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  Unser  Laufjahr  2023  

Neue Normalität?

Ich mag mich irren, doch aus dem Blickwinkel des Mitlaufenden betrachtet muten Laufveranstaltungen an wie vor der Pandemie. Zuschauer am Streckenrand werden erst recht altgewohnte Eindrücke mitnehmen, wie damals in der "guten alten Zeit vor 2020". Nun weiß ich nicht wie es anderen Läufern geht, doch mein Verhalten - wenn ich zum Beispiel "rumstehe" und auf einen Start warte - hat sich nachhaltig (dauerhaft?) verändert. Ich praktiziere "Social Distancing", achte auf Abstand, suche Randpositionen, vermeide nach Möglichkeit körperliche Nähe. Wenn ich Laufbekannte mit Handschlag begrüße, dann befremdet mich jeweils ein impulshaft kurzes, eigenes Zögern. Und gar nicht mal selten, beidseits gewollt, bleibt es bei geballten Fäusten, die einander kurz frontal touchieren. Also eher "Fisted Five" als "High Five". So weit zum Menschlichen.

Hinsichtlich Infrastruktur - Umkleide, Duschen, andere Örtlichkeiten - und Verpflegung der Läufer ist man zum vormaligen Standard zurückgekehrt. Zwangsläufig, weil anders als "offen" dargeboten die Versorgung hunderter Läufer mit Getränken und festen Kalorien höchstens ausnahmsweise handhab- und finanzierbar ist. Auch das Prozedere der Veranstaltungen verzichtet inzwischen wieder auf Maßnahmen "hygienischer Vereinzelung". Zum Beispiel sind Massenstarts wieder gang und gäbe. Und doch hinterließ die Pandemie auch organisatorisch Spuren. So wie im Beruflichen die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten als Wahlmöglichkeit erhalten blieb, gestatten kleine Veranstalter weiterhin individuelle Starts und die Erbringung des Leistungsnachweises per GPS-Aufzeichnung. Überhaupt erfuhr die Zahl der Anbieter/Ausrichter kleiner und kleinster Läufe während der Pandemie einen merklichen Schub. Für mich eine positive Entwicklung, weil sie mir erlaubt häufig Marathon oder Ultra zu laufen und trotzdem die Summe der Anreisekilometer in erträglichen Grenzen zu halten.

Ines' Laufjahrstatistik
Gelaufene Kilometer: 24
Trainingstage: 14
Krafttrainingstage: 104

Ines' Laufjahr - Sie würde ja gerne laufen, aber ...

... ihre Handicaps blieben leider aktiv. In den ersten Monaten startete Ines auf dem Laufband immer wieder Versuche ihre Füße zur Mitarbeit zu überreden. Versuche, die nicht fruchteten, stets in erneutem Aufflammen der Schmerzen im Sohlenbereich endeten. Bis zum weiterhin erhofften Abheilen bleibt es bei alternativem Krafttraining als Sport ihrer Wahl.

Läuferin Roxi auf dem Altenteil

Ende August feierte Roxi ihren 16. Geburtstag. In menschlichen Maßstäben ausgedrückt erreichte sie inzwischen ein biblisches Alter. Gemeinsames Laufen ist seit Monaten nur noch Erinnerung für uns. Ob Roxi sich erinnert und mit welchen Empfindungen sie mir beim Umkleiden zum Lauftraining zuschaut - falls sie nicht gerade schläft, wie meist -, kann ich natürlich nicht wissen. Was ich aber weiß, ist, dass kurze Distanzen, oft schon geruhsames Gassigehen, sie grenzwertig belasten. Roxi ist gesund aber nicht mehr lauffähig; nicht mal mehr aus therapeutischer Sicht, etwa zur Gesunderhaltung. Manchmal erleben wir sie ein bisschen "desorientiert", nicht selten auch wackelig auf den Beinen. Dennoch genießt sie ihren Lebensabend und lässt sich verwöhnen.

Unser letzter gemeinsamer Wettkampf war der Sommeralm Marathon 2020. Da zeigte Roxi noch einmal, was für eine exzellente Läuferin in ihr steckte. 1.800 Höhenmeter bei sehr warmer Witterung. Kein Klagen oder Schlappmachen von ihrer Seite. Lediglich Herrchen wurden die Grenzen aufgezeigt. Danach musste Schluss sein mit langen Distanzen, um Roxi vor Überlastungsschäden zu schützen. Was bleibt sind Erinnerungen an eine nimmermüde, stets gut gelaunte Begleiterin auf vier Pfoten.

Roxis Wettkämpfe

Marathons insgesamt seit 2010: 15

Ultraläufe insgesamt seit 2010: 12

Längste Wettkampfstrecke: Elm Super Trail 2014, 72 km

Udos Laufjahr - Aller Anfang wird immer schwerer

Das Jahr begann mit Krankheit und Totalverlust meiner Ausdauer. Zwei Wochen lang ging gar nichts mehr, gelähmt von Schwäche und Brechreiz erzeugendem Husten. Einen ersten, verfrühten Laufversuch musste ich nach einem Kilometer abbrechen und umkehren. Das Experiment endete als Hustenkrampfanfall beim Schuhwechsel im Keller. Test Nummer zwei unternahm ich fünf Tage später auf einer bescheidenen Fünf-Kilometer-Runde. Nach dieser "exorbitanten" Distanz fühlte ich mich erschöpfter und hinfälliger als seinerzeit nach den 246 Kilometern von Athen nach Sparta ... Mehrere Wochen lang rang ich um Reichweite, wagte jedoch erst Anfang März ein Marathon-Comeback.

"They never come back" - die im Boxsport gebräuchliche und schon dort widerlegte Devise gilt im Laufsport umso weniger. Also kam ich zurück, reihte wie gewohnt Marathon an Ultra und Ultra an Marathon. Für Außenstehende musste das aussehen, als wäre ich derselbe wie eh und je. Was keinesfalls zutrifft, da sich die Trainierbarkeit meiner Physis qualitativ verändert hatte. Festzumachen ist das an den Parametern "Leistungszuwachs" und "Erholzeit". Während ich noch vor nicht allzu langer Zeit am Tag nach einem Marathon/Ultra fähig war neuerlich so weit zu laufen, empfand ich "Doppeldecker" in 2023, wenn nicht als aussichtsloses Unterfangen, so doch als gehöriges Wagnis und verzichtete darauf. Darüber hinaus gelang es mir über Wochen und Monate nur eingeschränkt Ausdauer (= Reichweite) mit gezieltem Training und Trainingswettkämpfen anzusammeln. Anders als "früher", da es mir über stetig gesteigerte Anforderungen in einer Wettkampfserie möglich gewesen war jedes anspruchsvolle Laufziel beinache sicher und wie "programmiert" zu realisieren.

"Unser Laufjahr 2022" endete mit einer Vorschau, ich schrieb damals: "Ist ja nicht so, als hätte ich meinen Ehrgeiz inzwischen erwürgt. Im August bin ich zum Mauerweglauf, den 100 Meilen Berlin angemeldet, lächerliche 162 km ..." Diese Absicht setzte mich von März bis in den Sommer gewaltig unter Druck. Bis zum Supermarathon am Rennsteig (73 km, 1.800 Meter Aufstieg) im Mai durfte ich zumindest ein stetiges Ansteigen meiner Formkurve registrieren, wenngleich mit bedenklich flachem Winkel. Danach überhob ich mich, wollte mit der Brechstange offenbar zu viel in zu kurzer Zeit. Beim Thüringen Ultra (100 km, 2.300 Hm) Anfang Juli bescherte mein Übereifer mir einen desolaten Wettkampf samt Finish in völliger Erschöpfung.

Udos Laufjahrstatistik
Gelaufene Kilometer: 3.347
Km im Schnitt pro Woche: 64,37
Trainingstage: 222
Trainingstage pro Woche: 4,26
Krafttrainingstage: 82
Krafttrainingstage pro Woche: 1,58
Wettkämpfe: 29
- davon Marathon: 18
- davon Ultra: 11 (max 162 km)
Wettkämpfe (M/U) gesamt: 362

Dennoch trat ich zu meinem Saisonziel an, wollte mich von den 100 Meilen rund ums ehemalige Westberlin, meiner Lieblingsultrastrecke, zum vierten Mal beim vierten Versuch erfolgreich verabschieden. Wie befürchtet jagte mich die Strecke auf der zweiten Zeithälfte (Laufzeit fast 27 Stunden) durch die Hölle. Immerhin realisierte ich meine Absicht: Alles laufen und irgendwie in Würde ankommen. In Altersklasse M70 kein einfaches Ziel. Es gelang und deshalb bin ich zufrieden, auch wenn der Laufspaß spätestens mit Einbruch der Dunkelheit im wahrsten Sinne des Wortes "auf der Strecke blieb".

Das Ziel in Berlin war nur mit Gewalt gegen mich selbst, physisch, mehr noch mental, zu erreichen. Das gilt sowohl für die Vorbereitungswettkämpfe als auch für die 100 Meilen selbst. Die Einsicht mir dergleichen künftig nicht mehr in dieser Härte antun zu können (und auch nicht zu wollen) ließ mich "vor aller Welt" (vor allem vor meiner Frau) den "Rücktritt" von Strecken über 100 km erklären. Doch auch 100 km scheinen mir nur "erschwinglich", wenn sie nicht mit gehäuften Trails oder vielen Höhenmetern erkauft werden müssen.

Mit Blick auf 2024 denke ich auf "Laufideen" herum, habe aber noch kein Saisonziel fix ins Auge gefasst. Ich lasse das Laufjahr auf mich zukommen. Mit über 70 Lebensjahren gibt es zu viele Unwägbarkeiten, um eine Laufsaison schon zu Beginn stramm durchzuplanen, so wie das bei mir früher die Regel war. Überwiegend - will wieder eindeutig mehr als 20 Wettkämpfe in 2024 finishen - werde ich mich wohl auf Marathonstrecken "austoben". Seit 1. Januar 2024 gehöre ich dem 100 Marathon Club an. Bin also nun auch offiziell in der Gilde der Marathonsammler angekommen. Tatsächlich ist mehr oder weniger unablässiges Aneinanderreihen von Läufen - früher lediglich Nebenprodukt - im vor mir liegenden finalen Läufer-Lebensabschnitt die letzte Disziplin, in der ich noch erfolgreich mitmischen kann. Wie lange? Unmöglich vorhersagbar. Doch so lange ich flache 42,195 Kilometer noch zur Gänze laufend (!) zurückzulegen vermag, so lange werdet ihr mich hier und da und dort an Startlinien sehen ...