Gedanken  zum  Laufsport

Freitag, 3. April 2020

Gedanken zum Laufsport  -  die "Corona-Edition"

Während der Frühjahrsmonate schrieb ich in den vergangenen Jahren beinahe ausschließlich an Laufberichten nach Wettkämpfen. Die fallen Pandemie-bedingt nun aus, Wettkämpfe und damit auch von Lauferlebnissen beflügelte Prosa. Wer weiß wie lange? Doch ich mag es Gedanken und Erlebnisse zu "Papier" zu bringen. Und weiß obendrein: Einige von euch da draußen ließen sich von meinen "Schriften" unterhalten. Menschen, von denen manche nun noch mehr Zeit als sonst in Texten und "anderer Leute Vorstellungswelten" verbringen könnten. Also will ich schreiben. Nur was? Ungewöhnliche Beobachtungen anlässlich aktueller Trainingsläufe machten mich nachdenklich. Davon werde ich erzählen, dabei unterschiedliche Aspekte offenbar "entgleister Gegenwart" zu deuten versuchen. Wer es liest, ist herzlich zu tiefer schürfenden oder Gegenspekulationen eingeladen. Darüber hinaus sichte ich unfertige Textentwürfe vergangener Jahre. Ein bisschen bin ich gespannt, was da an Gedanken im Verlauf der kommenden Wochen meiner Wahrnehmung und Festplatte "entspringen" wird ...


Ich laufe viel in diesen Tagen

Ich laufe viel in diesen Tagen. Letzte Woche, bei nur einem Ruhetag, genau einhundertundeinen Kilometer. In meinen Aufzeichnungen musste ich bis Ende August 2019 zurückblättern, um auf eine dreistellige Wochensumme zu stoßen. Häufig und weit gelaufen? Was denn auch sonst in dieser wettkampffreien "Corona-Krisenzeit"? Außerhalb der Wohnung gehen nur Individualsport, Spaziergänge, Arbeit und Einkäufe zur Deckung des täglichen Bedarfs. Arbeit zum Zwecke des Broterwerbs ist für mich altersbedingt Vergangenheit. Und Supermärkte betrat ich schon vor der seit kurzem geltenden Ausgangsbeschränkung vorzugsweise nur einmal pro Woche - von "Notkäufen" infolge Einkaufsfehlplanung mal abgesehen. Deshalb hinterließ der virale Feldzug in meinem Leben weit weniger Trümmer als in dem anderer Menschen.

Die einschneidendste Änderung beschert mir meine Frau, die arbeitstäglich im Gästezimmer nebenan - now called: Homeoffice - den Geschäften ihres Arbeitgebers nachgeht. Außerdem entfallen meine Wochenfixtermine: Einstweilen Montagabend und Mittwochvormittag kein Krafttraining mehr. Doch das "Bewegen von Eisen" fehlt mir mental nicht wirklich, gilt mir in "virusfreien" Zeiten gar als lästige Pflichtübung. Dass ich donnerstags nicht mehr zu meinem Physio darf, seiner Klodeckel-großen, beherzt zupackenden, lockernden, entspannenden, kurzum: überaus wohltuenden Pranken entbehre, empfinde ich dann schon eher als Verlust. Und doch: Während das Leben vieler Mitmenschen gerade komplett aus den Fugen gerät, sich bei jenen mit Kindern mehr und mehr am nervlichen Limit bewegt, gestaltet sich mein Dasein in vielerlei Hinsicht ... einfacher.

Unterdessen halte ich Augen und Ohren offen, will mitbekommen, wenn irgendwo, irgendwer für irgendwas Hilfe benötigt. In meiner bäuerlich geprägten Dreitausend-Seelen-Dorfgemeinschaft vor den Toren Augsburgs mit vielfach noch intakten Großfamilienstrukturen ist so ein sozial motivierter Einsatz aber nicht wahrscheinlich. Und die in dicht besiedelten Räumen wie Augsburg und München grassierenden, traurigen zwei "A" - Anonymität und Alleinsein - sind für meine etwaigen Dienste am Nächsten zu weit entfernt. Doch wer weiß, was noch geschieht, falls die Bewegungseinschränkungen länger in Kraft bleiben und die Zahlen häuslicher Arrestanten steigen ... ?

Womit könnte ich mich ansonsten nützlich machen? - Üblicherweise stelle ich zu dieser Jahreszeit lange Erlebnisberichte von Wettkämpfen online, die durchaus zufriedene Leser finden. Hinzu kommt: Zu keiner Zeit hatten die meisten Leute "durchschnittlich" mehr Muße zum Lesen als gerade jetzt. Bloß: Von meinen zehn bis Mitte Juni fix geplanten Wettkämpfen fand lediglich der erste statt, fünf weitere wurden abgesagt und die restlichen wird aller Voraussicht nach dasselbe Schicksal ereilen. Also worüber sollte ich schreiben, um meine potenzielle Leserschaft zu unterhalten? Vielleicht trägt ja dieses Aufsätzchen ein wenig dazu bei. Außerdem habe ich vor ihm weitere folgen zu lassen. Grabe zu diesem Zweck auch im Fundus meiner Festplatte, sichte Unveröffentlichtes. Traktate zu Themen, die ich bislang für zu belanglos hielt, um sie als Lesestoff unter der Rubrik "Gedanken zum Laufsport" anzubieten. Doch vielleicht zeigt sich der geneigte Leser nun auch dankbar für minder wichtige Gedanken. Braucht auch nicht alles nach "Corona" riechen. Millionen werden sich mit dem Virus nicht anstecken - zumindest hoffe ich das. Doch nicht einer von uns wird seiner auf viele Wochen hinaus wütenden medialen Gewaltherrschaft entgehen.

Also schreiben. Parallel dazu laufe ich viel. Nicht wirklich mit großer Freude. Nein, gar nicht. Irgendwie fehlt mir der Antrieb. Wozu sich so oft und über viele Kilometer schinden? Ohne Zwischenziele, ohne Aufbauwettkämpfe? Dazu kam die vielfach grimmige Kälte der letzten Tage, verbunden mit einem eisigen Ost-Nordost-Wind. Zwei wärmere Tage, dann feierte der Winter ein Comeback ... Montagmorgen gaben hochgezogene Rolläden den Blick auf kältestarre, wie mit Puderzucker überstaubte Gärten frei. Sonnige Balkon-Sessions im Januar und Februar, dafür jetzt, im bereits eine Woche alten Frühling diese elende Kälte. Wo ich doch beim Laufen kaum etwas mehr hasse als Kälte und eisigen Wind - besonders in ebendieser Koinzidenz!

Trotzdem laufe ich viel. Bin es immerhin gewohnt, mich begleitet von nur gelegentlich aufblitzenden Spaßmomenten durchs vermaledeite frostige Halbjahr zu tanken. Tut meiner Sache keinen Abbruch. Alles in allem war ich letzte Woche etwa zwölf Stunden joggend draußen. Zwölf Stunden, in denen sich mein Laufuniversum nur auf den ersten Blick wie immer präsentierte. Tatsächlich zogen neue, unbekannte Sonnen und Planeten am Firmament ihre Bahn. Allerorten, auf allen Teilstrecken. Teilstrecken, die ich beständig anders verkette, weil ich Abwechslung mag und brauche. Doch egal, wohin ich rannte, überall begegnete ich unablässig Menschen. Menschen zu Fuß, als Spaziergänger oder Gassigeher mit Hund, auf Fahrrädern jedweder Art und in Laufschuhen.

Einen derartigen Auftrieb erlebte ich bislang auf meinen Wegen nur an favorisierten Tagen: Klassischerweise an von der Sonne verwöhnten Sonntagen. Gerne nach "High Noon", um die Verdauung fleischlicher Opulenz in prallen Magen-Darmtrakten zu fördern. Und nun? Ausnahmslos an jedem Tag, zu jeder Stunde, an jedem Ort und augenscheinlich "grundlos" waren Massen von Menschen unterwegs. Unterwegs in allenfalls "mitteldicht" bis "nicht übermäßig" besiedelter Gegend. Warum? Die Antwort darauf scheint mir nur allzu offensichtlich: Sie alle entflohen der Corona-Isolation, dem drohenden Lagerkoller. Aber warum so viele? Infolge Kurzarbeit, Zwangsurlaub oder sonstiger Freistellung haben viele Menschen ungeplant frei. Oder sie werkeln im Homeoffice mit flexibler Arbeitszeiteinteilung. Wodurch auch die Fahrzeiten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle entfallen. Also eine starke Vermehrung von Freizeiten. Und vieles von dem, was Menschen in ihrer Freizeit gerne unternehmen, ist derzeit ausgeschlossen: Keine Treffen mit Freunden und Verwandten, keine Gaststättenbesuche, keine Kurzweil in kulturellen Veranstaltungen. Kino, Theater, Museen, Fußballstadien und mehr - alles tabu! Stätten der "Körperpflege", Friseure, Kosmetik- und Nagelstudios, Wellnessoasen - also Spaßbäder und Saunen - mussten schließen! Hobbygärtner ausgebremst, weil Gärtnereien nicht öffnen dürfen. Heimwerker arbeitslos mangels Material, das sich hinter verriegelten Türen von Baumärkten stapelt. Das Pandemie-Roulette dreht sich: Rien ne va plus!

Kollektive Beschäftigungslosigkeit und vermutlich auch Langeweile sucht sich Ventile: Allein oder im Familienverband rausgehen*, sich den Frust von der Seele spazieren, laufen, radeln. Auch Vielbeschäftigte müssen mal an die frische Luft und sich Bewegung verschaffen: Genervte Eltern mit ihren verhinderten Kita- und Schulkindern, wie auch die derzeit Hypergestressten im Gesundheitswesen. Und deshalb begegnen mir in diesen unseligen Tagen Leute in nie zuvor erlebter Dichte. Mir, der dasselbe tut, was er auch in Corona-freien Zeiten täte: Laufen.

*) Gesetzlich festgeschriebene Regelung in Bayern.

Meine Laufstrecken sind dieselben wie immer. Allerdings gehören sie uns - mir und meinem mitjoggenden Vierbeiner - nun nicht mehr alleine. Von Montag bis Freitag, eigentlich auch noch an Samstagen, tagsüber, begegneten wir höchstens ausnahmsweise gleichgesinnt Schnaufenden. Egal, ob ortsnah oder -fern, in diesen Tagen fluten reichlich andere Läufer die Fluren. Wobei: Ich bin nicht sicher, ob es sich dabei um "echte" Läufer* handelt. Zuweilen irritiert mich ihre Art sich zu bewegen und manchmal auch ihr Erscheinungsbild. Sie kleiden sich nicht so, wie sich Jogger kleiden, an die meine Augen gewöhnt sind. Alternativ tragen sie Fitness-Outfits, aus der Mode gekommene Laufklamotten oder sportliche Hüllen wie sie in anderen Sportarten genutzt werden. Vornehmlich solche, die in normalen Zeiten nicht ohne Bälle auskommen.

*) Die Frage, was einen Läufer zum Läufer macht, beschäftigt mich schon ziemlich lange. Ihr will ich mich in einem der nächsten "Aufsätzchen" annehmen.

Was treibt all diese Leute in Laufschuhen ins Freie? - Wieder trägt das Virus Schuld. Mit einer Offensichtlichkeit, die jeden Irrtum kategorisch ausschließt. Sie entfliehen häuslicher Isolation und erzwungener sportlicher Untätigkeit. Ihr üblicher Sport bleibt ihnen verwehrt. Geblieben sind Individualsportarten wie Laufen und Radfahren. Auch ein paar Reiter hoch zu Ross grüßen bisweilen das Fußvolk. Was für ein Glück, dass man sich bei domestizierten Viechern nicht anstecken kann. Glück für die Reiter und Glück für mich mit unserer Hündin Roxi an meiner Seite ...

Obwohl: Zur Zeit verzichte ich häufig auf den hündischen Begleitservice. Über die Maßen selig verpennt die in die Jahre gekommene Roxi den Tag bei Frauchen im Homeoffice und versüßt ihr die Mittagspause mit einem Gassi an der frischen Luft. Homeoffice - mit diesem Phänomen "jüngerer, mehr noch jüngster deutscher Bürogeschichte" stoße ich überdies auf Indizien, die eine Teilerklärung zum aktuellen "Jogger-Tsunami" liefern könnten. Die lange von Arbeitgebern (und teilweise auch von ihren Angestellten) geschmähte "Schreibstube in den eigenen vier Wänden" hat seit wenigen Tagen Hochkonjunktur. Wie im Großraumbüro meiner Frau herrscht sicher auch in den Räumlichkeiten anderer Firmen, die sinnvolle Gesundheitsvorsorge betreiben, gähnende Leere. Ausrüstung und heimische Nasszelle nur ein Zimmer weiter: Auf diese Weise wird in Arbeitspausen zu joggen zur möglichen Option. Arbeitspausen, die viele individueller gestalten können, als das im Betrieb möglich wäre. Darüber hinaus hebt das Homeoffice eine weitere Sportbremse auf, das Pendeln zur Arbeit. Wer in meiner Region wohnt und beispielsweise in München seine Brötchen verdient - das sind nicht wenige - verbringt arbeitstäglich mindestens drei Stunden auf Verkehrswegen. Nach Augsburg und zurück fehlt einem immerhin eine Stunde am Tag, wenn nicht mehr.

Ich laufe viel in diesen Tagen. Wie immer im Frühjahr. Da draußen hat sich einiges verändert. Lass es mich einstweilen mit dem Arbeitstitel "Corona-Paradoxon" zusammenfassen: Als Folge des teilweisen gesellschaftlichen Stillstandes ist Bewegung in die Menschen gekommen. Nun habe ich ständig Gesellschaft auf meinen Strecken. Wie lange wird das so bleiben? Und wird es die Gewohnheiten der Menschen dauerhaft verändern?

 


Bildnachweis: Das zweite Bild von oben wurde vom Team des Sommeralm Marathons, Steiermark, Österreich, bereitgestellt. Die restlichen Bilder stammen von der Seite freeimages.com.