Kurios, amüsant und ein bisschen aufregend  -  Dreiländer Marathon Bregenz

Ausflugsdampfer und Marathon, wie geht das zusammen? - Nein, die Frage ist nicht scherzhaft gemeint. Sie zielt auf ungewöhnliche, organisatorische Details einer Laufveranstaltung am Bodensee, im Dreiländereck Schweiz-Österreich-Deutschland. Der Lauf beginnt auf der Lindauer Insel am Hafen, streift das Bodenseeufer bis Bregenz, wendet sich Richtung Schweiz und kehrt nach weiter Schleife zum Finish in die Vorarlberger Metropole zurück. Damit man seinen fahrbaren Untersatz im Zielbereich abstellen kann, verkehren Schiffe zwischen Bregenz und Startbereich Lindau. Exklusiv für die Teilnehmer der Laufveranstaltung sind vier Termine vorgegeben. Ines und ich stehen rechtzeitig für das 9:50 Uhr-Schiff am Kai im Bregenzer Hafen - mit ein paar hundert anderen. Während herbstliche Hochnebel die Bregenzer Seeseite noch im Schatten halten, leuchtet Lindau am anderen Ende der Bucht bereits in der Morgensonne.

Das befürchtete Gedrängel bleibt aus, als die MS Vorarlberg anlegt und die Menge auf den schmalen Einstieg zuströmt. Läufer scheinen irgendwie rücksichtsvoller, zumindest im Umgang mit ihresgleichen. Gestern lag dasselbe Schiff im Lindauer Hafen vor Anker und beherbergte die Pastaparty. Für die bevorstehenden zwanzig Minuten Überfahrt suchen wir uns einen Sitzplatz auf dem Mitteldeck im windgeschützten Inneren. Hier hält es mich jeweils nur kurze Zeit. Erst will das Ablegen vom mit Läufervolk voll gepfropften Landungssteg, später die Ankunft im Lindauer Hafen, die schmale Einfahrt zwischen steinernem, bayerischem Löwen und Leuchtturm, fotografiert werden. Auf der Hafenpromenade heizt eine Band bereits mit flotten Beats den wartenden oder geschäftig hin und her eilenden Läufern ein. In der gewaltigen Phonzahl ihrer Lautsprecher dürfte der eigentliche Grund für den späten Start (11:11 Uhr) zu sehen sein. Eine Laufveranstaltung dieser Größe (insgesamt mehr als 2.500 Teilnehmer) spielt sich vor einer massiven Geräuschkulisse ab, die man Gästen benachbarter Nobelhotels zu früherer Sonntagsstunde kaum zumuten kann. Es dauert eine Weile, bis die MS Vorarlberg ihre „läuferische Fracht“ auf die Promenade entlassen hat. Ich nutze die Wartezeit zum Umziehen und verzichte auf jeglichen wärmenden Überwurf. Kein Lüftchen regt sich und eine angenehme Morgensonne steigert die Vorfreude - noch 40 Minuten bis zum Start.

Startvorbereitungen, „handwerkliche“ wie mentale, sind für mich ungemein wichtig. Von größerer Bedeutung, als für die meisten anderen im Feld, weil ich morgens nur sehr langsam in Fahrt komme. Zumal, wenn - wie heute - die elektrisierende Herausforderung einer erträumten persönlichen Bestleistung fehlt. - Mein Körper bekam sein Recht, nun suche ich mir einen Startplatz. Zwischen Absperrgittern und Bestuhlung der Lokale ist teilweise kein Durchkommen. Also kurve ich zwischen Stuhlreihen, gefolgt von Ines, der eine Erkältung den erhofften Halbmarathonspaß verleidet. Einer Unterhaltung zwischen zwei Läufern entnahm ich, dass es auf dem kurz nach dem Start beginnenden, schmalen Uferweg recht eng zur Sache gehen soll. Gedrängel auf der Laufstrecke muss ich nicht haben, darum stelle ich mich in den ersten Startblock, auch wenn das nicht meiner heute angepeilten Zielzeit von 3:30h entspricht. Ich habe vor auf den ersten Kilometern im weniger dicht gestaffelten Kopf des Feldes zu laufen und mich später langsam zurück fallen zu lassen.

Ines reicht mir die Kamera über die Absperrung. Ich schieße noch ein paar Fotos über die Köpfe der angetretenen „Legionen“ hinweg. Abschiedsgruß und -kuss, dann dürfen wir zur Elite aufschließen und ich bin für die letzten Minuten mit meinen Gedanken alleine. Leicht erhöht, am Seiteneingang eines Hotels, stehen ein paar Zuschauer. Zufälliges Publikum? Hotelgäste? Einen etwa 40jährigen Mann mit lichtem Haar fischt mein Blick heraus. Ob es so ist, kann ich nicht wissen, aber Erscheinung und Haltung vermitteln den Eindruck eines gut betuchten Menschen. Welche Gedanken hat jemand wie er angesichts einer bunten Läuferschar? Läuft er selbst? Wenigstens ab und zu, wenngleich seine ganze Ausstrahlung von anderen Interessen kündet?

Das Feld steht lockerer, als vielfach erlebt. Da ist sogar Platz für den Scherz einer Läuferin, die kurz in Startstellung einer Sprinterin kniet und sich dann lachend, ihrem Begleiter zugewandt, wieder aufrichtet. Die Gesichter um mich her widerspiegeln alle Abstufungen von sprühender Lauflust bis scheinbarem Unbeteiligtsein. Mir geht es ausgesprochen gut und doch hielte ich jede Wette, mit ziemlich ernster Miene ins Rund zu starren. Der Sprecher animiert Aktive und Zuschauer zu einpeitschendem Klatschen, bis schließlich das Ritual des Countdowns diesen Rhythmus bricht. Und dann laufe ich. Über den Matten der Zeitmessung beginnt meine Stoppuhr zu zählen. Ich passe das Tempo meiner Umgebung an. - Schon wieder so ein steifer, müder Beginn. ‚Ich sollte ernsthaft erwägen mich künftig auch vor Marathonläufen einzulaufen!’ Ein bisschen fühlt es sich an wie „vor kurzem erst dem Bett entstiegen“. Der zähe Einstieg erschwert auch die Tempoeinschätzung. Auf dem ersten Kilometer queren wir die Lindauer Insel und erreichen die „Seebrücke“, einzige begeh- und befahrbare Verbindung mit dem Festland. Wie so oft verpasse ich die erste Kilometermarke, renne einstweilen ohne Zwischenzeit weiter. Vor dem bekannten Bahnübergang nach rechts und auf unbelebter Straße weiter. Diesmal halte ich geradewegs Kurs auf das Schild mit der „2“, kann es unmöglich übersehen: Die 9:10 Minuten in der Anzeige bestätigen meine Absicht des etwas schnelleren Beginns.

Noch laufen wir locker gestaffelt auf breiter Straße zwischen Lagerhäusern und dichtem Bewuchs - von befürchteten Engstellen keine Spur. Seine erste Bemerkung dringt nicht durch, zu sehr bin ich in Gedanken versunken. Dann ein zweites Mal, lauter, bestimmter: „Ein Biel-Läufer! Dieses Jahr!“ Das „r“ am Ende von „Biel-Läufer“ spricht er mit der kurz rollenden, dann kehlig fauchend ausklingenden Artikulation des Schweizers. Er sieht es an meinem Biel-Finisher-Shirt, in dem ich mich heute „bewundern“ lasse. Bei ihm hat das anscheinend gefruchtet, die Ausrufezeichen in seiner Bemerkung kann man deutlich hören. Was soll ich antworten? Mehr als ein „Ja!“ kommt nicht über meine Lippen.

Nach Kilometer drei verengt sich die Strecke zum Radweg, aber auch hier ist genug Platz zum Laufen. Ich versehe die Taktik des schnellen Beginns aus vorderer Position mit einem Fragezeichen. Schwerlich vorstellbar, dass Läufer im dichteren Mittelfeld hier mit Platzproblemen kämpfen müssen. Das Bodenseeufer ist ein paar hundert Meter entfernt und meist durch Bäume oder Büsche auf Privatgrundstücken den Blicken entzogen. Dieses hier gehört offensichtlich dem Autohersteller Audi: Etwas abseits des Weges erhebt sich ein einstöckiger, nicht allzu großer Flachbau mit auffälligen, gläsernen Fronten. Seitlich wurde ein turmartig wirkender, zweiter Stock aufgesetzt. Das verleit dem Bau etwas von einer „Burg“. Die offensichtliche Verlassenheit, weiße Fahnen mit Firmenlogo und ein ebensolches wappenartig über verschlossenem Gitterportal aufgepflanzt, verstärken den Eindruck. Welchem Zweck dient diese Anlage? Tagungen? „Think tank“ für ab und zu anwesende Designer- oder Technikergruppen?

Die Lauferei ist anstrengender als erwartet. Mein Tempo hat etwas abgenommen, pendelt sich bei etwa 4:50 min/km ein. Einer, der an diesem Lauf keinen Gefallen fand, schrieb von „ständiger Sicht zum Bodensee“ und fand das langweilig. Bis Kilometer sechs habe ich allerdings vom See kaum etwas erkennen können. Erst jetzt, bereits auf österreichischem Boden, rückt das Ufer dichter heran. Und mir gefällt der Blick über diese große „Pfütze“, die ausgedehnte, weitgehend leere Wasserfläche mit blinkenden Lichtreflexen auf vielen Schattierungen von Grau bis Blau. Weit voraus verliert sich die Uferlinie vor ersten, von herbstlichem Dunst verschleierten Bregenzer Behausungen. Eine halbe Stunde ist der Wettkampf alt. Draußen auf dem See hält eines der weißen Linienschiffe auf die Stadt zu. Sicher ist Ines an Bord.

Inzwischen verläuft der betonierte Fuß- und Radweg direkt am Seeufer, trennt es von den auf die Stadt zustrebenden Verkehrsadern. Mehrere Züge rauschen vorbei. Dazwischen mischen sich Fahrgeräusche von der nahen Straße mit bisweilen anbrandenden Wellen und seltenen Schreien von Wasservögeln. Mag sein, der Lauf gestaltet sich anstrengender, als gedacht. Aber mir geht es gut und ich genieße die stete Bewegung unter wärmender Sonne in prächtiger, vom See beherrschter Szenerie.

Kilometer neun, kurz vor dem Hafen: Schon hier säumen immer wieder Zuschauer die Strecke. Zuschauer, die mit Applaus nicht sparen. Der späte Starttermin treibt natürlich auch Leute aus ihren vier Wänden, die sonst noch träge beim Frühstück sitzen. Am Hafengebäude schließt sich die lockere Menschenkette zur Phalanx. Hier warten viele Begleiter, die vor wenigen Minuten mit dem Schiff aus Lindau anlangten. Ob ich Ines in der Menge werde ausmachen können? - Nach 90°-Rechtsknick, dem Verlauf der Ufermauer folgend, kann ich sie dann gerade noch im Augenwinkel ausmachen. Ich drehe mich um und wir winken uns lachend zu. - Die Uferpromenade ist in eine Allee aus jungen Kastanien übergegangen und bringt uns Richtung Festspielhaus voran. Für zwei Atemzüge rieche ich Rauch. Der kommt vom Liegeplatz eines kleinen Bootes mit Dampfmaschine. Sein Besitzer ködert Touristen mit dem Nostalgieerlebnis „Rundfahrt unter rauchendem Schornstein“.

Für die vergangene und die Sommersaison 2008 hat man die Puccini Oper „Tosca“ auf den Spielplan der Bregenzer Festspiele gesetzt. Die Formulierung im Marathon Magazin las sich eindeutig: Ihrzufolge soll die Strecke durch die Seebühne verlaufen. So recht vorstellen konnte ich mir das nicht. Und doch wird exakt dieses Schauspiel nunmehr aufgeführt: Unter Zuschauerrängen hindurch, dann zwischen erster Sitzreihe und See trabend, genieße ich den ausgefallendsten Teil des Laufes. Auf der Bohrturmartig im Wasser stehenden Bühne hat man zur Feier des Marathons das gigantische Bühnenbild der aktuellen Inszenierung aufgeklappt. Es zeigt ein überdimensionales Auge, 50x25 Meter, gemalt auf Leinwand. Meine Empfindungen ließen sich vielleicht mit der Wendung „heitere Irritation“ zusammenfassen. Kurios, amüsant und ein bisschen aufregend. Passt das nicht ausgezeichnet zu meiner „Schnapszahl“? Ich befinde mich auf Marathonkurs Nummer Dreiunddreißig …

Hinter dem Stadion, auf dessen Laufbahn das Zieltor steht, passieren wir die erste Weiche. Die Läufer des Viertelmarathons biegen nach links ab, für sie ist in ein paar Minuten der Spaß vorbei. Eine Läuferin scherzt mit ihrem Begleiter: „Tja, links oder rechts?“ Unangestrengt und halb lachend ausgesprochen, ist jedem Zuhörer klar in welche Richtung sie ihren Fuß setzen wird: Mit uns nach rechts, über den kurzen Buckel eines Brückleins. Auf den nächsten zwei, drei Kilometern dürfen sich die Sohlen meiner Laufschuhe mehrmals auf fein geschotterten Spazierwegen bewähren - übrigens die einzigen, nicht asphaltierten oder betonierten Abschnitte des Kurses. Nach Kilometer 13 führt die Route unter mehrmaligem Richtungswechsel durch kühlen, ufernahen Wald, orientiert sich zuletzt am geraden Verlauf eines Deiches. Als ich den dahinter liegenden Fluss per Straßenbrücke überwinde, öffnet sich ein reizender Blick bis zur etwa einen Kilometer entfernten Mündung in den Bodensee. Ist das der Rhein? Es ist die „Bregenzer Ach“, was mir jedoch erst ein späterer Blick in die Streckenkarte enthüllt. Der Takt vieler Läuferfüße hat die Brücke in Schwingungen versetzt. Wie kann das sein? Autos passieren das mindestens hundert Meter lange, entsprechend massiv wirkende Bauwerk. Hier handelt es sich um keine Fußgängerbrücke in Leichtbauweise. Mein forschender Blick findet eine ungesicherte Erklärung: Der Fußgängersteg scheint eigentümlich „lose“ mit der Hauptbrücke verbunden. Jedenfalls verpasst der schwingende Boden den Beinen ein paar unangenehme Stöße, bis ich mich ans andere Ufer „gerettet“ hab.

Am anderen Ufer beginnt die Gemeinde „Hard“. Durch ihre Randbezirke, zunächst dem nahen Flussufer folgend, später immer in „Riechweite“ des Sees, erstrecken sich die Kilometer 15 bis 20. Mal „grüne, unter Naturschutz stehende Lunge“, dann wieder Wohnstraßen, vorbei an Betriebsgeländen, aber immer kurzweilig. Apropos „Riechweite“: Auch eine Kläranlage säumt den Rand der Strecke. Und wieder gibt ein Deichfuß für einige hundert Meter die schnurgerade Laufrichtung vor. Diesmal ist bei der Überquerung kein Grübeln angesagt, ein Schild bezeichnet das Gewässer eindeutig: „Dornbirner Ache“. Kaum zwei Minuten später trabe ich neuerlich auf eine Brücke zu. Mächtiger ist sie, fordert die Beine mit ein paar Höhenmetern, bis zur höchsten Stelle des Brückenbogens. Ein Blick überzeugt, das ist er ganz bestimmt - der Rhein.

Die ersten Häuser der Ortschaft Fußach sind erreicht, nicht mehr weit bis zur Halbzeit. Bei 1:43:01 ertönt das vertraute Pfeifen der Zeitnahme. Mal zwei ergäbe das eine Endzeit von 3:26h, aber bestimmt werde ich nachher noch etwas langsamer. Außerdem predige ich mir jetzt schon über 20 Kilometer Zurückhaltung, weil der nächste, weitaus härtere Wettbewerb bereits in einer Woche auf mich wartet. In Reutte/Tirol will ich einen 52km-Ultra mit etlichen Höhenmetern laufen und das verlangt Schonung. Die Belastung heute so deutlich zu empfinden nährt ein paar Bedenken. Andererseits habe ich schon längere Zeit keinen Marathon mehr in diesem Tempo absolviert. Entweder bewegte ich mich bedächtiger auf Ultrakurs oder deutlich schneller zu ehrgeizigen Zielen. Hab ich einfach nur vergessen wie hart sich ein mit 3:30h gefinishter Marathon anfühlt oder erhalte ich gerade Hinweise auf unterentwickelte Ausdauer in diesem Tempobereich?

Seit sich die Halbmarathonis bei Kilometer 15 auf eigenem Kurs davon machten, ist es erheblich stiller geworden. Viel seltener erwarten uns Zuschauer, um ihren (Aus-) Ruhetag dem schweißtreibenden Vergnügen einiger Laufverrückter zu opfern. Aber wer weiß? Vielleicht ist es das Interessanteste, was sie seit Wochen an einem Wochenende erlebt haben. Jedenfalls geizen sie nicht mit Beifall. Unsere südlichen Nachbarn gelten uns Deutschen allgemein als Sportenthusiasten. Vielleicht ist das mehr als ein Vorurteil.

Stiller ist es auch auf der Strecke geworden. Vor mir habe ich selten mehr als ein paar Läufer im Blick. Eine Weile laufe ich nun schon hinter einer Amazone her. Seit sie mich vorhin überholte, haben sich unsere Schritte irgendwie angeglichen. Sieht man von der Anfangsphase ab, blieb meine Pace weitgehend konstant, schwankt von Tafel zu Tafel höchstens um ein paar Sekunden. Wie mit unsichtbarem Band verknüpft folge ich ihr, mal fünf, dann fünfzehn, letztlich wieder nur ein paar Meter zurück. Natürlich bemerkt sie davon nichts. Ihr Stil ist kraftvoll, sie wirkt entschlossen. Sind die 3:30h ihr Ziel? Straße reiht sich an Straße, inzwischen laufen wir am Ortsrand von „Hard“. An Wiesen erinnere ich mich und an weidende, schwarz-weiß gefleckte Kühe. Weiter voraus - bestimmt schon auf Schweizer Terrain - schälen sich die Konturen eines Höhenzuges aus dem Dunst. Dann geschieht etwas Bedauerliches: Die Dame wird langsamer, unser Abstand schmilzt, seitlich versetzt laufend, höre ich ihren angestrengten Atem. Als ich sehr langsam an ihr vorbei ziehe, will mir einfach keine Aufmunterung einfallen. In dieser Situation klänge jeder Standardspruch doof oder nach dämlicher Anmache. Auch wenn’s mich einen Augenblick unzufrieden macht - ich halte die Klappe.

Hinter der nächsten Biegung ein zweiter bedrückender Anblick: Auf schmalem Rasenstreifen neben der Straße kniet eine Läuferin mit rundem Rücken, den Kopf auf die Unterarme gestützt und darin vergraben. Ein junger Feuerwehrmann - Typ „cooler Halbstarker“ - ist auf dem Weg zu ihr. Warum geht der so langsam? Es ist kein Gedanke, nur ein Impuls, ein Empfinden, mit dem ich mir wünsche er möge sich beeilen … Ein paar Schritte danach wird mir bewusst, dass sie meiner Zuwendung bedurfte, wäre nicht der Helfer bereits auf dem Weg gewesen. Hätte ich das sofort kapiert? Eher nicht, wenn ich laufe hab ich ein bisschen was von einem fahrenden Panzer … So betrachte ich die Situation als Fingerzeig, präge sie mir ein, um richtig zu reagieren, falls man (frau) mich tatsächlich einmal brauchen sollte.

Der nächste Ort. Seit geraumer Zeit bin ich darauf vorbereitet mich „plötzlich“ in der Schweiz wieder zu finden. Doch auch diese Häuser stehen noch auf dem Boden Austrias, in „Höchst“, davon kündet das Ortschild. Sonntag und „tote Hose“ in Höchst. Ein paar applaudierende „Nasen“ verlieren sich am Straßenrand, in Vorgärten oder lehnen aus Fensteröffnungen. Ein bisschen Steigung mal wieder, verursacht durch den Brückenschlag über eine Autobahn. Den Lärm der unter meinen Füßen hindurch brausenden Autos noch im Ohr, leicht abschüssig trabend, „wächst“ unvermittelt ein Grenzübergang vor mir aus dem Boden. Wer erwartet so was heute noch - mitten im Grenzen-losen Europa? Zwei gelangweilte Zollbeamte schauen mir entgegen. Der Übergang ist komplett für den Verkehr gesperrt und so haben sie nur die „Ausweise“ auf Läufers Brust zu kontrollieren. Hinter dem Zollamt beginnt die kurze Schleife auf Schweizer Erde. Einen ziemlich einsamen Kilometer weit zweifele ich an der Existenz des rauschenden Volksfestes hier in „St. Margrethen“, von dem im offiziellen Marathon Magazin vollmundig geschrieben stand. Kurz vor einem Abzweig schallen mir dann allerdings Klänge einer Musikkapelle entgegen. Und nach dem Richtungswechsel ist klar, aus welchem Grund alle Straßen wie leergefegt schienen: Man gewinnt den Eindruck, als stünden sie alle hier im Ortskern. Veranstalten ein Getöse, als gälte es internationale Größen des Sports zu begrüßen. Spontan schenken sie mir das Gefühl just zu meiner Huldigung hier angetreten zu sein, entfesseln für mich (oder uns oder vielleicht für sich selbst) eine Welle von Jubel. Da kann ich nicht anders, recke beide Arme zum Dank nach oben und ernte weitere Ovationen. Eine Kreuzung querend, mit Anfeuerung im Rücken, empfangen von „La Ola“ Nummer zwei. Und wieder grüße ich und neuerlich brandet Beifallsgeschrei an mein Ohr. Kaum eine Minute hat mich dieses herrliche Intermezzo unterhalten, dann ebbt der Lärm recht schnell ab und wir finden uns einmal mehr auf ausgestorbenem Laufweg wieder.

Der Ausflug ins „Schwyzer Ländle“ neigt sich dem Ende zu. Zunächst hieve ich mich per erträglich ansteigender 360°-Schleife auf das Niveau einer Brücke, überquere zum zweiten Mal die stark befahrene Autobahn und finde mich schließlich am Fuß eines Deiches wieder. Der wird auf merklich ansteigender Rampe und mit je einem scharfen Richtungswechsel zu Beginn und am Ende erklommen. Auf dem Wall laufend, verweist ein Schild auf den nahen Grenzübergang für Fußgänger. Nur kann ich den nirgends ausmachen. Bin ich jetzt wieder zurück auf rot-weißen-rotem Staatsgebiet? Egal! Stattdessen wichtig: Die nächste Kilometertafel wird die Zahl „30“ tragen! Meine Lieblings-Marathon-Kilometertafel! Sie stimmt mich immer optimistisch. Ab hier ist das Zieltor schon ein „klitzekleines“ bisschen in Reichweite … Natürlich sind meine Schritte schwerer geworden und ein vielstimmiger Chor aus diversen Schmerzquellen singt von Wegmarke zu Wegmarke lauter. Aber das ist immer so, kein Grund zu zetern, noch weniger am glückenden Finish zu zweifeln.

Das ist auch wie immer, da kannste die Uhr nach stellen: Ab etwa Kilometer 27, 28 und zunehmend, wenn die dreißig hinter mir liegt, überhole ich einen beachtlichen Teil der Konkurrenz. Dazu braucht man nur mit konstantem Tempo laufen. Meins liegt unverändert bei etwa 4:50 bis 4:55 Minuten pro Kilometer. Mich überholen nur selten andere Läufer. Da waren vorhin die beiden angeregt in Englisch plaudernden „Runners“. Und gerade jetzt bezieht ein kleiner, „schwarzer“ Mann vor mir Position: Schwarzes Shirt, schwarze Shorts und schwarzer Bart. Die gelbe Kappe der Flasche in seinem Trinkgurt sticht als einziger Farbtupfer an seiner Erscheinung ins Auge.

Kilometer 31: Seit Minuten renne ich parallel zum Fuß eines recht hohen Deiches. Dahinter kann sich eigentlich nur der Rhein verbergen. Lange ist kein Ende abzusehen. Das kommt erst nach Kilometer 32, als ich minutenlang auf das Schallzentrum eines Rock ’n’ Roll Songs zu laufe. Schwarze, phongewaltige Lautsprecher hängen in einem Gittermast und machen uns Läufern Beine. Der Deichweg lenkt mich auf eine Rampe, die direkt am Geländer der Rheinbrücke endet. Nicht zu leugnen: Der kurze Anstieg zeigt beträchtliche Wirkung und das schnellere Schlagen des Herzens beruhigt sich erst, als ich den höchsten Punkt in Brückenmitte unter meine Füße nehme.

Seit Erreichen der Brücke wiederholt sich ein Teil der Strecke: Geradeaus noch über die „Dornbirner Ache“, hinter ihr links weg, abermals entlang eines Deiches, mit jedoch deutlich kleineren Dimensionen, dann durch ein Wäldchen und plötzlich riecht es wieder bekannt faulig, muffig, „abwässerig“ aus Richtung Klärbecken. Aber auch idyllische Zonen, ufernah und bewaldet, sind ein zweites Mal zu bewältigen. Kilometer 34, dann 35, noch sieben … Das bekannte Sehnen hat eingesetzt. Diverse innere Instanzen äußern unisono den Wunsch mit Laufen bald aufzuhören. Noch nicht! - Unermüdlich kontrolliere ich nach jedem Kilometer meine Geschwindigkeit. Das ist jetzt wichtiger denn je. Ob es zutrifft oder nicht, in der Schlussphase suggerieren meine „Sensoren“ jedes Mal eine Tempoeinbuße. Ich unterstelle, dass die zu diesem Zeitpunkt bereits ungelenke Fortbewegung und das ansteigende Schmerzempfinden keine verlässlichen Signale mehr zulassen. Wie ja auch die gesamte Wahrnehmung spärlicher wird. Doch es bleibt dabei: Jeweils nach etwa 4:50 bis 4:55 Minuten bin ich wieder in Höhe einer Kilometermarkierung. Ein paar Mal überdenke ich, ob es was brächte, das Tempo raus zu nehmen. Aber ein merklicher Vorteil, mit Blick auf das kommende Wochenende und den „52er“, steht kaum zu erwarten. Am Ende obsiegt die Überlegung, dass sich eine 3:2x auf der Urkunde einfach besser liest, als 3:3x. Also bleibe ich im gewohnten Takt und überhole eine Läuferin, die von ihrem Betreuer auf dem Fahrrad begleitet wird.

Ich kurve durch Wohnstraßen und wähne mich bereits in Bregenz. Kilometer 36, 37, noch fünf … Entlang einer mit Autos verstopften Straße, leicht ansteigend, passiere ich ein Ortsendeschild („Hard“), die Streckenmarke „38“ und betrete keine Minute später die schwingende Brücke über die „Bregenzer Ach“. Drüben bin ich wirklich in Bregenz angekommen und nutze das geringe Gefälle der Brückenzufahrt zu „beschwingterem“ Laufen. Stünde mein Mund zum Luftholen nicht ohnehin schon offen, bei diesem Anblick fiele mir buchstäblich die Kinnlade runter! Ich halte jede Wette, dass du in deinem Leben noch keine derart luxuriös und elegant designte Fabrik gesehen hast. Der Edel-und-Sexy-Strumpf-Hersteller „Wolford“ hat sich hier niedergelassen. Künftig erübrigt sich die Frage, weshalb Gewebtes unter diesem Warenzeichen so unverschämt teuer sein muss. Für ein paar hundert Meter, von einem „scharfen“ Werbeplakat zum nächsten und entlang futuristisch anmutender Fassaden gerät der Marathon zur Nebensache …

Kilometer 39, links ab, weg von belebter Straße, mitten hinein in eine grüne Oase, der Marathon ist wieder Hauptsache. Laufe ich weiterhin durch die Hauptstadt des Bundeslandes Vorarlberg oder wieder auf dem Land? Als die idyllischen, etwa siebenhundert Meter „Mehrerauer Wald“ hinter mir liegen, finde ich darauf nicht gleich eine Antwort. Über eine Allee, zwischen Wiesen, komme ich zur Klosteranlage „Mehrerau“ (Kilometer 40, nur noch zwei!) und schwenke dahinter wieder auf den bekannten Uferweg und somit Richtung Stadion ein. Gleich ist es geschafft und das ist gut so. Alle „Knochen“ beschweren sich mittlerweile und das hat so gar nichts mehr von Laufen mit Genuss. Kurz vor jenem Brücklein, an dem sich vor Stunden die Viertelmarathonis von uns trennten, treffe ich auf die zweitliebste aller Kilometertafeln: „41“. Gleich hab ich’s, nur noch ein „winziger, unbedeutender Kilometer“.

Mit Schwung nehme ich das Brücklein und werde auf der anderen Seite schneller. Merklich schneller. Und ich bin nicht der Einzige, dem dieser kleine „Turbo“ zu einem beschleunigten Finale verhilft. Wer noch darüber verfügt, setzt sie jetzt ein, verbliebene Kräfte. Ich höre schon die Ansagen aus dem Stadion, laufe darauf zu, zuletzt auf Straßen drum herum. Ein fürchterliches Keuchen verfolgt mich, schließt auf, überholt. Zuletzt sah ich die Läuferin vor ein paar Minuten. Da keuchte sie auch schon, musste mich passieren lassen. Jetzt ist sie wieder da, kämpft wie im Wahn und gibt definitiv ALLES. Sie kann mich als Zeugen dafür nehmen. Hab ich je im Leben jemanden so brachial Keuchen gehört? Vielleicht hat sie die andere Frau im Auge, die gleich ihr und mir jetzt auf das Marathontor des Stadions zu rennt. Höchstens noch dreihundert Meter und ich hab nichts dagegen, wenn die beiden Damen vor mir das Ziel erreichen.

Marathontor passiert, Tartanbahn erreicht, Zuschauerkulisse und anfeuernde Kommentare des Stadionsprechers im Ohr, da packt es mich. Ich ziehe einen Endspurt auf halbem Stadionrund, als gälte es den Führenden noch auf Platz zwei zu verweisen. Muss das sein? Ja, genau das brauche ich noch, dieses unglaublich befriedigende Gefühl nach über 42 Kilometern noch einmal mit solcher Power zu laufen. Das Ziel, die Matten der Zeitmessung, meine Arme im Himmel …

Organisation: Es gibt vom Dreiländer Marathon nur Positives zu berichten. Ich konnte nicht eine Panne beobachten. Die Verpflegung unterwegs und im Ziel war mehr als ausreichend und alle Helfer waren mit Spaß bei der Sache. Die Strecke ist abwechslungsreich, abschnittsweise idyllisch und wartet mit einigen Attraktionen auf. Natürlich sinkt der Erlebniswert drastisch, wenn statt Sonnenschein nasskaltes Herbstwetter auf Petrus’ Plan stehen sollte.

  Ergebnisstatistik

Zeit Tempo
[min/km]
0 bis 10 km 0:48:38 4:52
10 km bis HM 0:54:23 / 1:43:01 4:54
HM bis 30 km 0:43:26 / 2:26:27 4:53
30 km bis Finish 0:58:51 4:50
Marathon 3:25:18 4:52
Platz 109 von 480
Platz M50 10 von 57