönen Lauf erlebt. Der Freund und ich. Wiedersehen gefeiert nach vielen Wochen rein medialer Kontakte. Wären auch diesmal gemeinsam gelaufen. Vorm Start vereint, stückweit Seite an Seite, dann vermutlich jeder in seinem Rhythmus, doch im Geiste eins wie so oft.

Mein Leben ist einfacher geworden. Tatsächlich schrieb ich diesen Satz vor ein paar Tagen nieder und gab ihn euch zum Lesen. Stimmt ja auch. Mehr noch: Auf eine Weise ist mein Leben sogar reicher geworden. Die aufgezwungene Isolation hat mir etliche Stunden gemeinsamer Zeit mit meiner Frau geschenkt, die ich ansonsten ohne sie hätte verbringen müssen. Laufveranstaltungen fallen zwar flach, doch hindert mich niemand am Laufen. Wahrscheinlich konnte die Selbsttäuschung, von der Krise kaum betroffen zu sein, deshalb so lange überleben!? Zum ersten Mal empfinde ich schmerzlich, was mir genommen wurde: Die Möglichkeit das bevorstehende Fest im Kreise mir naher Menschen zu verbringen. Dazu die Gelegenheit eine Freundschaft auf gemeinsamer Marathonrunde zu erneuern. Mein Leben ist einfacher geworden und reicher. Zugleich aber auch ärmer und einsamer, weil es Menschen, die mir wichtig sind, in unerreichbare Ferne rückt.

 

Link zu Teil 1 der "Corona-Edition" - Ich laufe viel in diesen Tagen

 


Bildnachweis: Erstes Bild von oben: Ines beim Halbmarathon im Spreewald 2011; Bild vier wurde vom Team des Müritz Laufes bereitgestellt. Die Bilder zwei und drei stammen von der Seite freeimages.com.