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Vom Land in die Stadt  –  Düsseldorf Marathon 2007

Für einen Marathon über Tausend Kilometer mit dem Auto zu fahren wird manchem ein Kopfschütteln entlocken - umso eher die Absicht nach dem Lauf gleich wieder die Heimreise anzutreten. Die „Sache“ an sich stellt mich zwar vor keine erwähnenswerten Schwierigkeiten - beim Autofahren kann ich ja sitzen  ;-)  Gleichwohl geht mir auf dem Hinweg mehr als einmal der Anachronismus einer solchen „Individualfahrt“ durch den Kopf. Alle Welt diskutiert über den Klimawandel und ich puste zu meinem Vergnügen mal so eben zig Kilo Treibhausgas in die Atmosphäre. Immer wieder enden diese Überlegungen mit der Feststellung nur zwei Alternativen zu haben: Es genau so zu realisieren, oder es zu lassen. Ich will es aber nicht lassen. Mainz läge deutlich näher - dort läuft man diesen Sonntag auch 42195 Meter weit - war aber schon nach kurzer Zeit „ausgebucht“. Sich Monate im voraus anzumelden erfordert Terminsicherheit, über die ich nicht verfüge. Nicht im Allgemeinen und erst recht nicht läuferisch. Wer hohe Umfänge läuft und dabei hart trainiert, muss mit Verletzungen rechnen.

Am Samstagabend genieße ich die Gastfreundschaft von Peter und seiner Familie. Gelegentliche Korrespondenz im Laufforum war bisher die einzige Quelle unserer Kontakte und so reichten sich Wunsch und Gelegenheit die Hand, ihn anlässlich des Düsseldorf Marathons endlich kennen zu lernen. Auch deshalb finde ich Gefallen an meinem Ultra-Trainingsplan, weil er mir die Möglichkeit einräumt, „mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen“. Ich darf viele Marathons laufen und habe keine Not mit strengen Zeitvorgaben. Hauptsache ich laufe das „Ding“ durch. Peter strebt in Düsseldorf eine persönliche Bestzeit um die 3:40h an und mit Freude „springe ich auf seinen Zug auf“, gebe meinem Trainingslauf den zusätzlichen Sinn einen Laufkameraden zu unterstützen.

‚Neun Uhr unter der Oberkasseler Brücke’ war als Richtwert für ein Forumstreffen ausgegeben. Leider finden wir nur Hans-Dieter vor, die anderen scheinen es nicht geschafft zu haben. Hans-Dieter versucht mich dann davon zu überzeugen, er sei ein „schlechter Marathonläufer“, auf Unterdistanzen erziele er bessere Ergebnisse. Immerhin hält er sich nichtbedeckt und lässt die heutige Absicht einer persönlichen Bestleistung Sub3h durchblicken. Was für ein miserabler Marathonläufer mir da - lässig ans Geländer gelehnt - gegenüber steht, erfahre ich erst am Abend vor dem heimischen PC aus der Ergebnisliste. Hans-Dieter hat mit 2:58+irgendwas völlig versagt ... Wärt ihr nicht auch gerne so „schlechte“ Marathonläufer? :-)) Wir verabschieden Hans-Dieter mit besten Wünschen in den vorderen Startblock. Für mich geht das Verabschieden weiter: Zwar werden sie als Peters Fan- und Versorgungstruppe mehrmals an der Strecke stehen, ich werde seine Familie nach dem Lauf jedoch vermutlich nicht nochmals treffen.

Wir arbeiten uns durch das Läuferfeld nach vorne. Wohin sollen, wohin müssen wir? Vergeblich suche ich die angekündigte Einteilung von Startblöcken. Irgendwann stehen die Läufer so dicht, dass jeder Vorwärtsschritt einen Rempler bedeuten würde. Also begnügen wir uns mit sechzig, siebzig Meter Abstand zur Startlinie. Zu weit hinten für 3:40h sagt mir die Erfahrung und tatsächlich identifiziere ich dann zehn Meter schräg vor mir den Zugläufer 3:59:59. Aber heute verstehe ich mich als Dienstleister. Peters Ambition steht im Mittelpunkt und er gibt sich mit der Position zufrieden. „Das verhindert wenigstens zu schnelles Losrennen!“ stellt er einigermaßen überzeugend fest. Dann sind es nur noch zwei, drei Minuten und ich reiße mir erst mal den Müllsack vom Leib. Augenblicklich friere ich noch mehr als bisher schon. Wir stehen auf der Rheinuferstraße, Höhe Rheinterrasse, im Schatten dichter Laubbäume. Der leichte Wind lässt mich die niedrige Temperatur noch kälter empfinden.

Also das haben die in Düsseldorf nicht drauf! Statt die Läufer mit schmissiger Musik und markig feurigen Sätzen noch mal richtig heiß zu machen, quatscht der Sprecher überflüssig sinnloses Zeug von einem Bild, das man von ihm und dem Fußballbundestrainer Joachim Löv machen solle. Ein Foto, dass ja wohl jeder hier unbestreitbar gerne besäße. Äh, du, also echt, weißte, es gibt wenig, was mir gleichgültiger wäre, als ein Foto von mir und Yogi Löv. Da fällt mir auf Anhieb höchstens ein ebensolches neben Dieter B. ein. Die lausige Startdramaturgie setzt sich fort. Zwar dürfen wir uns in den Lauf zählen ... 5, 4, 3, 2, 1, Schuss! Ein pathetischer Klassiker untermalt dann jedoch die Startzeremonie und geht letztlich in ihr unter. Schade. Schade um den Klassiker und den vermasselten Start. Mit ein bisschen Wehmut denke ich an Regensburg, Ulm, Linz. Denen gelang es im „Marathon-Aufgalopp“ der letzten Sekunden, noch den allerletzten Hardcore-Trauerkloß aus seiner Lethargie zu wecken. Es gibt hundert Lieder, die genau für so einen Zweck komponiert scheinen. Wie kann man da daneben greifen? Aber das ist ja nur mein Geschmack und all den von Vorfreude Getriebenen um mich her ist es wahrscheinlich völlig „wurscht“.

Zehn Schritte Trab zum Auftakt, dann stockt die Menge und es geht erst mal gar nichts mehr. Das enge Starttor wirkt als Trichter und tatsächlich können wir erst mit dem auffordernden Quietschen der Zeitmessung in verhaltenen Trimmtrab übergehen. 5:20 min/km lautet der Takt für die erste Hälfte. Das werden wir so natürlich nicht schaffen. Da wir aber auf breiter Straße entlang des Rheinufers bleiben, zieht sich das Feld erfreulich schnell auseinander. Peter beginnt alsbald mit Überholmanövern und ich tue es ihm gleich. Der erste Kilometer sieht uns noch um einige Sekunden über der Sollzeit, beim zweiten unterschreiten wir die Marke aber schon. Peter läuft im leuchtend gelb-blauen Outfit der Laufgruppe „Rheinische Post“ (Tageszeitung), wie mehr als zweihundert andere auch. Kaum eine Phase des Laufes vergeht, in der nicht einer der unübersehbaren „Kanarienvögel“ in Sichtweite wäre. Upps, was ist das!? Dem kleinen Drahtigen vor mir fällt schubweise das Frühstück aus dem Gesicht und klatscht auf die Straße. Zweimal komme ich gerade so dran vorbei, dann hat er es wohl überstanden. Was es nicht alles gibt! Wie kann man ohne Tempoeinbuße weiterlaufen, wenn einem speiübel ist? Stramme Leistung. Oder passiert so was auch unvermittelt, ohne von Übelkeit begleitet zu sein? Peter verschmitzt: „Der will sicher nur Gewicht einsparen.“

Drei Kilometer Rheinufer sind vorbei, die Strecke schwenkt nach rechts und ich bin schon ein klein wenig gespannt, wie Düsseldorf im „Inneren“ aussieht. Dankbar spüre ich die Morgensonne im Nacken, lässt mich doch jeder Windhauch in meinem Trägershirt frösteln. Wie schaut’s denn in mir aus? Das Prädikat „mittelprächtig“ gibt es am besten wieder. Es strengt mich nicht an, dennoch fehlt die Frische in den Beinen. Ich nehm’s mit Gleichmut, was durfte ich anderes erwarten? Ein Ruhetag ist wenig, nach sieben Tagen ohne Trainingspause. Außerdem hab’ ich mir dann am Freitag noch mal ordentlich die Kante gegeben. In freitäglicher Hektik vergaß ich meine Sporttasche mit nach Hause zu nehmen und so fehlte mir beim letzten Training der Pulsmesser. Bin ja beileibe kein Profi, muss man deshalb aber gelegentlich so unprofessionell zu Werke gehen? Was macht Udo in so einem Fall? Aus der Not eine (Un-) Tugend und ersetzt den vorgesehenen einstündigen 80%-Lauf durch einen ebenso langen Tempolauf. Motto: Am Limit kann ich auch ohne Pulsmesser laufen, was grad noch geht merk ich auch so. Das Dumme, und wieder einmal Erstaunliche, war, dass mein Body mir die dafür nötige Leistung auch noch klaglos lieferte! Und das obwohl ich mich in der härtesten Trainingswoche bisher befinde. Im Marathonziel werden es 142 Trainingskilometer sein ... Also sind meine Beine zu mehr als „mittelprächtig“ heute wirklich nicht „verpflichtet“. Die erste Verpflegungsstelle. Peter kündigt an sie auszulassen, was mir ein leichtes Stirnrunzeln verursacht, sind doch die ersten Wasserstellen die wichtigsten, um den einsetzenden Flüssigkeitsverlust einigermaßen im Rahmen zu halten.

Fünf Kilometer. In diesem Teil der Stadt sind die Läufer weitgehend mit sich allein. Ein Rechtsschlenker bringt uns zurück zum Rheinufer und so laufen wir auf bekannter Route stromaufwärts. Wie kann man als Zuschauer einem Läufer helfen? Da gibt’s diverse Möglichkeiten, vom lauten „Bravo!“, über simples Klatschen bis hin zum stummen Vorzeigen eines Spruches. Besser als ein zotiges „Quäl dich du Sau!“ wirkt allemal eine personalisierte Ansprache. Diese junge Frau hat ihrem Herzallerliebsten gleich mehrere Zeilen gewidmet. Wenn er sie nicht so früh sieht wie ich, wird er stehen bleiben müssen, um zu lesen, dass sie aus Liebe zum ihrem „Oli“ dieses „blöde Plakat heute durch die ganze Stadt trägt!“

Sieben Kilometer, erst links, alsbald wieder rechts, ich setze meine Düsseldorf-Besichtigung abseits der Rheinpromenade fort. Auch die nächste Tränke verschmäht Peter, fügt diesmal jedoch erklärend hinzu, sein Fitnessteam warte nicht weit von hier mit einer Flasche. Ich schnappe mir im Vorbeilaufen einen Becher, um schnell wieder zu ihm aufzuschließen. Einen Moment lassen wir uns aus den Augen und produzieren ein Missverständnis. Vielleicht den Klassiker aller Missverständnisse, wenn man gemeinsam Marathon läuft: Ich vermute ihn vor mir und laufe recht zügig weiter. Er wähnt mich hinter sich und bleibt kurz stehen. Sein gelb-blau ist nun hilfreich, so orte ich ihn flugs sechs, sieben Meter hinter mir. „Nimm keine Rücksicht auf mich, ich richte mich nach dir, lauf einfach zu!“ meine ich für den Rest des Laufes klarstellen zu müssen. Schon hier wird mir bewusst, dass mir einiges daran liegt, ihm heute bei seiner Bestzeit zu helfen. Kilian, Peters Sohn, flitzt auf uns zu und übergibt die erste Flasche. Die anderen Mitglieder von Peters Coaching-Team machen sich auch „nützlich“: Filmend und applaudierend werden wir auf den nächsten Streckenabschnitt geschickt.

Wir spulen Kilometer um Kilometer eines nicht besonders spektakulären Kurses herunter. Kaum Zuschauerresonanz erleichtert diesen Teil des Weges. Unser Tempo ändert sich gefühlsmäßig nicht. Peter wird zwar bei jedem der zahlreichen Überholvorgänge schneller, fällt danach aber wieder in langsameren Schritt. Die Split-Vorgabe 5:20 min/km summiert sich nach jeweils drei Kilometern zu 16 Minuten. Eine Sollzeitvorgabe alle drei Kilometer reicht, um unser Tempo zuverlässig zu kontrollieren. Bei Kilometer 12 sind wir etwa zwei Minuten unter Soll. Peter scheint’s mit Befriedigung zu registrieren. Er wirkt unangestrengt und frisch, kein Atemgeräusch ist zu vernehmen. Mit „Sag es, wenn du langsamer laufen willst!“ meine ich ihm trotzdem eine Alternative anbieten zu müssen. „Ich halte mich bewusst einen halben Schritt hinter dir, will dich nicht antreiben.“

Ein leichte Steigung steht uns nach dreizehn Kilometern in Form einer Brücke bevor. Das Bauwerk überspannt einen zweihundert Meter breiten Streifen ausgesprochen hässlichen Brachlandes, offensichtlich Eigentum der Bahn. Wie eine schlecht versorgte, schwelende Wunde zieht sich diese Schneise durch die Stadt, einzig genutzt von der an ihrem Rand verlaufenden Bahntrasse. Ein ganz und gar unschöner Ort in dieser ansonsten so adrett und aufgeräumt wirkenden City. Warum lässt man ein derart riesiges Areal verkommen? Einen herrlicher Park, eine zusätzliche, grüne Oase, könnte man hier schaffen!

‚Kiosk am Zoo’ - wir müssen in der Nähe des Düsseldorfer Zoos sein, auf jeden Fall aber kurz vor der 15 km-Zwischenzeit. Die bestätigt uns neuerlich eine gleichmäßige Pace, der Vorsprung zur Sollzeit ist auf über drei Minuten gewachsen. Nach einem der vielen Richtungswechsel laufen wir wieder einmal in einen Windstoß und mir wird bewusst, wie kühl es noch ist: „Im Wind friere ich jedes Mal“. Ich wüsste Peters halb spöttischen, halb erstaunten Seitenblick auch so zu deuten. Er hätte ihn mit „Mich würde jetzt dein Pulswert interessieren.“ nicht erläutern müssen. ‚Der dürfte so um die 70% schwanken’ denke ich mir, spreche es aber nicht aus. Stattdessen beschreibe ich das merkwürdige Empfinden, ständig zwischen Schwitzen und Frösteln zu pendeln.

Es ist Sonntag und wir sind im Rheinland. Heute haben die Düsseldorfer Zeit und die Lust zum Feiern glaubte ich schon früher als typisch für Rheinländer feststellen zu müssen. Kneipen servieren an Stehtischen im Freien, Holzkohlengrills verbreiten unzumutbar verlockende Düfte, Bier und Wein fließen in Strömen, laute Musik und gut gelaunte Menschen passieren wir jetzt vielerorts. Der Düsseldorf Marathon als Happening. Warum macht mich das heute so gar nicht an? Ab und an klatsche ich ein paar Kinder ab und nehme auch den Beifall der Leute dankbar entgegen, alles wie gehabt. Ein typischer Stadtmarathon und doch ist etwas anders. Wahrscheinlich bin ICH heute anders. Liegt es am „Kulturschock“? Nach dem Marathon-Doppelpack in traumhafter Landschaft, unter weit weniger Mitstreitern, vergleichsweise ohne Publikum, nun mitten in den nüchternen Schluchten einer Großstadt? Kann sein, weiß nicht. - 18 Kilometer, wieder ein paar Sekunden gut gemacht, Geschwindigkeit uhrwerkartig konstant. Merkt Peter, dass er auf Abschnitten mit starkem Applaus schneller wird? Da wir ein paar Meter dahinter jedes Mal und automatisch wieder „abbremsen“, scheint mir eine Bemerkung nicht angebracht.

Die Waden melden einen leichten Anstieg. Via Brücke überwinden wir Düsseldorfs abstoßenden „Hinterhof“ mit der Bahnlinie zum zweiten Mal. Auf der anderen Seite erwartet uns die nächste Wechselzone für die Staffelläufer. Unübersehbar schickt sie ein rotes Pappschild in eine gesonderte Gasse, für uns geht’s geradeaus und ohne Behinderung weiter - weiter zum Halbmarathon: Fast fünf Minuten unter Sollzeit versprechen eine Endzeit um die 3:40h, wenn wir dieses Tempo durchstehen. Peters Bemerkung entnehme ich, dass er daran noch nicht so recht glauben mag. Ist es artiges „Understatement“, oder hegt er echte Bedenken? Kämpft er schon härter, als ich es an seinem immer noch entspannt wirkenden Äußeren ablesen könnte? Sein unbeirrter Schritt scheint mir Antwort genug. Irgendwo hier sehe ich dann die Liebende und ihr ellenlanges Plakat wieder. Sie scheint das „blöde“ Ding für ihren „Oli“ heute tatsächlich durch die ganze Stadt zu tragen. Und nicht nur das: Stoisch, mit unbewegtem Gesicht, einer Statue gleich, hält sie es vor der Brust. Wenn sie da heute noch stünde, es nähme mich nicht Wunder ...

„Und? Wie gefällt dir Düsseldorf?“ will Peter wissen. „Ist eine nette Stadt, vor allem mit sehr viel Grün überall!“ antworte ich. Die folgenden Kilometer macht sich dieses Grün allerdings ein wenig rar. Im Viertel vor dem Düsseldorfer Binnenhafen geht es auch mehr um Handel, denn Wandel. Und dann „reißt es mich doch noch vom architektonischen Hocker“: Drei mittelgroße Bürokomplexe, die Gehry Bauten, wie ich später im Internet recherchiere, verwirren mit ungewohnter Form. Obwohl in Farbe und Verkleidung völlig unterschiedlich, erkennt man am gestuften Bau und den schiefen Fassaden unmittelbar die Verwandtschaft. Sofort bin ich an das „tanzende Haus“ am Moldauufer erinnert, das im letzten Jahr beim Prag Marathon Orientierung bot. „Da hat sich ein Architekt ausgetobt“ lasse ich mich Peter gegenüber ein. „Ja, hier in der Stadt dürfen sie, was bei uns auf dem Dorf verboten ist!“ gibt er zurück. Und weiter. Wir laufen in Zielnähe, obwohl noch mehr als fünfzehn Kilometer vor uns liegen. Peter macht mich auf das Schlussstück des Kurses aufmerksam. Dann will er die Zeit wissen. Eine Zwischenzeit habe ich erst bei dem durch „3“ teilbaren Kilometer 27 anzubieten. Die interessiert ihn aber gar nicht. „2:13h vorbei“ melde ich wunschgemäß und kapiere wenig später, dass er nach der Spitzengruppe Ausschau hält. „Die ersten sind sicher schon durch, wir müssen noch ein paar Minuten draufrechnen.“ Tatsächlich war der spätere Sieger, der mir bisher unbekannte Kenianer Bellor Yator, schon 8, 9 Minuten vorher hier vorbei geflogen, um dann mit 2:09:47 einen neuen Streckenrekord aufzustellen.

Auf der schattigen Königsallee feuert mich plötzlich jemand an. Meint der wirklich mich? Oder gibt’s nahebei noch einen „Udo“ im Feld? Aber er sucht und findet meinen Blick und ich winke zurück. Das kann nur einer aus dem Forum sein und so krame ich eine Minute lang im Erinnerungsfundus. Leider kann ich das reale Konterfei keinem der viel zu kleinen Avatare aus dem Forum zuordnen. Vielleicht liest er später meinen Laufbericht und gibt sich zu erkennen ...

Nach weit geschwungener Linkskurve liegt die Rampe zur Oberkasseler Brücke vor uns, tatsächlich die bisher einzige ernsthafte Steigung. Eine dicht stehende, munter applaudierende Zuschauergasse engt den Laufweg ein. Zum wiederholten Mal nestelt Peter an seinem Pulsmesser. Der „Wecker“ fällt jedes Mal aus, wenn wir in der Nähe einer Oberleitung laufen. - Das kenne ich von seltenen Abschnitten meiner heimischen Trainingsstrecken, etwa entlang einer S-Bahntrasse oder in der Nähe einer mysteriösen Einrichtung im Wald. Keine Ahnung wer und was sich hinter Zaun und dichtem Wald versteckt. Auf jeden Fall erzeugt „es“ ein elektromagnetisches Feld und so erklärt mich der „Pulser“ dort jedes Mal für „klinisch tot“. - Peter reduziert im Anstieg das Tempo. Dennoch kündet sein zum ersten Mal wahrnehmbares Atmen von erhöhter Anstrengung. Dann fällt die Fahrbahn wieder und unsere Schritte gewinnen an Dynamik. Am Ende der Brücke stürmen viele Reize auf uns ein. Akustisch in Form von Lautsprecherdurchsagen der Namen schnellerer Läufer auf Gegenkurs. Akustisch auch als laute Musik in schnellem Diskorhythmus. Dazu optisch durch eine Gruppe Cheerleader und eine der bisher größten Zuschaueransammlungen. Viele von ihnen haben es sich an üppig gedeckten Tischen bequem gemacht. Für uns bleibt nur der nächste Verpflegungspunkt mit der allerdings wichtigsten aller Flüssigkeiten - Wasser!

Vom immer noch leicht erhöhten Brückenfuss greift mein Blick weit voraus. Den nächsten Kilometer geht’s „schnurgeradeaus“. Kilometer 30: Von den teilweise über sechs heraus gelaufenen Minuten unter Soll haben wir nach der Brücke nur wenig eingebüßt. Aber, und das brauchst du keinem, der die Strecke schon mal mit eigenen Füßen abgemessen hat, zu erklären, ein Marathon wird auf den Kilometern mit der „3“ vorne dran erst richtig hart. Ob Peter das Tempo durchsteht? Was ist mit mir? Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen elitär oder überheblich, ist aber keinesfalls so zu verstehen: Seit dem Zuruf auf der Kö’ habe ich mental ein wenig an „Drive“ gewonnen und auf den Schlusskilometern fängt dieser Lauf erst richtig an mir Spaß zu machen. Das liegt vielleicht auch an positiver Selbstwahrnehmung: Die Pace strengt mich kaum an - was gut ist für mein bevorstehendes 100 km-Abenteuer - und die anfängliche „Steifheit“ oder „Härte“ in meinen Beinen hat sich auch nicht verschärft.

Ich höre Peter atmen und das ist nicht gut. Scheint, dass er schon kämpfen muss, eindeutig zu früh. Was könnte ich ihm jetzt sagen, was könnte ihn beflügeln? Nach Kilometer 32 und scharfer Rechtskurve lasse ich dann einen ersten Spruch ab: „Noch zehn Kilometer. Jetzt lassen wir uns deine neue Bestzeit nicht mehr nehmen!“ Mann oh Mann, indem ich es ausspreche kommt mir der Spruch ziemlich dämlich vor. Mit dem „wir“ beweise ich mir zugleich, wie sehr ich seine „Sache“ zu meiner erkoren hab. Peter zweifelt! Ich höre und ich spüre es. Peter muss „fighten“. Auch der Griff nach Cola, nach dem „Zuckerschuss“ bei Kilometer 33, spricht eine eindeutige Sprache. So gut es eben geht versuche ich ihn zu unterstützen. Kommen langsamere Läufer in die Quere, was nun wieder häufiger geschieht, gehe ich demonstrativ weit nach außen, um ihm den kürzeren Weg frei zu machen.

Plötzlich „schießt“ ein Zuschauer seitlich auf uns zu und quatscht irgendwas davon, wie gut ich noch aussehe und ob wir unter 3:40h ins Ziel kommen werden. Ist der besoffen? Irritiert bestätige ich erst mal und „husch“ sind wir auch wieder weg und in Sicherheit. Peter fragt mich, ob er denn schon so fertig aussähe. Wahrheitsgemäß verneine ich das. Man muss schon über dreißig Kilometer neben ihm her gelaufen sein, um Zeichen seiner Ermüdung deuten zu können. „Ich hör’ an deinem Atem, dass du am Limit läufst“ sage ich und vernehme im Nachhinein noch den unbewusst optimistischen Unterton meines Satzes. Kilometer 34: „Nur noch acht Kilometer. Eine lächerliche Distanz, dafür würden wir sonst die Laufschuhe nicht anziehen!“ versuche ich Peter wieder ein wenig anzuschieben. „Doch schon, wenn ich mit meiner Frau laufe“ gibt er ein wenig kurzatmig zurück. Fast kommt es mir vor, als wehrte er sich gegen mein plumpes „virtuelles Schulterklopfen“.

Rechts ab, unter der Theodor-Heuss-Brücke hindurch und nun schier endlos an der Rheinpromenade entlang. Schatten Fehlanzeige, Wind spüre ich auch keinen und mir wird langsam richtig warm. Eine Tafel kündigt einen Massagepunkt an. Tatsächlich hat sich da einer flach gelegt und lässt sich durchwalken. Auch eine Art, den Trainingsrückstand oder eine falsche Wettkampfeinteilung zu kompensieren ... Langsam schiebt sich die Oberkasseler Brücke wieder ins Blickfeld, wird größer und größer. Ein Sinnbild für Peters Schwierigkeiten, die immer offenkundiger zu Tage treten. Kurz vor der Brücke stürmt uns wieder Kilian entgegen, bietet seinem Vater ein Beutelchen Gel und eine Flasche an. Peter will nur trinken. Nach der Brücke erwartet uns eine winzige Steigung, kaum mehr als fünfzig Meter. Ich fixiere Peter von der Seite, spüre wie ihm der Minibuckel alles abverlangt, als liefe ich mit seinen Beinen. Mein „Nimm Tempo raus!“ ist sicher nicht nötig, er wird automatisch langsamer. Weiter, immer weiter. Kilometer 36 liegt hinter uns. Was kann ich noch tun? „Versuch dich noch mal bewusst aufs Laufen zu konzentrieren, damit dein Stil nicht schlampig wird!“ Oh Mann, das klingt so Sch... Dummerweise ist mir kein anderes als dieses hässliche Wort „schlampig“ eingefallen. Mittlerweile kennt er mich, weiß „wes Geistes Kind ich bin“, er wird’s also nicht krumm nehmen. Er versucht es. Ein paar Schritte weit bewegt er sich nahezu lehrbuchreif.

Nach zwei Rechtskurven nehmen wir dann endlich wieder Anlauf auf die Oberkasseler Brücke, die letzte Steigung vor dem herbei gesehnten Zieltor. Freilich ein langer Anlauf über fast einen Kilometer. Auf der Gegenfahrbahn kämpfen sich ein paar der langsameren Läufer vorwärts. Ich laufe ein wenig seitlich und nach hinten versetzt zu Peter. Er lässt die Arme jetzt ziemlich hängen, ein deutlicher Reflex seiner Müdigkeit. „Nimm noch mal bewusst die Arme hoch, das hilft!“ Aber es hilft nicht genug. An der nahen Verpflegungsstelle greift er sich einen Becher und muss erst einmal ein Stück gehen. Also gehe ich auch. Nach wenigen Sekunden rafft er sich wieder auf, wir traben weiter.

Quälend langsam kommt die Brückenrampe näher. Mächtiges Remmidemmi umfängt uns dort. Mich würden der Lärm und die vielen Leute nerven, wäre ich an Peters Stelle und kämpfte darum überhaupt noch laufen zu können. Schafft er den Anstieg? Unvermittelt ist Kilian wieder neben uns und Peter bekommt von seiner Frau eine letzte Flasche. Peters Sohn will die letzten dreieinhalb Kilometer mit uns ins Ziel laufen, so ist es ausgemacht. Ein paar Schritte traben wir zu dritt nebeneinander her, dann muss Peter erneut gehen. Er schaut mich von der Seite an und will mir zum furiosen Finish verhelfen: „Na los, lauf, den Rest schaff’ ich auch alleine!“ Einen winzigen Moment bin ich tatsächlich versucht loszulaufen. Aber das wäre wider meine Natur. Über dreißig Jahre lang habe ich als Soldat Kameradschaft gelebt. Das hat meine Gene verändert. Einen Kameraden zurück zu lassen wäre unerträglich. Da müsste er den Lauf schon abbrechen. Also gehe ich auch. Gehen!?? Seltsames Gefühl! Niemals vorher bin ich gegangen. Nicht mal bei Trainingsläufen. Ein Paradoxon, das in meinem Erbgut bisher auch nicht programmiert war! In dieser durch zweiseitige „Bedrängnis“ verursachten Irritation gibt mein Unterbewusstsein einen Befehl und meine Beine führen ihn aus: Plötzlich trabe ich auf der Stelle!?? Wahnsinn, was in einem Läuferhirn so alles vor sich geht. Das ist die Lösung, ich laufe und bewege mich gleichzeitig nicht vorwärts. Ob das Peter beeinflusst weiß ich nicht, jedenfalls läuft er kurze Zeit später wieder an. Der Brückenscheitel ist unser, es geht jetzt leichter und zügig voran. Ich schiele mal auf die Uhr. Gemäß überschlägiger Rechnung liegen wir immer noch knapp unter der 3:40h. Natürlich gebe ich diese Erkenntnis weiter, in der Hoffnung es könnte Peter über die verbleibenden zwei Kilometer tragen.

Die Wirkung bleibt zunächst nicht aus, er nimmt sogar gewaltig Fahrt auf, rennt dann deutlich zu schnell. Würde es was bringen ihn jetzt zu bremsen? Vielleicht holt er ja auch irgendwoher die fünfte Luft. Was weiß denn ich? „Jetzt lässt du’s aber krachen“ rufe ich ihm zu. Anerkennung schwingt mit, mental „pushen“ soll es ihn und außerdem gebe ich zu erkennen, dass es eigentlich zu schnell ist. Nein, ich mach das nicht bewusst auf diese Weise, einfach instinktiv. Die Erkenntnis entspringt rückblickender Analyse, während ich mich vor meiner Tastatur noch einmal in die Szene versenke, sie ein zweites Mal erlebe. Eine ganze Weile hält er durch, wird jedoch mit jedem Meter langsamer. Innerlich fiebernd, bangend, hoffend starre ich auf meine Uhr. ‚Jetzt muss Kilometer 41 aber bald kommen, sonst schaffen wir es nicht mehr.’ Das denke ich nur, hüte mich es jetzt schon auszusprechen - nur nichts tun, was ihn „behindern“ könnte. Da fällt mir auf, dass ich die ganze Zeit über zwischen Peter und Kilian laufe. Ich spiele ein bisschen Regisseur und verändere die Positionen der Akteure auf der Bühne. Ich halte mich hinter den beiden oder nehme Kilian in die Mitte. Mir kommen Bilder aus Regensburg in den Sinn, wo ich glückliche Väter mit ihren Kindern finishen sah. Sehr bewegende Bilder, sogar für mich als Außenstehenden, und für die beiden hier sollte es auch ein solcher Höhepunkt werden ...

Ein letzter Rechtsschwenk, dann haben wir die Tafel mit der „41“ erreicht. ‚Verdammt das reicht nicht mehr, ich muss es ihm sagen, sonst ist er im Ziel enttäuscht’. „Das wird leider nicht mehr unter 3:40h reichen!“ Sein schwaches „Das-macht-nichts“ spiegelt wider wie fertig er grade ist. Den Zustand kenn’ ich, da ist einem die Uhr so was von sch...egal und du flehst einzig das Ende der Quälerei herbei. Voraus kommt diese Reihe aus hintereinander gestaffelten, chinesischen, gelb-rot bebänderten Torbögen in Sicht und ... Peter muss wieder gehen. Und Udo fällt wieder in seinen Trab auf der Stelle. Hilfe! Das muss von außen so entsetzlich lächerlich wirken. Egal! Peters Physis braucht seine Gehpause und mein Läufer-Ich seine Trimmübung. Nur Sekunden, dann mobilisiert Peter letzte Kräfte. Weiter! Traben! Weiter! Durch den „Chinesen-Tunnel“, in dem breite, mandeläugige Gesichter Wasser feilbieten, geradewegs auf das Rheinufer zu, Straße verlassen, quer über einen Platz, irgendwer am Rand schreit seine Begeisterung heraus: „Ja, los, nur noch vierhundert Meter, ihr packt das!“ Durch Absperrgitter, in einer Rechtskurve und ziemlich abschüssig, geht es hinunter zur Uferpromenade. Peter wird schneller, jetzt wird er nicht mehr stehen bleiben müssen, da bin ich sicher. Rechts voraus, vielleicht dreihundert Meter entfernt, sieht man schon das Ziel. Lauf Peter, lauf! Wir sind unten, halten das Tempo, links außen Kilian, daneben Peter, rechts ich. Eine Traube von langsameren Läufern versperrt den Weg. Da explodiert Peter, zieht in irrwitzigem Spurt links vorbei, nimmt Kilian mit. Einen Wimpernschlag später spurte ich selber los, halte mich auf gleicher Höhe, noch fünfzig Meter ... WAS IST DAS??? Ein Ordner verlegt Kilian den Weg, fängt ihn ab, hindert ihn am Weiterlaufen!?? Oh, mein Gott, wie ARMSELIG!!! Sollte das wirklich ein Naturgesetz des Marathons sein? Je größer der Lauf, umso kleinmütiger und bornierter die Organisation??? Sch...! Peter hat sich kurz umgewendet, gezögert, dann laufen wir nebeneinander über die Ziellinie.

„Was sagt die Uhr?“ Wie meistens habe ich die im Finish vergessen, unbeirrt tickt sie weiter. Aber wir sind erst ein paar Sekunden im Ziel und so kann ich seine Frage ungefähr beantworten: „Irgendwas mit 3:41h!“ Peter schmuggelt sich seitlich durchs Zieltor, will Kilian aus den Fängen dieses übereifrigen Ordners befreien. Ich löse das Band mit meinem Chip, um nicht versehentlich ein zweites Mal die Zeitnahme auszulösen und laufe ihm hinterher. Bald kehrt er unverrichteter Dinge wieder um. Der törichte Mensch hat den Jungen durch die unübersehbare Menschenmenge weggeschickt! Peter ist zwar sicher, dass er den Weg zum Treffpunkt finden wird, aber man weiß ja nie. Was für ein hässlicher Ausklang.

Bei zwei Alkoholfreien, in der jetzt angenehm wärmenden Sonne, mit Blick auf den Rhein, reden wir über den Lauf. Peter ist enttäuscht. Wortwahl und Klang der Stimme legen es nahe. Es IST eine persönliche Bestzeit, gleichwohl wollte er unter 3:40h ankommen. Und er wollte die komplette Distanz laufend durchstehen. Ich kann mich leidlich in seine augenblicklich widerstreitenden Empfindungen einfühlen. Zwar musste ich noch nie gehen, das Gefühl eine Niederlage erlitten zu haben, einer eigentlich tollen persönlichen Bestleistung zum Trotz, ist aber gerade mal ein Jahr alt. Prag 2006: Sub3 sollten es werden. Über mein Finish in 3:01:50 - sechs Minuten weniger als je zuvor - kam erst Stunden später Freude auf. Es dauerte Tage, bis mein Ego das Ergebnis als das akzeptieren konnte, was es nun mal war: Ein grandioser Sieg über mich selbst!

In der Ergebnisliste stehen wir nun mit 3:41:33 untereinander. Für Peter eine Bestmarke, zu der ich ihm herzlich gratuliere. Sie wird sicher nicht lange Bestand haben ... Gemeinsam feierten wir auch ein kleines Jubiläum: Es war Peters 5. und mein 25. Marathon.

 

Statistik:
Peter Udo
10 km 51:30
1. HM 1:48:06 1:48:05
30 km 2:35:03
2. HM 1:53:27
Gesamt 3:41:33
Platz 690 und 691 von 2097 Finishern
Platz AK 136 in M45 60 in M50

 


Peters Laufbericht:   Düsseldorf Marathon -

dem einen sein Testlauf und dem anderen seine Leistungsgrenze

Solche Extreme kommen vor, wenn sich zwei Läufer mit stark unterschiedlichem Leistungsniveau gemeinsam auf die Strecke begeben. Aber mal von Anfang an. Am Freitag hatten wir noch darüber gesprochen, wie man einen Bericht denn interessant gestaltet, damit er auch wirklich lesenswert ist. Aber auch dabei spielt wohl Erfahrung eine gewisse Rolle.

Mein Traum war eigentlich eine Zielzeit von 3:30 h und das eher realistische Ziel eine sub 3:40 h. Udo wollte nur einen „Trainingslauf“ machen, als Vorbereitung für sein Biel-Abenteuer, und bot sich an, mich bei meinem im Verhältnis harmlosen Unterfangen zu unterstützen. Die Gelegenheit von einem so erfahrenen Läufer begleitet zu werden konnte ich natürlich nicht ungenutzt lassen.

Als wir in Düsseldorf eintrafen war es mit 14 Grad noch relativ kühl und bedeckt. Gute Vorraussetzungen. Fast pünktlich um 09:00 Uhr kamen wir auch an der Brücke an und zum Glück erkannte Hadi Udo auf Anhieb. Hadi erklärte dann noch sein Tagesziel, bei dem ich schon das Gefühl hatte, dass er von einem anderen Planeten sprach. Sub 3 h! Nachdem wir 10 Minuten gewartet hatten und keiner mehr zu uns stieß, sind wir in Richtung Start getrottet. A bisserl enttäuscht warn mer scho. So viele Foriteilnehmer beim Lauf und keiner kommt.

Hadi trennte sich dann von uns um sich mit seinem blauen Punkt weiter vorne zu positionieren. Eine Boxeneinteilung wie im letzten Jahr fehlte leider und so standen die Läufer dicht gedrängt und bunt gemischt. Da dachte ich, wir hätten uns schon weit genug nach vorne gedrängelt, als Udo mich auf den Ballon des 4h Pacers vor uns aufmerksam machte. Wir sind dann aber dort verblieben, da Drängeln und Quetschen am Anfang auch nicht viel bringt. Die Strecke ist schließlich auch so, dass man relativ gut überholen kann. Das Gedöns um den Start durch Joachim Löw haben wir gar nicht mitbekommen. Aber es wurde wieder brav gezählt und mit den üblichen Stockungen, dank eines völlig überflüssigen engen Startkanals ging es dann auch los. Mittlerweile schien auch die Sonne und in einer frühlingshaften Atmosphäre ging es am Rhein lang.

In der Erinnerung bleiben bei so einem langen Lauf immer nur Momentaufnahmen. Dieses Mal begann es gleich bei km 1. Ein Läufer vor uns trennte sich dezent und Bissweise von seinem Frühstück. Gewicht sparen um jeden Preis? Meine Taktik sah vor, bis zur HM Marke mit 5:20er Pace zu laufen und dann zu beschleunigen wenn es geht. Da ist Udo ein richtiger Helfer, man stellt bei ihm 5:20 ein und die läuft man dann auch. Es war faszinierend. Die 5:20 waren so knapp das, was mein Pulsbereich noch verträgt und so kamen mir etwas Bedenken, als wir so langsam aber sicher auch noch Zeit gut machten.

Ich meine es war so bei km 15 als Udo sagte, im wäre kalt. Das konnte ich nun wirklich nur äußerst schwer nachvollziehen, weil ich schon heftig unter Dampf stand. Mein Puls schwankte so um die 80%! Leider hatte Udo keine Pulsuhr an. War ja auch nur ein Trainingslauf aber ich hätte eine Kiste Bier gegeben um seinen Pulswert an dieser Stelle zu erfahren. Wenigstens hat er nicht mit den Zähnen geklappert, es hätte mich total frustriert.

Die Streckenbeschreibung spare ich mir mal. Halt mal mehr oder weniger Zuschauer, mal Trommler, mal Cheerleader oder auch eine Stereoanlage gefolgt von ruhigeren Abschnitten. Also immer Abwechselung.

Bei km 22/23 hatten wir 5 Minuten gut. Es galt also „nur“ so weiter zu laufen. Allerdings fiel meine Pulsuhr ständig aus, so dass ich nicht wusste, ob oder wie oft ich denn meinen Grenzbereich schon überschritten hatte. Etwas mulmig wurde mir dabei schon. Aber so lange es geht lässt man halt laufen. Die Ausfälle kämen durch die Oberleitung meinte Udo. Wie dann die weitere Erfahrung zeigte, lag er damit goldrichtig. Jedesmal fiel pünktlich die Uhr aus, wenn ein Fahrdraht in Sicht kam. Als wir auf die Kö zusteuerten, sehen wir auf der Gegenrichtung den Läufer mit der Nr. 10, ein Holländer wie ich später der Ergebnisliste entnahm. Wie kann man nur so laufen? Wir haben noch 17 km vor uns.

Noch geht es und auf dem Weg zur Oberkasseler Brücke meldet sich die Pulsuhr wieder. Mit knappen 90%! Und reduziere direkt das Tempo um nicht im Anstieg, der zwar eigentlich sehr schwach ist, aber dennoch nicht zu unterschätzen, die Grenze zu überschreiten. Prompt fällt der alte Wecker wieder aus. Dank Straßenbahn. Es war einfach zum Mäusemelken. Oben angekommen bin ich sicher die magische Grenze locker überschritten zu haben und ein schlechtes Gewissen überfällt mich. Auf der Brücke dieses Jahr deutlich weniger Zuschauer. Aber weiter geht’s. Wie war dieser schöne Spruch: isnichmehrweit. Theorie und Praxis.

Am Verpflegungsstand bei km 33 griff ich zur Cola, da ich merkte, dass meine Kräfte nachließen. Die ganze Zeit trank Udo nur Wasser. Auch eine Frage des Trainings. Aber wenigstens schwitzte er jetzt auch. Oben auf der Rampe zur Theodor-Heuss-Brücke sprach jemand Udo an. „Sie sehen noch so gut aus. Werden Sie es unter 3:40h schaffen?“ Udo bejahte. Ich fragte, ob ich schon so schlecht aussehe, dass ich gar nicht erst gefragt wurde. Eigentlich nicht, aber an meinem Atem würde er schon hören, dass ich am Limit laufe, meinte Udo. Kein Wunder, meine Beine waren auch schon gründlich schwer und die folgende Strecke am Rhein lang war wieder schön sonnig. Das Gel, dass mein Verpflegungstrupp mir unter der OK Brücke anbot schlug ich aus. Mein Magen fühlte sich nicht gut an und ich wusste, dass ich jetzt wirklich kämpfen musste. Mein Puls war schon längst im Nirwana verschwunden. Eigentlich nur noch fünf Kilometer. Normalerweise eine Strecke, für die man nicht einmal Laufschuhe anzieht, aber jetzt kam sie mir wie ein Berg vor, der ständig steiler wird. Am nächsten Verpflegungsstand gehe ich ein paar Schritte und suche nach der Cola. Aber, nix da. Soll es erst wieder auf der anderen Seite geben. Zum Glück steht meine Frau mit einer Flasche verdünnter Cola an der Brückenrampe. Ab hier läuft auch mein Sohn mit. Aber ich muss schon wieder ein paar Schritte gehen. Da ist auch mit Willen nichts mehr zu machen, mein Körper bremst automatisch. Geduldig wartet Udo und will unbedingt bei mir bleiben. Das hatte ich geahnt und bin ihm dankbar, dass er nicht antreibt. Er hat halt genug Erfahrung um zu sehen ob jemand an seinem physischen Limit angekommen ist oder nur nicht in der Lage ist seine psychischen Grenzen zu verschieben. Kilian fragt auch treu ob ich nicht mehr kann. Es ist das dritte Mal, dass er mitläuft und hat das bisher noch nicht erlebt. Trotzdem geht es weiter. Nur noch drei km. Das motiviert und ich ziehe nochmals an. Die Freude währt aber nur kurz. Nach der zweiten Kö Runde muss ich wieder ein paar Schritte gehen. Nochmals aufraffen für das Finale. Ein Endspurt geht immer, hatte ich vorige Woche noch im Forum gelesen und setze bei den letzten 100m an. Es geht tatsächlich. Da wird Kilian von einem Ordner abgefangen, aber ich laufe erst einmal durch, gleichzeitig mit Udo. 3:41:33 werden gemessen. Für Udo ein Trainingslauf, er wirkt nicht mal richtig angestrengt. GA2? Für mich eine neue PB, aber mit Bauchschmerzen, da doch sehr hart erkauft und das eigentliche Ziel verfehlt.

Aber zunächst mal muss ich meinen Kilian suchen und schlängle mich im Zielkanal an Fotografen und Läufern vorbei um mir den Ordner zu greifen. Im letzten Jahr dürfte er anstandslos mit mir ins Ziel laufen. Anstatt ihn einfach dort warten zu lassen hat der Ordner ihn außen rum geschickt. Da frage ich mich doch, was mache Leute im Kopf haben, einen Zehnjährigen durch die Menschenmenge an eine Stelle zu schicken, die er nicht kennt. Zum Glück hatten wir als Treffpunkt ein Eiscafe vereinbart, wo ich ihn später mit Mama getroffen habe. Für Udo und mich war die Suche aber erst einmal zwecklos und ich war auch ziemlich am Ende. Wir haben uns also direkt zum Erdingerstand durch geschlagen und zwei Becher gegönnt und die Sonne mit Rheinblick genossen. Das hat meinen Vorsatz bestärkt nur noch bei Läufen zu starten, bei denen man danach nicht frieren muss sondern an der Sonne trocknen kann. Ein weiteres Phänomen stellt sich ein, nach dem zweiten Erdinger fühle ich mich wieder gut. Regeneration Schluck für Schluck.

Nach dem Abholen der Kleidersäcke haben wir uns dann verabschiedet, da Udo noch ein Finishershirt holen und ich doch mal meiner Familie suchen wollte. Im Gang vor den Duschen ziehe ich mich um und entdecke eine dicke rote Blase am rechten großen Zeh. Erstaunlich, dass ich sie überhaupt nicht bemerkt hatte.

An dieser Stelle nochmals mein offizieller Dank an Udo, es war trotz einiger Tiefen meinerseits ein tolles Erlebnis. Ich kann nur sagen: Gerne wieder. Vielleicht Paris 2008? Dann bin ich auf jeden Fall fitter und da es quasi ein Heimspiel ist übernehme ich auch gerne die Orga.

Bei der Auswertung kommen diverse Aspekte zusammen. Zwischen km 10 und 20 waren wir wohl zu schnell. Für mich natürlich. Also der Abschnitt, in dem meine Pulsuhr versagte. Die Konsequenz ist, dass ich für solche Umstände eine andere Uhr brauche. Ohne Pulskontrolle ist ein M für mich derzeit einfach riskant. Dazu natürlich die Frage, ob ein, zwei Gels den Einbruch hätten verhindern können. Dinge, die man nur ausprobieren kann.

Auf jeden Fall werde ich jetzt mein FSW Training deutlich ernster betreiben und auch das Tempo- und Intervalltraining intensivieren.

Nach dem Lauf ist vor dem Lauf und die 3:30h werden fallen.

Glückwunsch an Hans-Dieter für seinen super Erfolg. Solche Zeiten werden aber für mich ein Traum bleiben.

PS: Das Positive überwiegt. Obwohl Kilian total enttäuscht war, dass er nicht mit uns über die Ziellinie laufen konnte, bleibt eine gute Erinnerung. Er hat Joachim Löw nach dessen Staffellauf getroffen und Mama hat es auch noch gefilmt. Und das, wo mir Personenkult doch so zuwider ist.