Bad Füssing Marathon  -  Der erste Kopf der Schlange  

Wie haltet ihr’s nach einem Lauferfolg, nach der persönlichen Sternstunde? Für mich waren das zuletzt die mehr als 70 km im 6h-Lauf von Troisdorf. Die Nachwehen spürte ich im November 2006 noch deutlich in den Beinen, als mein Kopf die Marschroute für den Rest des Jahres und 2007 bereits klar vorzeichnete. Manchmal komme ich mir ein bisschen wie Herakles in der griechischen Mythologie vor. Nö, nicht im Entferntesten so stark und schon gar nicht so erfolgreich. Aber mit einer ähnlichen Aufgabe: Die Götter hatten ihm auferlegt die neunköpfige Schlange Hydra zu töten und jeden Kopf, den er mit seiner Keule zerschmetterte, ersetzte das Höllenwesen mit zwei neuen ...  Jeder Lauf, den ich auf meinem Konto verbuche, erweitert nur meinen Blick für all jene, an denen ich noch nicht teilnahm. Und jeder verwirklichte Traum weist letztlich nur den Weg zu einem neuen. Läuferträume realisieren sich nur mit Mühe, über Training und Zwischenstationen. 2007 wollte ich mit einem ersten Marathon im niederbayerischen Bad Füssing beginnen. Dafür gibt es zwei Motive: Der Erhalt meiner Langzeitausdauer - Marathon als Trainingslauf, ein erster Abschnitt auf dem Weg zum eigentlichen Höhepunkt - und das Erlebnis eines „Wintermarathons“.

Hat sie jemand vergessen, die letzten beiden Winter, mit monatelangen Schnee- und Frostperioden? Ich nicht, weshalb ich mich vorab mit extrem warmen Klamotten eindeckte, die notfalls übereinander getragen werden sollten. Und nun entpuppt sich dieser Winter als „harmloser Schlaffi“ - wofür ich als Läufer und Autofahrer durchaus dankbar bin. Auch für den Marathontag in Bad Füssing zeichnete sich relativ gutes Wetter ab. Dass es dann aber zum Wintermärchen ohne Schnee geraten sollte, konnte man nicht ahnen.

Sonntagmorgen 6:45 Uhr: Der Weckruf des Hotelportiers reißt Ines und mich aus dem Schlaf. Ach ja, Ines, der Unglücksrabe. Sie wollte in Bad Füssing die 10 km laufen, ohne große Ambitionen, einfach so zum Laufspaß. Ging aber nicht, sie erkältete sich nach der Rückkehr aus warmen südlichen Gefilden und muss jetzt zusehen. Nach dem Frühstück stehe ich wieder unschlüssig im Hotelzimmer, wie vorhin und wie schon gestern Abend. Dickes oder dünnes Langarmshirt? Drunter ein dünnes Unterhemd, das ist klar, aber drüber? Letztlich gibt die Aussicht bei diesem Trainingslauf zu frieren den Ausschlag und ich hefte die Startnummer auf die dicke Pelle. Ich will ja keine Bestzeit aufstellen und werde mir notfalls genug Zeit einräumen, um den einen oder anderen Becher mehr zu trinken.

Was will ich erreichen? Anfangs stand die Absicht, in diesen Lauf alles zu legen, was ich drauf habe. Entsprechend trainierte ich. Zu früh nach dem Ultra und vor allem zu hart. Ein altes Problem ließ sich dadurch nicht vollständig auskurieren und eine Blessur am rechten Knie stellte sich kurz vor Weihnachten zusätzlich ein. Deshalb verbannte ich jeglichen Ehrgeiz ins hinterste Stübchen meines Läuferbewusstseins - wohl wissend, dass er da lauert ... Fünf Minuten pro km sind derzeit für mich der obere Rand des GA1-Tempos. Das erzählte mir mein Pulsmesser in den letzten Wochen. 5 Minuten pro Kilometer fühlen sich gut an in den Beinen und sie lassen sich auch bei jeder Wegmarke gut kontrollieren. Damit käme ich ungefähr nach 3:30h ins Ziel und mehr wollte ich mir nicht gestatten. Immer wieder ließ ich mir durch den Kopf gehen, dass mir der Sinn nach „Höherem“ steht, der neue Traum für 2007, dem sich dieser Marathon als Training unterzuordnen hat. Der letzte, der neunte Kopf der Hydra, der dem Herakles als unsterblich galt, ist nicht in Füssing zu erschlagen. Der wartet ganz woanders ... Also langsam laufen und keine Extratouren, wie gut es auch immer laufen möge!

Für neun Uhr ist ein Treffen mit ein paar Teilnehmern aus dem Läuferforum geplant. Unter anderen will auch Stefan da sein. Beim Fränkischen-Schweiz-Marathon, in München und zuletzt beim Ultra in Troisdorf liefen wir uns schon über den Weg. Der Irre hat seit November keinen langen Lauf mehr trainiert und will hier über die Marathondistanz gehen. Klar, Langzeitausdauer verpufft nicht über Nacht, aber nach zwei und einem halben Monat ohne adäquates Training gleich Marathon? Insgeheim bin ich gespannt, wie dieses Experiment ausgeht und mache mir zugleich Gedanken über seine Gesundheit. Kurz nach Neun können Ines und ich dann zumindest Stefan mit Freundin, die „Rennschnecke“ und den „laufenden Bär“ begrüßen. Ein Gruppenbild mit Dame entsteht. „Schnecke“ und „Bär“ werden mit guten Wünschen zum 10-km-Lauf verabschiedet.

Mit Stefan stelle ich mich irgendwo in die Läufermenge. Ungefähr 1200 Läufer haben sich eingefunden, von denen 350 den Marathon angehen. Ein Schuss beendet unser angeregtes Gespräch und wir wünschen gegenseitig alles Gute. Es dauert eine volle Minute, bis ich die Startlinie erreicht habe und so bereite ich mich auf Anfangskilometer mit ständigen Überholmanövern vor. Überraschenderweise ist das aber gar nicht nötig. Bin ich zu langsam? Eine der ersten Erfahrungen dieses Wintermarathons ist mein leicht ausgekühlter Bewegungsapparat, aus dem sich keinerlei verlässliches Gefühl zum Tempo meldet. Noch etwas hölzern „staksend“ lasse ich mich einfach treiben. Knie und Hüfte meckern ein bisschen und ich hoffe inständig, dass sich das nach dem Einlaufen geben wird. Und dann wird sich hoffentlich auch die Lauflust einstellen! Derzeit geht’s mir ein bisschen so wie letztes Jahr bei jenem Regenlauf im nordbayerischen Bad Rodach: Es ist sonntagfrüh, eigentlich zu früh für Leistung, und ich hab nicht die rechte Lust zum Laufen. Ein Großteil davon entspringt auch den Bedenken, die mich in den letzten Wochen im Hinblick auf Knie und Hüfte umtrieben. Wieder und wieder schwöre ich jeder Tempoverschärfung ab!

Für den ersten Kilometer verbuche ich überraschend 4:40 min! So schnell? Zu schnell! Also korrigiere ich die Pace ein wenig. Ich bin noch nicht warm und hoffe, dass es passt! Durch den Füssinger Ortsteil Safferstetten führt die Strecke zunächst, fröhliches Getrappel um mich her. Langsam taue ich auf, physisch, mehr noch was die Laune angeht. Dankbar registriere ich das Wetter: Zwei, drei Grad über Null, im Moment völlige Windstille und ein Wolkenhimmel, der spätere Sonne verspricht. Ideale Laufbedingungen also. Zumindest für Februar. Kilometer zwei und drei sehen einen zufriedenen Udo durchs niederbayerische Inntal traben: Ich bleibe beinahe konstant 20 Sekunden unter der jeweiligen geplanten Durchgangszeit. Das Uhrwerk hat seinen Takt gefunden. Außer zwei Unterführungen und gelegentlichen, beinahe unmerklichen, supersanften Anstiegen (Anstieg ist eigentlich ein übertriebenes Wort) ist die Strecke flach. Flach wie die Landschaft, die der Inn hier vor Urzeiten schuf. Flach, aber nicht langweilig. Äcker, Wiesen, Buschgruppen, Wäldchen, Gehöfte, verschlafene Dörfchen. Dann und wann ein bisschen Wasser in Form glucksender Bäche und blinkender Fischteiche. Zuschauer? Nö, die gibt’s hier nicht. Aber das ist mir gleich. Laufend genügte ich mir schon immer selbst. Freilich weiß ich das Erlebnis inmitten Gleichgesinnter zu schätzen und berauschte mich manches Mal in Gassen frenetisch anfeuernder Zuschauer. Aber das sind Zusatzgeschenke, mehr als 95 Prozent der jährlichen Laufkilometer bin ich mit mir alleine.

Mitten im ländlichen Nirwana erreicht die Läuferflut den Punkt an dem sich Hin- und Rückweg berühren. Die Strecke hat die Form einer „8“ und muss von den Marathonis zweimal durchlaufen werden. Im Kreuz der Acht biegen wir rechts ab. Seit Füssing mit seinen Ortsteilen hinter uns liegt, folge ich einem sehr übersichtlichen Kurs. Hundert oder mehr Läufer sind gleichzeitig auszumachen. Wir passieren die 5-km-Marke, nähern uns der Ortschaft Kirchham und damit auch der ersten Verpflegungsstation. Wirklich bemerkenswert, was am Läuferbuffet so alles aufgefahren wird: Warmer Tee, Wasser, Iso, Banane, Mandarine, Müsliriegel und mehr. Nicht, dass ich das alles bräuchte und manches davon ist als Läufernahrung eigentlich völlig ungeeignet, aber zumindest erwähnt will ich es haben. Nicht übel für 25 Euro Startgeld. Auch Kirchham scheint noch zu schlafen, wenngleich die Glocken seiner Kirche geradezu Sturm läuten. Gedanken sind frei und so stelle ich mir vor, dass auch der Pfarrer begeistert dem Laufsport frönt, uns auf seine Weise anfeuert. Es muss mir ja nicht immer Rockmusik aus heftig dröhnenden Lautsprechern Beine machen. Und - uiuiui - schon gar nicht so ein doller Musikbeitrag, wie der vor Stundenfrist am Start. Stimmungsmusik der schlüpfrigen Art, die den Sänger Wissenwertes über die „Unterhosen von Frau Maier“ verlauten ließ. Dergleichen ist mir als dauerhaft diesseits der Zweipromille-Grenze lebender Zeitgenosse einigermaßen unerträglich.

Bis später Kirchham, wenn alles klappt bin ich in 105 Minuten wieder da ... Wieder via schmalem Sträßchen auf freiem Feld, fällt der Blick in Richtung Norden. Ein paar hundert Meter trennen uns von der Begrenzung des Inntals. Ein sicher sechzig, siebzig Meter aufragender Höhenzug markiert das Ufer des einstmals kilometerbreiten Flusses Inn. Auf der davor verlaufenden Bundesstraße 12 bewegen sich lautlos winzige Spielzeugautos. Außer Laufgeräuschen ist hier nichts zu hören. Und nun blinzelt vereinzelt auch schon die Sonne durch harmlos sich bauschendes Gewölk. Es geht mir gut, was für ein Spaß hier zu laufen! Gerade mal ein halbe Stunde und ein paar Sonnenstrahlen liegen zwischen „Null Bock“ und „Lauflust pur“.

Da vorne steht ein Streckenposten, die Strecke knickt nach links. Beim Herannahen entdecke ich einen Teil von Stefans Fanclub. Seine Eltern, die ich vor dem Start kennen lernte, haben sich hier postiert. Ich grüße mit „Hallo“ und Handbewegung. Ein Waldstück verschluckt die Straße und entlässt uns Sekunden später in einen Weiler. Ist es ein Weiler oder sind es nur zwei, drei Gehöfte? Was macht den Unterschied? Niemand zu sehen, Groß und Klein scheinen sich vor den unablässig vorbei ziehenden Läufern versteckt zu haben. Die Sonne hat sich wieder „verkrümelt“, ein aus diesem Grund düsterer Waldrand lässt mich frösteln. Davor scharf rechts weg und auf die paar Häuser des Dörfchens Hart zu halten. 8, 9, 10 Kilometer und jedes Mal lese ich von meiner Uhr die beinahe konstante Differenz zur Sollzeit ab: -20 Sekunden. Gut so, weiter so, es läuft ausgezeichnet. Die Beine sind locker, nichts schmerzt, ich bin eingelaufen.

Wieder fliegt der Blick gut einen Kilometer voraus und wird am Ende eines schnurgeraden Straßenstücks von einer klotzig-grauen Steinkirche eingefangen. Ein irgendwie un-bayrisch wirkendes Ungetüm. Dann widme ich mich neuerlich der Betrachtung der Läufer vor mir. Die Analyse von Laufstilen verschafft mir heute Kurzweil. In den letzten Wochen habe ich mir wieder einmal ein Laufbuch „reingezogen“, eines in dem besonderes Gewicht auf einen sauberen, gesunden Laufstil gelegt wird. Meine Armhaltung habe ich seitdem korrigiert, was mir ohne Anleitung noch möglich scheint. Die Arme kann ich immerhin während des Laufens teilweise wahrnehmen. Bei jedem der „inspizierten“ Läufer ließe sich eine korrigierende Bemerkung anbringen. So viel steht fest. Manche lassen die Arme völlig hängen und einer schiebt sie vor der Brust hin und her. Und was viele mit Körper und Beinen vollführen, steht so auch nicht in meinem „Lehrbuch“. Der linke Fuß eines langen, schlanken Kerls beschreibt beim Laufen eine deutlich andere Kurve, als sein rechter. Ob er das weiß? Auf 42 km kann man wirklich fast jeden der im Buch beschriebenen Lauffehler beobachten. Und so grübele ich auch darüber nach, wie wichtig der Laufstil für einen Freizeitläufer nun wirklich ist. Mein neues Buch beschäftigt sich zu drei Vierteln mit den Aspekten gesunden Laufens und erzeugt so den Eindruck, dass das Laufen selbst, das Training, „Mühe unter Schweißentwicklung“, so „en passant“ mit erledigt werden kann. Die wir hier als Interessenskollektiv durch die Gegend rennen wissen, dass es eindeutig nicht so ist.

Das graue Monstrum füllt schon einen größeren Augenwinkel, als ich hinter mir Motorgeräusch höre. Langsam nähert sich ein Auto. Wo kommt der her, wo will der hin? Die Straße ist gesperrt und in ihrer ganzen Breite von (Halb-) Marathonis blockiert. Trotzdem schiebt sich die schwarze Schnauze eines dicken, älteren Mercedes langsam an mir vorbei. Was ich am wenigsten beim Laufen ertragen kann ist Abgasgestank! Zum Glück steht der Wind günstig, also kann er von mir aus im Schritttempo weiter tuckern. Ein Würzburger Kennzeichen. Der ist nicht mal von hier. Vollbesetzt, wahrscheinlich Kurgäste, die hier unbedingt durch müssen und keine Zeit haben außen ´rum zu fahren. Wie ist der an den Streckenposten vorbei gekommen?

Im Dorf Aigen steht der graue Klotz von einer Kirche, die jetzt rechts aus meinem Blickfeld verschwindet. Was leider nicht verschwindet ist der Heini im Mercedes. Ein Streckenposten hat ihn gestoppt, um ihn über eine Seitenstraße „aus dem Verkehr zu ziehen“. Der lässt sich aber von dem Feuerwehrmann nichts sagen und gibt wieder Gas. Das Manöver behindert einige Läufer vor mir, wodurch der verbohrte Mensch sich den einmütigen Zorn der Läufergemeinde zuzieht. Die Kommentare sind eindeutig und natürlich kann ich meinen Mund auch nicht halten ...

An der nächsten Kreuzung warten wieder Stefans Eltern und ich erkundige mich, wie es ihm geht. Bis jetzt wohl ganz gut, aber was heißt das schon auf dem ersten Viertel der Strecke? Aigen liegt hinter mir, ca. 13 km gelaufen, Zwischenzeit passt, weiter. Diesmal sind nur ein paar hundert Meter bis zum nächsten Dorf Irching zu überbrücken. Wenigstens ein paar Seelen zeigen durch ihre Präsenz in Hofeinfahrt oder Haustür, dass wir nicht durch „Geisterstädte“ rennen. Und dort oben im Fenster des ersten Stocks manifestiert sich tatsächlich Anerkennung in Form einer Beifall klatschenden Frau. So kommt’s, dass tatsächlich ich - der Läufer - den Impuls verspüre ihr - der Zuschauerin - zu applaudieren, dass sie uns Zeit und Aufmerksamkeit widmet, obschon sie sicher Wichtigeres zu tun hätte. Kurios, was gut durchblutete Läuferhirne in Stunden sonstiger Unterbeschäftigung so alles ausbrüten.

Ein Feuerwehrmann holt uns von der Durchfahrtsstraße und schickt den Strom der Läufer wieder in die offene Landschaft. „Holzhäuser 1 km“ steht am Ortsausgang. Wo ist die Sonne? Die Wolken rückten wieder dicht zusammen und schirmen ihre wärmenden Strahlen einstweilen ab. So bin ich froh, mich am Morgen für die wärmere Kluft entschieden zu haben. Auch Mütze und Handschuhe tun mir gute Dienste. Allerdings kam ich mir ein ums andere Mal wie ein Weichei vor. Die meisten laufen ohne Handschuhe, viele ohne Mütze, ein paar in kurzer Hose und einzelne Verrückte sogar im kurzen Hemd ...

„Holzhäuser“ steht auf dem Ortsschild des Weilers. Und wo sind die „Holzhäuser“? Vielleicht gab’s die früher einmal oder neuere Bauten verwehren mir den Blick darauf. Kaum registriert liegt die winzige Ansiedelung auch schon hinter mir und einer der schönsten Streckenteile beginnt. Die Landschaft hat keine besonderen Attraktionen zu bieten, keine Schönheiten, an denen vorrangig das Augen hängen bliebe. Sie gefällt in ihrer Gesamtheit, als jahrhundertealte, von Bauern geprägte und gepflegte Kulturlandschaft.

Man kann sich keine drei und eine halbe Stunde lang ausschließlich auf seinen Lauf konzentrieren. Zwangsläufig und immer wieder schweifen die Gedanken ab. In diesen Zeiten bleibt der laufende Körper sich selbst und den automatisch steuernden Nervenzentren überlassen. Nein, das mit der neuen Armhaltung ist noch nicht in diesen Nervenzentren programmiert! Immer wieder ermahne ich mich die Arme höher zu nehmen. Aber irgendwann wird es sich schon eingeschliffen haben - irgendwann auf den nächsten 10.000 Kilometern ... Einen ganzen Kilometer Waldsaum in leicht und elegant geschwungener Linkskurve gilt es jetzt zu laufen. Herrlich! Noch immer schläft der Wind, haucht nur dann und wann ein bisschen kalte Morgenluft in mein Gesicht. Am Ende des Waldrandes geht es im spitzen Winkel rechts weg. Damit ist wieder der Kreuzungspunkt der Strecken-„8“ erreicht. Nun fehlen noch etwa 4,5 Kilometer zur Vollendung der ersten Runde.

Auf den nächsten Ort bin ich besonders gespannt! Egglfing heißt er. Klar kennst du das Kaff nicht. Woher auch! Aber ich kenne es. Vor 35 Jahren habe ich da mal gewohnt. Oder besser gesagt: Meine Eltern wohnten hier. Ich war lediglich Wochenendgast, da schon als Soldat bei der Bundeswehr. Es muss sich viel verändert haben, denn auch Bad Füssing erkannte ich kaum wieder. Querab jenseits von Wiesen und Feldern suchen meine Augen Bekanntes, suchen auch jenes zweistöckige Haus, in dem wir damals wohnten. Aber da ist nichts, was Erinnerungen weckt. Die seit damals gewachsene Bebauung verhindert den Blick auf den einstigen Wohnsitz. Auf der Dorfstraße erkenne ich dann manches wieder: Den uralten, ganz aus Holz errichteten Hof, das Geschäft links, die Sparkasse, den Wirt an der Kirche, bei dem wir manches Mal einkehrten.

Noch 3 Kilometer und Egglfing liegt hinter mir. Zeit passt, Laufgefühl auch, für 18 km fühlen sich die Beine noch frisch und locker an. Und ehe ich mich versehe, entdecke ich zwischen den Häusern von Bad Füssing auch schon wieder das Ziel, die Kuranlage Johannesbad, den Ausrichter dieses Marathonlaufes. Ob Ines zur Halbzeit da sein wird? Sie stellte es am Start in Frage, es geht ihr miserabel heute, die Bazillen haben ihr über Nacht weiter zugesetzt. Dennoch bin ich fast sicher, dass sie mich erwarten wird. Warum weiß ich nicht, ist einfach so. Noch einmal links abbiegen und dann bin ich auf der Zielgeraden. Halbmarathonis durch die rechte, Marathonis in die linke Gasse. Und schon höre ich, wie die Zeitnahme mit bekanntem Pfeifen meine Chipnummer registriert und ihr die HM-Zwischenzeit zuordnet. Dahinten steht sie - Ines! Sie nimmt die Kamera hoch und macht ein paar Aufnahmen. Lächelnd winke ich ihr zu, signalisiere auf diese Weise „alles in bester Ordnung“. Ich sehe und fühle, dass man das von ihr nicht sagen kann ...

So, nun „geht’s nach Hause“, die Hälfte ist geschafft. Vor dem Lauf konnte ich der Unterhaltung zweier Läufer ein paar Sätze lang folgen. Einer sprach von der psychischen Barriere, die ein auf zwei Runden angelegter Marathon zur Halbzeit bereit hält. „Schon 21 km in den Beinen haben und dann noch mal die Kraft aufbringen für eine zweite, gleich lange Runde!“. Seine Worte kommen mir jetzt wieder in den Sinn und ich kann sie absolut nicht bestätigen. Klar, neue Ansichten und Bilder wären interessanter. Außerdem laufe ich deutlich unter meinem Limit und fühle bisher wenig Ermüdung. Jedenfalls macht mir eine zweite Runde nichts aus. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es anders wäre, wenn ich den HM zehn Minuten früher und mit hängender Zunge abgeschlossen hätte.

Safferstetten - freies Feld - Kreuzungspunkt der „8“ - die Kilometermarken ziehen im Fünf-Minuten-Takt vorbei. Kirchham, wo vor Eindreiviertelstunden der Pfarrer Sturm läuten ließ. Trinken - weiter. 24, 25, 26 Kilometer. So langsam spüre ich die Strecke in den Beinen und bereite mich innerlich auf das Kommende vor. Am Ortsausgang von Kirchham wacht der zweite Teil von Stefans Fanclub, seine Freundin. Meine Frage beantwortet sie mit der erfreulichen Botschaft, dass mit ihm zur Halbzeit alles in bester Ordnung war.

Ein Langschläfer greift nun auch ins Wettkampfgeschehen ein: Mittag ist vorbei und so muss man sich über ein kaltes Lüftchen nicht wundern. Aber dieser Wind ist harmlos, besonders wenn man sich vorstellt, wie er im Verbund mit Schnee und Frost im Februar wüten könnte ... Eigentlich hatte ich erwartet auf der zweiten Runde ziemlich einsam zu sein, da nur 350 Marathonis gemeldet sind. Das geschah erfreulicherweise nicht und bis zum Ziel gibt es fast kein Wegstück, auf dem ich meine Vorausläufer aus den Augen verlöre.

28 Kilometer: Eine Distanz, nach der ich anlässlich langer Trainingsläufe manchmal schon ziemlich „im Eimer“ bin. Heute fühle ich mich gut, immer noch vergleichsweise locker. Nur ein wenig häufiger rufe ich mich jetzt zur Ordnung: Arme hoch! Konstant Tempo halten! Es beginnt die Phase des Überholens, viele werden langsamer. Ihre Schwäche dokumentiert meine Stärke. Das ist motivierend, zugleich verführt es zu schleichender Tempoverschleppung. Irgendwo kurz vor der 30er-Marke alarmiert mich die Uhr: Nur noch -3 Sekunden! Also langsamer werden muss ich auch nicht unbedingt und trete das Gaspedal ein klein wenig weiter durch. Minuten später spüre ich das höhere Tempo und bekomme es an den folgenden Kilometertafeln auch bestätigt: Wieder -10, dann -20, -30 Sekunden und so weiter.

Grauer Steinklotz mit Turm voraus, die Kirche von Aigen. Unangestrengt schwatzend nähern sich zwei Läufer. Wie schön es doch ist, auf der zweiten Streckenhälfte das Tempo ein bisschen zu erhöhen und ständig zu überholen, höre ich von hinten. Der andere bestätigt, kürzer, leiser, kurzatmiger, nicht ganz so unangestrengt. Dann sind sie auf meiner Höhe und der Ausgeruhte spricht von Horst Preisler. Ich spitze die Ohren. Hallo Leser! Du kennst Horst Preisler nicht? Bei Läufern durchaus eine Bildungslücke. Horst Preisler ist über 70 Jahre alt und der Mensch mit den meisten Marathon- und Ultraläufen weltweit. Und nun höre ich, dass seine Rekordmarke wohl gerade bei 1477 Läufen steht und er dieses Jahr schon vier Mal die Marathondistanz gefinisht hat. Was für ein Läufer!

Die beiden sind vorbei und schon ein kleines Stück voraus. Ein nur gaaaanz sanftes Ziehen will mich heute dazu bringen die Verfolgung aufzunehmen. Mein Psychoblock sitzt fest: Zielzeit 3:30h! Basta! Also vergrößert sich der Abstand und ich kann dem Vortrag des Einen nur noch entnehmen, dass er letztes Wochenende irgendwo einen 50-km-Lauf hinter sich brachte.

Aigen, links ab, Richtung Irching, noch ca. 9 Kilometer. Binnen weniger Kilometer haben meine Beine ihren Protest erheblich verschärft. Zum Glück schweigt das rechte Knie und auch die rechte Hüfte verhält sich merkwürdig kooperativ. Dafür hab ich leichte Schmerzen im linken Knie. Was soll das denn nun wieder? Eines der vielen Rätsel, vor die mich mein Körper von Zeit zu Zeit stellt - im Guten, wie im Bösen. Mit der Kraft habe ich nicht das mindeste Problem, könnte sicher eine beeindruckende Schlussoffensive starten. Aber ab der Hüfte abwärts tut’s schon heftig weh. Zum ersten Mal bin ich wirklich froh, mich an die Tempovorgabe strikt gehalten zu haben. Bloß nicht überziehen! Bloß nicht noch eine Blessur riskieren! Bloß nicht das eigentliche Saisonziel aus den Augen verlieren (Nö, ich sag nicht was das ist ...)!

Trotz der jetzt unangenehmen Begleitmusik aus der Tiefe wird mir die Zeit nicht lang. Die Kilometermarken registriere ich, sehne sie jedoch nicht herbei. Fünf Minuten fühlen sich noch immer genauso lang an, wie vor zwei Stunden. Schweißperlen wische ich mir mittlerweile aus dem Gesicht. Schon vorzeiten hat die Wolkenvollversammlung ihre Selbstauflösung beschlossen! Die Sonne heizt kräftig und verspricht einen strahlenden Zieleinlauf. Ortschaft Holzhäuser - elegant und sanft geschwungener Waldrand - Egglfing, einstige Heimat querab voraus - noch 4,5 Kilometer.

Es tut verflucht weh jetzt! Woran also denken. Erstmal taktisch: Arme hoch! Tempo halten! Nicht verkrampfen! Unrund ist ok, die Nervenbahnen sind genau so müde wie der Rest, da kann die Koordination nicht mehr tipptopp sein! Unrund ist ok, aber nicht schlapp! Das darfst du nicht, du bist nicht müde! - Morgen werde ich mich schon wieder nicht mehr an diese Schmerzen erinnern können. Das ist immer so. Natürlich weiß ich noch, dass es verflucht weh tat. Wie könnte ich sonst darüber schreiben. Weiß wie sehr es schmerzte, ab wann und in welchen Fasern. Aber es ist unmöglich sich diese Schmerzen hinterher bewusst zu machen, sie in der Erinnerung zu fühlen. Ist das womöglich eine wichtige Voraussetzung sich die Tortur des letzten Viertels häufiger als nur einmal zuzumuten? So lange ich in der Qual des Schlussabschnitts gefangen bin, kann ich mir ja Meter für Meter sagen, wie bald schon alles vorbei sein wird. Aber wäre es danach nicht ein Grund es nie wieder zu tun, könnte man diesen K(r)ampf nochmals im Gedächtnis abrufen? Kurios, was gut durchblutete Läuferhirne in Stunden sonstiger Unterbeschäftigung so alles ausbrüten.

Noch drei Kilometer. Es reicht für heute. Aber ein Marathon hat nun mal über 42 Kilometer. Ausgangs Egglfing taumelt ein wuschelig am Kopf behaarter Läufer vor mir. Fällt der noch vor dem Ziel um, erst hinterher oder bleibt er auf der Matte im Ziel liegen und lässt die Messeinrichtung Daueralarm pfeifen? Wahnsinn, wie der sich schindet, ein gutes Stück den Oberkörper schon nach vorne geneigt, mit unkontrolliert pendelndem Kopf obenauf. Jederzeit rechne ich damit, dass der runterfällt und über die Straße kullert. Wahnsinn! Der ist fertig, jedenfalls sieht es so aus und so nimmt mich nicht Wunder, dass ich an ihm vorbei ziehe. Dafür erstaunt mich dann das Laufgeräusch hinter mir! Anscheinend mobilisiert er noch ein paar Milligramm Kohlenhydrate in den Ohrläppchen oder den kleinen Zehen! Noch 2 Kilometer und dann - unglaublich - überholt mich der Zombie wieder! Erster Impuls: Dem zeigst du es jetzt! Quatsch! Lass ihn doch laufen, gönn ihm seinen Endspurt und dass er mich wieder überholt hat. Irre, der hält das durch, stolpert jetzt schon zwanzig Meter vor mir durch die ersten Häuser von Bad Füssing. Der letzte Kilometer. Was ist mit mir? Zeit: Kein Problem, werde mit einer 3:29:xx einlaufen. Beine: Höllisch jetzt und wie immer so kurz vorm Ziel sch...egal! Nur der Zieleinlauf zählt jetzt noch. Die Welt verengt sich für Minuten auf die Erwartung dieses gleichermaßen erlösenden, wie triumphalen Moments. Letzte Kurve, wie ist das geil! Und wie leicht mir die letzten, schmerzenden Schritte heute fallen. Geschafft!

Laufzeit: 3:29:37 Stunden

Er liegt zerschmettert vor mir - der erste Kopf der Hydra. Nach 42 Kilometern Anlauf hab ich ihr eins übergebraten. Aber was ist das? Sehe ich da aus der Wunde des Ungetüms zwei neue Köpfe wachsen ...?